Angesichts der Tatsache, dass sehr unterschiedliche digitale Technologien für unterschiedliche Public-Health-Ziele in unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz kommen, müssen Digital-Public-Health-Interventionen jeweils für sich einer ethischen Bewertung unterzogen werden. Ein systematisches Vorgehen erfordert dabei zwei methodische Bausteine: Zunächst müssen die normativen Bewertungsmaßstäbe bestimmt und begründet werden (normatives Rahmengerüst). Dann ist ein klar definiertes methodisches Vorgehen erforderlich, um die jeweilige Digital-Public-Health-Intervention schrittweise auf Grundlage der normativen Kriterien zu bewerten. Beide Elemente sollen die Qualität der ethischen Bewertung sicherstellen.
Normative Kriterien für die Bewertung digitaler Public-Health-Interventionen
Für die Gewinnung und Begründung normativer Bewertungsmaßstäbe hat sich in der praktischen Ethik das kohärentistische Begründungsverfahren bewährt [
16]. Der Kohärentismus beruft sich nicht – wie die klassischen ethischen Theorien – auf ein einziges, letztgültiges Moralprinzip, sondern knüpft an die in einer bestimmten Gemeinschaft weithin zustimmungsfähigen moralischen Überzeugungen an und entwickelt daraus ein kohärentes normatives Rahmengerüst. Zentrale Bestandteile sind ethische Prinzipien einer mittleren Begründungsebene, die als Grundlage für die Bewertung konkreter Handlungsoptionen dienen. So finden beispielsweise die Prinzipien des Wohltuns, des Nichtschadens, der Achtung der Autonomie und der Gerechtigkeit für die Medizin international Anerkennung und Anwendung [
17]. Für einen bestimmten Anwendungsbereich müssen diese Prinzipien weiter konkretisiert und ergänzt werden. Für die ethische Bewertung von digitalen Public-Health-Interventionen kann auf ein bereits bestehendes normatives Rahmengerüst für die Public-Health-Ethik zurückgegriffen werden [
18], das durch normative Kriterien für E‑Health-Anwendungen zu ergänzen ist [
19]. Tab.
1 zeigt die resultierenden normativen Kriterien im Überblick, jeweils mit ihrer ethischen Rechtfertigung. Das Rahmengerüst verdeutlicht die normativen Überschneidungen der verschiedenen Bereichsethiken, hier insbesondere der Public-Health-Ethik und der Technikethik.
Tab. 1Ethische Kriterien zur Beurteilung von Digital-Public-Health-Interventionen. (Basierend auf [
18,
19])
Funktionsfähigkeit | Zielsetzung der Technologie | Zweck-Mittel-Rationalität; Prinzip des Nichtschadens; Prinzip des Wohltuns |
Grad der Zielerreichung („Wirksamkeit“) |
Qualität der Daten und Informationen |
Technische Effizienz |
Alternativen | Mögliche Alternativen zur Digital-Public-Health-Intervention | Zweck-Mittel-Rationalität |
Nutzenpotenzial für die Zielpopulation | Verbesserung von Mortalität, Morbidität und Lebensqualität | Prinzip des Wohltuns |
Validität (Evidenzgrad) des Nutzennachweises |
Schadenspotenzial für die Teilnehmer | Sicherheit, geringe Fehleranfälligkeit | Prinzip des Nichtschadens |
Belastungen und gesundheitliche Risiken |
Validität (Evidenzgrad) |
Selbstbestimmung | Förderung der Gesundheitskompetenz (Health Literacy) | Respekt der Autonomie |
Möglichkeit der informierten Entscheidung |
Auswirkung auf Entscheidungsfreiheit |
Schutz von Privatsphäre und Gesundheitsdaten | Informationelle Selbstbestimmung | Respekt der Autonomie |
Prozedurale und technische Datenschutzmaßnahmen |
Datensicherheit | Sicherheit vor systembedingtem Verlust der Integrität von Gesundheitsdaten | Prinzip des Nichtschadens |
Gerechtigkeit | Nichtdiskriminierender Zugang zur Intervention | Prinzip der Gerechtigkeit |
Verteilung der gesundheitlichen Nutzen- und Schadenspotenziale |
Beitrag zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten |
Effizienz | (Inkrementelles) Kosten-Nutzen-Verhältnis | Verteilungsgerechtigkeit bei knappen Ressourcen; Zweck-Mittel-Rationalität |
Validität der Effizienzmessung |
Verantwortung | Zuschreibbarkeit von Verantwortung beim Einsatz der digitalen Anwendungen | Prinzip des Nichtschadens |
Legitimität | Legitimierte Entscheidungsinstanz | Prinzip der Gerechtigkeit, Achtung der Autonomie |
Fairer Entscheidungsprozess |
Eine ethische Bewertung digitaler Public-Health-Interventionen muss mit einer Prüfung der
Funktionsfähigkeit beginnen. Diese setzt eine klare Definition der Zielsetzung voraus, sodass anschließend geprüft werden kann, in welchem Ausmaß sich die angestrebten Ziele auch tatsächlich erreichen lassen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Qualität der zugrunde liegenden Daten und Informationen [
20]. Zudem sollten die Ziele – im Sinne technischer Effizienz – mit möglichst geringem technischen Aufwand erreicht werden. Dabei ist es wichtig zu prüfen, welche
Alternativen es gibt, die angestrebten Public-Health-Ziele zu erreichen, und ob diese Alternativen möglicherweise Vorteile im Hinblick auf die im Folgenden zu prüfenden ethischen Kriterien bieten.
