Die Anzahl schwerhöriger Menschen nimmt – bedingt durch die demographische Entwicklung – rasant zu. Damit verbunden steigt auch die Anzahl an Cochleaimplantationen und derer, die sich in einer hörtherapeutischen Rehabilitation befinden. Bislang findet diese überwiegend stationär oder ambulant im direkten Kontakt mit einem Therapeuten statt. Digitale Hörtrainingsprogramme und computerbasierte teletherapeutische Hörplattformen bieten hier neue Chancen der Rehabilitation. Vorgestellt werden soll ein erster Prototyp für erwachsene Cochlea-Implantat(CI)-Träger.
Einleitung
Die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat (CI) ist für viele hochgradig schwerhörige beziehungsweise taube Patienten die einzige Möglichkeit, (wieder) besser hören und Sprache verstehen zu können. Mit 466 Mio. Betroffenen weltweit ist Schwerhörigkeit eine der häufigsten chronischen Erkrankungen, von der vor allem über 65-Jährige stark betroffen sind [
23,
47]. Bedingt durch die demographische Entwicklung, aber auch durch eine Ausweitung des Indikationsspektrums hat die Anzahl der Cochleaimplantationen in den vergangenen Jahrzehnten rasant zugenommen. So waren allein 2015 in Deutschland ca. 25.000–30.000 Personen mit einem oder zwei CIs versorgt [
10]. Entscheidend für einen optimalen Sprachgewinn ist die postoperative Hörrehabilitation, die individuell auf den einzelnen CI-Träger abgestimmt sein sollte [
1]. Diese findet derzeit in Deutschland meist im Einzelsetting, zum Teil auch in der Gruppe im Rahmen einer Face-to-face-Therapie in einem spezialisierten Rehabilitationszentrum stationär oder ambulant statt [
1,
19]. Im Hinblick auf den zunehmenden Fachkräftemangel in der Hör‑, Sprach- und Sprechtherapie sind hier alternative Versorgungsmodelle erforderlich.
Nicht nur die Anzahl der mit einem CI versorgten Patienten, sondern auch die technischen Möglichkeiten in der Rehabilitation haben im Zeitalter der Digitalisierung einen enormen Zuwachs erhalten. Das Gesundheitswesen erfährt aktuell zum einen durch das e‑Health-Gesetz und die digitale Agenda, aber auch durch das deutlich steigende digitale Medieninteresse der Bevölkerung einen Wandel [
37]. Die Entwicklung von und das Interesse an digitalen Lösungen, die der Prävention und Vermeidung von Krankheiten ebenso wie der therapeutischen oder rehabilitativen Begleitung dienen, nehmen dabei stark zu [
4,
31]. Da diese Programme große Datenmengen sammeln und verarbeiten können, ist hierdurch neben einer Steigerung der Effektivität und Effizienz eine stärkere Individualisierung des Trainings möglich [
35]. Gleichzeitig wächst die Nutzung digitaler Produkte und Infrastrukturen, wie von mobilen Daten, Tablets und Smartphones, auch im höheren Alter. So betrug 2017 der Anteil der Smartphone-Nutzer über 65 Jahren bereits 41 % mit steigender Tendenz [
42].
Diese technischen Entwicklungen bieten neue Möglichkeiten, auch im Rahmen der Hörrehabilitation nach einer Cochleaimplantation. In der neurologischen Rehabilitation finden sich bereits Konzepte, die eine computerbasierte Rehabilitation enthalten [
8,
11,
14,
28]. Erste Untersuchungen, so unter anderem von Choi et al., konnten über eine hohe Zufriedenheit von Aphasikern mit einer computerbasierten Therapie und eine signifikante Verbesserung ihrer sprachlichen Funktionen im Follow-up berichten [
8]. Ähnlich positive Erfahrungen beschrieben auch Macoir et al., welche die kommunikativen Funktionen von 20 Aphasiepatienten nach einem 3‑wöchigen Training über die Plattform Oralys Tele Therapy untersuchten [
28]. Dabei scheint ein teletherapeutisches Training einer Face-to-face-Therapie, wie Dial et al. nachwiesen, im Hinblick auf den Therapieerfolg vergleichbar zu sein [
11]. Auch im Bereich der Stottertherapie gibt es Studien über den effektiven Einsatz einer Teletherapie, so unter anderem von Euler, der nach einer Teletherapie ähnlich gute Erfolge im Hinblick auf die Verbesserung der Stotterrate aufzeigen konnte wie in der Präsenzgruppe [
14].
