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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2/2011

01.05.2011 | Originalarbeit

Perspektivenwechsel bei der Sicherungsverwahrung

verfasst von: RiBGH Wolfgang Pfister

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 2/2011

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Zusammenfassung

Der Autor beschreibt kritisch die Maßnahmen zur Ausweitung der Sicherungsverwahrung in den letzten Jahren. Er verweist auf den Kontrast zur tatsächlichen Entwicklung der Kriminalität. Dabei scheint die Rechtspolitik nicht mehr auf die reale, sondern die medial produzierte Gefährdungslage zu reagieren. Sicherungsverwahrung wandelt sich tendenziell von einer Ultima Ratio zu einem Bestrafungsstandard und gerät nicht zuletzt dadurch in Konflikt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Fußnoten
1
Die Frage richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber, in zweiter Linie an die an Gesetz und Recht gebundene Rechtsprechung.
 
2
BGH, Beschluss vom 11.08.1982 – 2 StR 438/82, NStZ 1982, 463.
 
3
Das Schaubild ist dem Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2006 (dort S. 97) entnommen.
 
4
Die Statistik ist dem Verfasser von Prof. Dr. Egg, Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden, zur Verfügung gestellt worden.
 
5
Vgl. dazu Pfeiffer u. a.: Die Medien, das Böse und wir. Zu den Auswirkungen der Mediennutzung auf Kriminalitätswahrnehmung, Strafbedürfnisse und Kriminalpolitik. Monatsschr Kriminol 2004, 415–435.
 
6
24.01.2011, ARD, Beckmann.
 
7
Vgl. hierzu Alex, Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel, 2010; Kinzig, Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter: zugleich ein Beitrag zur Entwicklung des Rechts der Sicherungsverwahrung; 2. Aufl. 2010 (Besprechung von Laubenthal in GA 2010, 55).
 
8
Kritisch zu der im selben Zusammenhang geforderten Unterrichtung der Öffentlichkeit über den Aufenthaltsort entlassener Sexualstraftäter: Baur, Burkhardt, Kinzig, JR 2011, 131.
 
9
BILD, Ausgabe Inland 185/32, 11.08.2010.
 
10
BVerfG, Urteil vom 05.06.1973 – 1 BvR 536/72, BVerfGE 35, 202. Das vollständige Zitat lautet. „Für die aktuelle Berichterstattung über schwere Straftaten verdient das Informationsinteresse der Öffentlichkeit im Allgemeinen den Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz des Straftäters. Jedoch ist neben der Rücksicht auf den unantastbaren innersten Lebensbereich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten; danach ist eine Namensnennung, Abbildung oder sonstige Identifikation des Täters nicht immer zulässig. Der verfassungsrechtliche Schutz der Persönlichkeit lässt es jedoch nicht zu, dass das Fernsehen sich über die aktuelle Berichterstattung hinaus etwa in Form eines Dokumentarspiels zeitlich unbeschränkt mit der Person eines Straftäters und seiner Privatsphäre befasst. Eine spätere Berichterstattung ist jedenfalls unzulässig, wenn sie …“
 
11
Alternative Überlieferungen sind: „Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie!“ oder „Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden.“.
 
12
Verzichtet wurde in dem Vortrag auf eine Darstellung der Einführung der Sicherungsverwahrung in das deutsche Strafrecht. In Kürze dazu nur Folgendes: Im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 waren Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht vorgesehen. Noch vor der Wende zum 20. Jh. begannen Bemühungen um eine Erneuerung des Strafrechts, ausgelöst von einer Reformbewegung, welche die Strafe nicht mehr als vergeltende Antwort auf eine Tat – also repressiv –, sondern als den Versuch ansehen wollte, auf den einzelnen Täter zur Verhinderung weiterer Taten – also präventiv – einzuwirken. Dies führte zu einer Mehrzahl von Kommissionen, deren Berichten und den darauf beruhenden Gesetzentwürfen. Darüber vergingen – auch verursacht durch Krieg und die politische Instabilität der Weimarer Republik – mehr als 30 Jahre. Erst das Gewohnheitsverbrechergesetz vom November 1933 führte ab dem 01.01.1934 die Maßregeln der Besserung und Sicherung und damit auch die Sicherungsverwahrung ein. Die Maßregeln können nicht als Idee der Nationalsozialisten angesehen werden. Diese haben das Instrument aber sofort für ihre Zwecke missbraucht: Schon im ersten Jahr wurde die Sicherungsverwahrung in 3723 Fällen angeordnet.
 
13
Die Stellungnahmen sowie das Protokoll der 28. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags sind über www.bundestag.de zu erschließen.
 