Über eine gute Wirksamkeit hinaus, müssen digitale Public-Health-Interventionen auch einen
Nutzen für die Zielpopulation haben, d. h. zu einer Verringerung von Morbidität und Mortalität oder zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen. Der Nutzen sollte idealerweise in methodisch hochwertigen Studien nachgewiesen sein. Bislang gibt es vergleichsweise wenige gute Studien, die den erhofften Nutzen digitaler Public-Health-Interventionen belegen [
21,
22]. Als
Schadenspotenziale sind zum einen Risiken durch eine fehlerhafte Bedienung oder Funktion der digitalen Technologien zu berücksichtigen, zum anderen Belastungen und gesundheitliche Risiken durch die digital unterstützte Public-Health-Maßnahme.
Mit Blick auf
Selbstbestimmung ist zu prüfen, ob die digitale Public-Health-Intervention die Gesundheitskompetenz der Teilnehmer fördert. Voraussetzung dafür ist eine ausreichende Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien und Technologien, sodass Digital-Public-Health-Interventionen ggf. mit entsprechenden Maßnahmen zur Förderung der E‑Health Literacy zu kombinieren sind [
23]. Wie bei allen Public-Health-Maßnahmen sollten die Teilnehmer auch bei Digital-Public-Health-Interventionen die Möglichkeit haben, eine informierte Entscheidung über die Teilnahme zu treffen. Insbesondere bei Früherkennungsmaßnahmen sollte nicht die hohe Teilnahmerate, sondern die Ermöglichung einer informierten Entscheidung als Erfolgsparameter dienen. Schließlich ist zu prüfen, welche Auswirkungen die digitale Public-Health-Intervention auf die Entscheidungsfreiheit der Teilnehmer hat. Hier dürfte häufig eine Abwägung zwischen der Wahrung der Entscheidungsautonomie und der Erreichung von Public-Health-Zielen erforderlich sein. Dies trifft insbesondere auch auf sogenannte Nudging-Ansätze zu, bei denen Verhaltensweisen von Menschen durch eine Gestaltung der Handlungsmöglichkeiten beeinflusst werden sollen. Diese Ansätze werden häufig durch digitale Technologien unterstützt [
24,
25]. Aufgrund der möglichen Risiken für die Privatsphäre und zum Schutz vertraulicher Gesundheitsdaten ist bei digitalen Technologien zudem zu prüfen, ob die informationelle Selbstbestimmung der Teilnehmenden gewahrt ist. Sie sollten über den Umfang und die geplante Verwendung ihrer Daten informiert werden und anschließend ihr Einverständnis geben können. Zudem sollte ein ausreichender Datenschutz durch entsprechende prozedurale und technische Vorkehrungen gewährleistet sein [
15].
Wie bereits weiter oben ausgeführt, spielen gerechtigkeitsethische Implikationen bei Public-Health-Maßnahmen generell, aber speziell auch im Bereich von Digital Public Health eine besondere Rolle. Ein allgemeiner Zugang zu der digital unterstützten Public-Health-Strategie ist zu gewährleisten, wobei insbesondere sozioökonomisch bedingte Zugangsbarrieren zu beachten sind. Die resultierenden Nutzen- und Schadenspotenziale sollten in der Zielpopulation fair verteilt sein. Anzustreben ist aus gerechtigkeitsethischer Sicht ein Beitrag zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten. Idealerweise richten sich die Digital-Public-Health-Interventionen gezielt an diejenigen Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihres sozioökonomischen Status in ihren Gesundheitschancen benachteiligt sind, wobei die dafür erforderlichen Voraussetzungen (z. B. ausreichende digitale Kompetenz, Zugang zu digitalen Technologien) zu gewährleisten sind.