Im Hinblick auf die Hörrehabilitation gibt es derzeit nur eine überschaubare Anzahl computer- und internetbasierter Hörtrainingsprogramme, meist auf Hörgerätetragende ausgerichtet. Diese dienen vor allem dazu, die Gewöhnung an den neuen Höreindruck mit der Hörhilfe zu unterstützen [
44]. Viele der Programme sind käuflich zu erwerben, teilweise nur in Kombination mit entsprechenden Übungshörgeräten oder durch einen lizensierten Akustiker (z. B. Renova®, Fa. Hörzentrum Böhler GmbH, Augsburg; Sensoton®, Fa. Hoertraining-online.de, Hamburg; Hörpilot®, Fa. Deppermann, Palsbröcker, Rosenstengel GbR, Bielefeld; terzo® Gehörtherapie, Fa. ISMA AG, Sonneberg). Daneben finden sich computerbasierte Hörtrainingsprogramme, die speziell auf CI-Träger ausgerichtet sind [
44]. Diese weisen jedoch derzeit noch Lücken auf, vor allem bezogen auf die Adaptivität, Individualität und die Komplexität der Übungen [
44] und sie werden bislang meist nur als Zusatzangebot zur konventionellen Reha eingesetzt. Eine Implementierung digitaler Hörtrainingsprogramme im Rahmen der Hörrehabilitation könnte langfristig eine kostengünstige und ressourcenschonende Alternative darstellen, mit einem hohen Maß an räumlicher und zeitlicher Flexibilität bei gleichzeitig verbesserter Effizienz und Effektivität [
35].
Ziel des vorliegenden Forschungsprojektes war es daher, einen ausgereiften Prototyp einer computerbasierten Hörtrainingsplattform („train2hear“) für erwachsene CI-Träger zu entwickeln.
Diskussion
Die Nachfrage nach häuslichen computerbasierten Hörtrainingsprogrammen in der Rehabilitation nach einer Cochleaimplantation ist hoch. Eine eigene Bedarfsanalyse an 87 Cochlea-Implantierten zeigte, dass sich 75 % der Befragten ein häusliches Hörtraining über den Computer oder das Tablet gut vorstellen können. Die bisher verfügbaren Programme werden jedoch oft als eintönig bewertet. Von einem Computerprogramm erhoffen sich die User eine ausführliche Dokumentation der Trainingsfortschritte und ein differenziertes Feedback. An der derzeit noch gängigen Vor-Ort-Therapie in einem Rehabilitationszentrum werden hingegen die geringe Flexibilität und der hohe zeitliche und finanzielle Aufwand bemängelt [
3].
Trotz des bestehenden Bedarfs gibt es bisher nur wenige deutschsprachige computerbasierte Trainingsprogramme, die auf erwachsene CI-Träger ausgerichtet sind [
44]. Im Vergleich zum englischsprachigen Markt sind die deutschen Programme hinsichtlich ihrer Struktur, der wissenschaftlichen Evaluierung und den Inhalten her bislang nur wenig ausgereift.
Aktuell verfügbare Programme werden meist als freiwillige Ergänzung zur konventionellen Face-to-face-Therapie eingesetzt, mit dem Ziel, die Therapiefrequenz zu steigern und die Therapieinhalte zu vertiefen. Der Großteil der computerbasierten Hörtrainingsmodule wird dabei nicht von Therapeuten geleitet, vielmehr bestimmen die Nutzer Reihenfolge und Übungsauswahl selbst. Zudem existieren kaum Vorgaben zu Dauer und Häufigkeit des Trainings [
44]. Eine Supervision des computerbasierten Trainings durch einen Therapeuten gibt es in keinem der bisher verfügbaren Programme. In einigen Programmen kann der Nutzer zwar selbständig eine Schwierigkeitsstufe auswählen, jedoch unabhängig davon, ob diese zum individuellen Leistungsniveau passt [
44]. Ebenfalls verfügt keines der Programme über eine automatische Adaptivität der Aufgaben an das Leistungsniveau des Nutzers. Das von der Firma Med-EL (Innsbruck) konzipierte Training „Listen up!“ ermöglicht vor Trainingsbeginn eine Überprüfung des Sprachverständnisses, doch es erfolgt keine entsprechende adaptive Anpassung an die Testergebnisse. Ein effektives Hörtraining sollte sich jedoch am individuellen Leistungsniveau orientieren und bedarf daher – auch wenn es computerbasiert angeboten wird – einer adaptiven Gestaltung [
12]. Einen strukturierten Trainingsplan, der als Grundlage für den Erfolg einer hörtherapeutischen Intervention gesehen wird, weisen die Programme „Online-Hörtraining-Verheyen“ (Jana Verheyen, Hamburg) und „Sensoton“ (Fa. Hoertraining-online.de, Hamburg) auf [
25]. Ebenso geben diese beiden Programme eine Übungszeitempfehlung ab. Die Feedback- und Motivationskonzepte sind in allen verfügbaren Trainingsprogrammen meist nur sehr einfach gestaltet.