14
Seit jeher ist die Anordnung bei dem erheblich vorsanktionierten und hafterfahrenen Wiederholungstäter zwingend vorgesehen (§ 66 Abs. 1 StGB). In allen anderen Fällen (§ 66 Abs. 2 und 3; §§ 66a, b StGB) steht sie im Ermessen des Gerichts.
 
15
„Letztes Mittel der Kriminalpolitik“, BT-Dr 17/3403, S. 1.
 
16
Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 04.07.1969, BGBl I, S. 729.
 
17
Hierauf hat der Bundesgerichtshof schon mehrfach hingewiesen; vgl. BGH, Beschluss vom 10.01.2007 – 2 StR 486/06 (juris); Urteil vom 08.07.2005 – 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 196.
 
18
Vgl. Heinz in FS Schwind, 2006, 893, 894, wonach die Gesetzgebung durch die kriminalstatistischen Daten nicht legitimierbar, sondern eher Folge eines „politisch-publizistischen Verstärkerkreislaufes“ sei.
 
19
BVerfG, Urteil vom 05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133; sie konnte zuvor nicht Gegenstand einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs werden, weil der Rechtsweg in Strafvollstreckungssachen bei den Oberlandesgerichten endet und bis Sommer 2010 eine Vorlagepflicht zum Bundesgerichtshof bei Divergenzen nicht bestand.
 
20
BVerfG, Beschluss vom 23.08.2006 – 2 BvR 226/06, NJW 2006, 3483.
 
21
BVerfG, Beschluss vom 22.10.2008 – 2 BvR 749/08, StraFo 2008, 516.
 
22
BVerfG, Beschluss vom 05.08.2009 – 2 BvR 2098/08, NStZ 2010, 265.
 
23
Über die Verfassungsbeschwerde wegen der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung gegen einen nach Jugendrecht Verurteilten (LG Regensburg, Urteil vom 22.06.2009; BGH, Urteil vom 09.03.2010 – 1 StR 554/09, NStZ 2010, 381) ist noch nicht entschieden.
 
24
EGMR, Urteil vom 17.12.2009 – 19359/04, NJW 2010, 2495.
 
25
Dies ist letztlich dadurch geschehen, dass das OLG Frankfurt a. M. mit Beschluss vom 24.06.2010 (NStZ 2010, 573) die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers beendet hat.
 
26
Das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Grabenwarter, Universitätsprofessor für Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Völkerrecht am Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht der Wirtschaftsuniversität Wien, ist inzwischen in JZ 2010, 857 veröffentlicht.
 
27
BGH, Beschluss vom 12.05.2010 – 4 StR 577/09, NStZ 2010, 567.
 
28
BGH, Beschluss vom 21.07.2010 – 5 StR 60/10, NStZ 2010, 565.
 
29
Sollte sich der Große Senat für Strafsachen der Ansicht des 5. Strafsenats anschließen, würde ein Weg aus der konventionswidrig andauernden Sicherungsverwahrung nur über eine Verfassungsbeschwerde oder sogar – falls das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung zur Rückwirkung nicht ändert – über die Menschenrechtsbeschwerde an den EGMR führen. Dort jedenfalls wäre eine Verurteilung der Bundesrepublik zur Beendigung des konventionswidrigen Zustands unausweichlich.
 
30
EGMR, Pressemitteilung des Kanzlers Nr. 18 vom 13.01.2011 in den Beschwerden 20008/07, 27360/04 und 42225/07. Der Gerichtshof hat angesichts der Entwicklung der Rechtsprechung in der Bundesrepublik offenkundig Sorge, dass selbst in den unmittelbar von ihm entschiedenen Fällen eine Entlassung der Beschwerdeführer unterbleiben könnte.
 
31
EGMR, Urteil vom 13.01.2011 – 6587/04 (juris).
 
32
Dies betrifft nicht nur die Fälle rückwirkender Entfristung der Sicherungsverwahrung, sondern auch die Fälle der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hat nun die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag eingebracht, BT-Dr 17/4593.
 
33
§ 9 ThUG erfordert die Einholung von zwei selbstständigen Gutachten. Die Gutachter sollen Ärzte für Psychiatrie sein; sie müssen Ärzte mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein.
 
34
Vgl. Peglau, jurisPR-StrafR 2/2011 Anm. 1.
 
Metadaten
Titel
Perspektivenwechsel bei der Sicherungsverwahrung
verfasst von
RiBGH Wolfgang Pfister
Publikationsdatum
01.05.2011
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 2/2011
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-011-0100-0

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