Anamnese
Eine 76-jährige Patientin stellte sich mit seit über 1 Jahr bestehenden, juckenden, lividen bis erythematösen Plaques an der rechten Ferse sowie im Bereich des unteren Rückens in unserer allgemeinen Ambulanz vor. Auf intensive Nachfrage berichtete die Patientin, dass sie sich aufgrund von Gelenkschmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich und eines Fersensporns einige Wochen vor Auftreten der Effloreszenzen 2 Sitzungen einer Blutegeltherapie durch eine Heilpraktikerin unterzogen hatte. Es wurden keine relevanten Nebenerkrankungen angegeben. Die Dauermedikation bestand aus Metoprolol, Ramipril sowie L‑Thyroxin.
Diskussion
Unter dem Begriff Pseudolymphom (PSL) oder kutane lymphoide Hyperplasie versteht man eine benigne, reaktive Lymphoproliferation der Haut, die klinisch und/oder histologisch ein malignes Lymphom simulieren kann [
1,
2]. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Entitäten, die sich klinisch, histologisch, immunhistochemisch sowie ätiologisch unterscheiden [
1]. In den letzten Jahren wurden in der Literatur zahlreiche Klassifikationen für Pseudolymphome publiziert [
1]. Diese beinhalten Einteilungen der PSL nach dem Immunphänotyp (T-Zell‑, B‑Zell- oder gemischtzellig), den histopathologischen Merkmalen, der Ätiologie sowie nach unterschiedlichen klinischen Merkmalen [
2]. Eine international etablierte, konsensusbasierte Klassifikation analog der WHO(World Health Organization)-EORTC(European Organization for Research and Treatment of Cancer)-Klassifikation für kutane Lymphome liegt bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor [
1]. Man unterscheidet die primären, idiopathischen PSL ohne erkennbare Ursache von den sekundären PSL mit bekanntem Stimulus [
3,
4]. Triggerfaktoren umfassen u. a. verschiedene Medikamente und Infektionen, aber auch Traumata wie Tattoos, Insektenstiche, Akupunktur und Impfungen [
2,
4‐
6]. Ein typisches histologisches Merkmal der kutanen PSL ist das Vorhandensein eines polyklonalen, lymphozytären Infiltrats in der oberen Dermis [
4]. Charakteristisch für die PSL ist ein gutartiger Verlauf. Aufgrund der selten beschriebenen malignen Transformation sowie der mitunter erheblichen differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten sollten regelmäßige Nachsorgeuntersuchungen erfolgen [
1,
5].
In dem vorliegenden Fall kam es zu einem Auftreten von Pseudolymphomen nach einer Behandlung mit medizinischen Blutegeln (Hirudotherapie). Bisher wurden nach bestem Wissen und Gewissen insgesamt nur 9 Fälle von kutanen PSL nach Hirudotherapie in der Literatur beschrieben [
3‐
11], die in Tab.
1 zusammengefasst sind. Histologisch und immunhistochemisch zeigte sich ein breites Bild ohne Dominanz eines Musters. Therapeutisch wurde zumeist entweder eine topische oder intraläsionale Steroidbehandlung durchgeführt. Hierunter kam es in den berichteten Fällen zu einer Befundbesserung.