Ein therapeutisches Setting, das auf einem computerbasierten Programm beruht, ist nicht nur aus ökonomischer Sicht sinnvoll [
35]. Die Veränderung des Settings von der Vor-Ort-Therapie hin zur Teletherapie kann, wie Studien gezeigt haben, zu einer gesteigerten Effizienz und Effektivität eines Trainings führen [
43]. Außerdem besteht die Möglichkeit, Angehörige stärker in den Rehabilitationsprozess einzubinden. Dies hat, wie man bei Untersuchungen an Hörgeräteträgern nachweisen konnte, einen entscheidenden Einfluss auf das Outcome einer Hörrehabilitation [
27,
32,
41].
Allerdings haben die Therapeuten häufig große Vorbehalte gegenüber einer Teletherapie, da sich die Therapeuten-Patienten-Beziehung, die als der tragender Part in der Sprach‑, Sprech- und Hörtherapie gilt, hierdurch stark wandelt [
17,
33]. Eine stärkere Auseinandersetzung mit digitalen Therapieformen kann jedoch, wie Hines nachwies, diese Sichtweise langfristig ändern [
22]. Mit der fortschreitenden Digitalisierung unserer Gesellschaft muss vermutlich in Zukunft auch die Rolle des Therapeuten neu überdacht werden. So wird dieser vermutlich zunehmend die Rolle eines Supervisors übernehmen und nur durch Videokonferenzen den persönlichen Austausch mit dem Patienten pflegen, wie in der hier vorgestellten train2hear-Plattform angedacht. Auch die Implementierung eines Avatars kann dazu beitragen, die Patienten während des computerbasierten Trainings unterstützend zu begleiten. Sicherlich bedarf es derzeit noch weiterer Forschungsarbeiten, um noch mehr zu analysieren, wie eine zufriedenstellende parasoziale Interaktion auch unter einem teletherapeutischen Training für den Nutzer gewährleistet werden kann [
2,
26].
Eine sehr große Chance computerbasierter Trainingsprogramme liegt in der Möglichkeit, die Sprach‑, Sprech- und Hörtherapie, die derzeit meist noch wenig extern evidenzbasiert ist, weiter zu standardisieren und dadurch auch wissenschaftlich fundiert zu evaluieren [
5]. Machbar ist dies durch die bislang noch ungeahnten und wenig genutzten Fähigkeiten digitaler Programme, eine Vielzahl an Daten zu speichern und bereitzustellen. Selbstlernende Algorithmen unter Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) bieten hier möglicherweise ganz neue therapeutische Ansätze. Hierdurch ist nicht nur eine genaue Analyse der zuvor definierten Fehler jedes einzelnen Users kontinuierlich während der gesamten Übungszeit möglich, sondern auch eine objektive Messung der Übungsfortschritte, Trainingszeiten oder aber der Reaktionszeiten, so ist der Vergleich im Rahmen von größeren Studien denkbar.
Das hier vorgestellte Hörtraining stellt unserer Kenntnis nach das erste dieser Art für CI-Träger im deutschsprachigen Raum dar, das eine umfassende Eingangsanalyse enthält, auf welche der Trainingsplan abgestimmt ist. Grundlage war das biopsychosoziale Modell der internationalen Weltgesundheitsorganisation (WHO ICF), das nicht nur die Funktionsstörung durch eine Hörstörung und die dadurch beeinträchtigen Aktivitäten und Teilhabe, sondern auch Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren berücksichtigt. Daneben passt sich das Programm durch die im Hintergrund ablaufende Analyse der erhobenen Daten kontinuierlich und automatisch im Schwierigkeitsgrad und bei der Auswahl der Übungen an den jeweiligen Leistungsstand des Einzelnen an. Wie Studien gezeigt haben, ist Adaptivität ein entscheidender Schlüssel zu einem effektiven Trainingsprogramm [
15]. Indem das Schwierigkeitsniveau so gewählt werden kann, dass der Nutzer gefordert wird, ohne überfordert zu werden, soll ein im Hinblick auf das Lernen optimaler Flow entstehen [
9,
34].