Angesichts begrenzt verfügbarer Ressourcen für den Gesundheitsbereich sollte zudem die Effizienz von E‑Health-Anwendungen geprüft werden. Dabei sollte das inkrementelle Kosten-Nutzen-Verhältnis bestimmt werden, wobei auch nichttechnische Alternativen als Vergleich hinzugezogen werden sollten. Insbesondere bei automatisierten digitalen Anwendungen sind Fragen der Verantwortungszuschreibung vorab hinreichend zu klären. Dies gilt insbesondere für Anwendungen, bei denen große Datenmengen automatisch ausgewertet und direkt in entsprechende Handlungsempfehlungen übersetzt werden.
Da sich Public-Health-Maßnahmen allgemein auf die Lebensgestaltung und das Wohlergehen vieler Menschen auswirken, sollten die digitalen Anwendungen bei einer breiten, populationsbezogenen Anwendung durch eine hierzu entsprechend legitimierte Entscheidungsinstanz in einem fairen Entscheidungsprozess implementiert werden [
18].
Zwischen den einzelnen Kriterien bestehen sowohl Instrumental- als auch Konkurrenzbeziehungen. So ist die Funktionsfähigkeit beispielsweise Voraussetzung für ein großes Nutzenpotenzial und ein möglichst kleines Schadenspotenzial. Auf der anderen Seite können die Kriterien Schadenspotenzial und Effizienz in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, da Maßnahmen zur Erhöhung der technischen Sicherheit (wie Evaluationsstudien, technische Vorkehrungen zur Verbesserung der Fehlertoleranz) häufig erhebliche Ressourcen erfordern und damit die Gesamteffizienz der digitalen Anwendungen reduzieren. Die hier aufgelisteten normativen Kriterien erfüllen zwei Aufgaben im Rahmen der ethischen Analyse: Zum einen dienen sie als „Suchmatrix“ für ethische Fragen, die mit dem Einsatz einer bestimmten Digital-Public-Health-Intervention verbunden sind. Zum anderen liefern sie die ethische Begründung der im Anschluss formulierten Empfehlungen für die Entwicklung und den Einsatz der Technologien.
Methodisches Vorgehen zur Bewertung von Digital Public Health
Die Anwendung der im vorangehenden Abschnitt vorgestellten normativen Kriterien sollte einem klar definierten methodischen Vorgehen folgen, um die Qualität der ethischen Bewertung zu sichern (zur Übersicht vgl. Tab.
2).
Tab. 2Arbeitsschritte einer ethischen Bewertung von Digital-Public-Health-Interventionen [
18,
19]
1. Beschreibung | Möglichst genaue Charakterisierung der zu untersuchenden Digital-Public-Health-Intervention: Zielsetzung, Funktionsweise, Anwendungsbereich, (nichttechnische) Alternativen etc. |
2. Spezifizierung | Spezifizierung der Bewertungskriterien (Tab. 1) für die vorliegende Digital-Public-Health-Intervention |
3. Einzelbewertung | Bewertung der Intervention anhand der einzelnen in Schritt 2 spezifizierten Kriterien im Vergleich zu alternativen Optionen |
4. Synthese | Übergreifende Beurteilung der Intervention durch Synthese, Gewichtung und Abwägung der Einzelbewertungen aus Schritt 3 |
5. Empfehlung | Erarbeitung von Empfehlungen für die ethisch vertretbare Entwicklung und Anwendung der Digital-Public-Health-Intervention |
6. Monitoring | Beobachtung und Evaluation der ethischen Implikationen in regelmäßigen Abständen, ggf. Revision der erarbeiteten Empfehlungen |
Die ethische Bewertung muss mit einer möglichst genauen
Beschreibung der digitalen Public-Health-Intervention beginnen. Anschließend ist zu prüfen, ob für den vorliegenden Anwendungsbereich eine weitere
Spezifizierung der Bewertungskriterien (vgl. Tab.
1) erforderlich ist. Im dritten Schritt erfolgt dann die Bewertung der Digital-Public-Health-Intervention auf Grundlage jedes einzelnen normativen Bewertungskriteriums (
Einzelbewertung). In der
Synthese müssen die einzelnen Bewertungen dann zu einer übergreifenden Beurteilung der digitalen Public-Health-Intervention zusammengeführt werden. Dabei ist eine normative Gewichtung der Einzelbewertungen erforderlich, im Konfliktfall eine begründete Abwägung und die Überprüfung auf alternative, ethisch weniger konfliktträchtige Lösungen. Ethisch begründete
Empfehlungen für die Entwicklung und Anwendung der digitalen Technologien können dazu beitragen, dass die Nutzenpotenziale der Digital-Public-Health-Intervention optimal genutzt und Schadenspotenziale und Einschränkungen der Entscheidungsautonomie möglichst weit reduziert werden. Im Rahmen eines
Monitorings der Nutzung der Intervention kann im weiteren Verlauf geprüft werden, inwieweit die ethische Bewertung noch zutrifft und ggf. Modifikationen der Empfehlungen erforderlich sind.