Tab. 1
Übersicht der Fallberichte von Pseudolymphomen nach Hirudotherapie
Hanner et al. (aktueller Fall) | 76/w | Unterer Rücken (lumbal), Ferse | Gelenkschmerzen, Fersensporn | Gemischt T‑ und B‑lymphozytäres Infiltrat | Topische ST | Langsam rückläufige Läsion |
Sepaskhah et al. (2020), [ 11] | 44/w | Schienbein | Erythema nodosum | Nicht durchgeführt | Systemische ST | Rückläufige Läsionen |
Topische ST |
Intraläsionale ST |
Sadati et al. (2019), [ 9] | 45/w | Untere Extremitäten | Varikose und Schmerzen | Nicht durchgeführt | Topische ST | Komplett rückläufige Läsionen |
Kryotherapie |
| 54/m | Hals | Unbekannt | T‑lymphozytär dominiertes Infiltrat | Intraläsionale ST | Nach 1 Monat: rückläufige Läsionen |
Nach 6 Monaten: kein Rezidiv |
Aktas et al. (2018), [ 10] | 65/w | Unterer Rücken (lumbal) | Rückenschmerzen | Nicht durchgeführt | Intraläsionale ST | Rückläufige Läsionen |
Kryotherapie |
Tupikowska et al. (2018), [ 4] | 38/w | Regio pubica | Uterusmyom | Gemischtzelliges, T‑lymphozytär dominiertes Infiltrat | Orale AH | Langsam rückläufige Läsionen |
Topische ST |
Intraläsionale ST |
Intramuskuläre ST |
Kryotherapie |
Altamura et al. (2014), [ 7] | 50er/w | Rücken | Fibromyalgie | B‑lymphozytär dominiertes Infiltrat | Topische ST | Nach 1 Monat: komplett rückläufige Läsionen |
Nach 15 Monaten: kein Rezidiv |
Khelifa et al. (2013), [ 6] | 77/w | Unterer Rücken (lumbal) | Rückenschmerzen bei lumbaler Spinalkanalstenose | Gemischt T‑ und B‑lymphozytäres Infiltrat | Topische und intraläsionale ST | Rückläufige Läsionen |
| 52/m | Unterlid bds. | Infraorbitale Augenringe | Gemischtzelliges, T‑lymphozytär dominiertes Infiltrat | Intraläsionale ST | Nach 3 Monaten: rückläufige Läsionen |
Smolle et al. (2000), [ 8] | 56/w | Unterschenkel bds. | Chronisch venöse Insuffizienz | B‑lymphozytär dominiertes Infiltrat | Intraläsionale ST | Langsam rückläufige Läsionen |
Im letzten Jahrzehnt gewann die Blutegeltherapie mit neuen Einsatzbereichen an zunehmender Bedeutung [
8]. Die Hauptindikationen der medizinischen Blutegeltherapie stellen unterschiedliche Gelenkerkrankungen wie Osteoarthritis und Epikondylitis, Venenerkrankungen sowie die Lappenplastik der plastischen Chirurgie dar [
12]. Die Blutegel umfassen mehr als 600 verschiedene Arten, der bekannteste und in der Medizin vorrangig eingesetzte Vertreter ist der
Hirudo medicinalis [
6,
12]. Bis dato konnten mehr als 20 bioaktive Substanzen im Speichelsekret der Blutegel mit u. a. analgetischen, antiinflammatorischen, plättchenhemmenden, gerinnungshemmenden und Thrombin-regulatorischen Funktionen sowie mit antimikrobiellen und extrazellulären Matrix-abbauenden Wirkungen identifiziert werden [
12]. Mögliche Komplikationen sind Infektionen, Blutungen, Anämie, allergische Reaktionen sowie Narbenbildung [
3]. Zudem können – wie im dargelegten Fall – kutane PSL als seltene, aber beachtenswerte Nebenwirkungen der Blutegeltherapie auftreten. Die Pathogenese der kutanen PSL nach Hirudotherapie ist bis heute nicht gänzlich geklärt. Die pseudolymphomatösen Reaktionen werden vermutlich durch den Biss der scharfen Zähne, durch Substanzen der Blutegel oder durch infektiöse Erreger, die während der Behandlung übertragen werden, bedingt [
6,
8]. Als möglicher Pathomechanismus wird eine verzögerte Hypersensitivitätsreaktion auf Bestandteile der Insekten diskutiert [
3]. In der Literatur wurden selten sowohl irritative als auch allergische Kontaktdermatitiden nach medizinischer Blutegeltherapie beschrieben [
13]. Hirudin kommt als ein mögliches, auslösendes Agens in Betracht [
13]. Die definitive Identifikation des auslösenden Agens ist bei mehr als 100 nachgewiesenen Proteinen mit einem molekularen Gewicht zwischen 10 und 97 kD im Speichelsekret der Blutegel allerdings schwierig [
13].
Auch für erfahrene Mediziner ist die Diagnose eines Pseudolymphoms oftmals eine Herausforderung und erfordert nicht selten die Korrelation aller Befunde – der Klinik, der Histologie, der Immunhistochemie und der Molekularpathologie. Es ist zu erwarten, dass mit zunehmender Anwendung der Blutegeltherapie in unterschiedlichen Bereichen der Medizin auch die kutanen Nebenwirkungen häufiger beobachtet werden. Daher sollte bei der differenzialdiagnostischen Abklärung von Pseudolymphomen auch diese seltene Ursache bedacht werden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
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