Ein kritischer Faktor für ein häusliches Training bleibt jedoch die Compliance des Patienten im Hinblick auf eine konsequente und regelmäßige eigenverantwortliche Durchführung desselben [
7,
21]. Frühere Studien beschrieben eine große Varianz im Hinblick auf die Compliance von 30–100 % [
20]. Zur Festigung der Adhärenz wurden daher unterschiedliche Strategien in der Trainingsplattform umgesetzt: So wurden festgelegte Trainingszeiten und die externe Kontrolle der täglichen Logins integriert, um die Häufigkeit der Nutzung des Programms durch den Nutzer selbst und auch extern evaluieren zu können. Auch wurden Möglichkeiten für Supervision und differenziertes Feedback, die entscheidend für die Abbrecherquote sind, in einer für Patienten und Therapeuten einsehbaren Statistik eingebaut [
15,
21]. Derzeit gibt es, mit Ausnahme von einigen wenigen englischsprachigen Hörtrainingsprogrammen, kein Hörtraining, in dem eine enge Betreuung durch einen Therapeuten erfolgt.
Relevant für eine hohe Adhärenz ist auch die Motivation des Patienten. Henshaw konnte in einer Untersuchung bei Hörgeschädigten im Rahmen eines computerbasierten Phonemdiskriminationstrainings beobachten, dass eine fehlende Adhärenz auf eine mangelnde intrinsische Motivation zurückzuführen ist [
21]. Laut der „Self Determination Theory“ von Ryan und Deci soll ein Gefühl von Individualität, Autonomie und Verbundenheit besonders motivierend sein [
39]. Diese Elemente wurden in vielfältiger Weise im Programm „train2hear“ umgesetzt. So wird nicht nur das Trainingslevel durch die Adaptivität optimal auf den Patienten ausgerichtet, sodass dieser Erfolgserlebnisse zu verzeichnen hat. Ebenfalls wird das Feedback genutzt, um die Nutzer positiv zu bestärken. Durch die lokale und zeitliche Flexibilität des Trainings wird die Autonomie des Patienten hervorgehoben. Daneben hat der Nutzer die Möglichkeit, unabhängig vom festgelegten Trainingsplan in einem freien Trainingsbereich zu üben.
Um eine stärkere Compliance des Nutzers zu erzielen, wurden eine detaillierte Statistik über die Trainingserfolge und weiterführende Informationen in das Programm eingebettet. Dabei scheint vor allem die unmittelbare Rückmeldung, wie von Burk et al. nachgewiesen, von Bedeutung zu sein [
6]. So erzielten normalhörende Probanden deutlichere Verbesserungen im Vergleich mit einer Kontrollgruppe im Wortverständnis, wenn das Hörtraining Feedback enthielt [
6]. Mit Blick auf die User-Rückmeldung unserer Anwenderworkshops sollte daher langfristig der statistische Bereich noch weiter ausgebaut werden, ohne jedoch dabei den User mit zu viel Detailwissen zu überfordern. In Zukunft könnte die Plattform auch um einen Betroffenen-Chat und eine realistischere, alltagsbezogene virtuelle Realität ergänzt werden, um die soziale Integration des Betroffenen noch mehr zu stärken.
Wenngleich ein computerbasiertes Programm besonders für ältere Personen eine technische Herausforderung darstellen kann, unterschätzen Personen dieser Altersgruppe häufig ihre eigenen Kompetenzen [
21]. Daher sollte ein computergestütztes Training vor der eigenständigen Nutzung zu Hause immer im persönlichen Kontakt im Therapiezentrum angeleitet werden. Auch wird man auf einen regelmäßigen Austausch mit den Therapeuten über eine Videokonferenz nicht verzichten können. Komorbiditäten, wie Sehstörungen und motorische Defizite, können die Nutzung besonders im höheren Lebensalter einschränken. Dementsprechend sollte die Entwicklung eines derartigen Programms die Nutzer- und Systemperspektive gleichermaßen berücksichtigen.
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