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Erschienen in: Forum der Psychoanalyse 3/2023

Open Access 29.06.2023 | Psychoanalyse | SCHWERPUNKT: REGRESSION

„Angriffe auf Verbindungen“ – zur Sozialpsychologie des Populismus

verfasst von: Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff

Erschienen in: Forum der Psychoanalyse | Ausgabe 3/2023

Zusammenfassung

Unter dem Gesichtspunkt eines regressiven Angriffs auf Verbindungen wird der Populismus untersucht. Dabei wird gezeigt, dass der Populismus Urheber solcher Angriffe auf Verbindungen ist, aber zugleich sich auch solchen Angriffen verdankt bzw. eine – fehlgeleitete – Antwort auf das Zerreißen von Verbindungen ist. Zentral ist der Begriff der Regression, der in der Psychoanalyse vertraut und bedeutsam ist, aber auch auffällig aktuell in der soziologischen Diskussion der Gegenwart genutzt wird. Populismus ist selbst regressiv, aber auch Antwort auf gesellschaftliche Regressionen. Diese These soll begründet werden. Der Text beginnt mit einem soziologischen Steckbrief des Populismus. Er wendet sich dann den gesellschaftlichen Ursachen des Populismus zu, unter Hinweis auf Demokratiedefizite allgemein und spezifisch auf gesellschaftliche Regressionen. Im dritten Teil wird der psychoanalytische Regressionsbegriff mit dem soziologischen kontrastierend verbunden und gezeigt, dass es die Psychoanalyse in der gesellschaftstheoretischen Analyse braucht, um das Attraktive in der Regression, die der Populismus darstellt, zu verstehen. Im letzten Teil wird eine Fabel zitiert, die aus der Nobelpreisrede der Autorin Toni Morrison stammt.

Einführung

Welchen Stellenwert kann das Thema Populismus in einer psychoanalytischen Fachzeitschrift beanspruchen? Wie relevant ist es psychotherapeutisch und psychodynamisch? Antworten auf diese Frage leiten den vorliegenden Beitrag ein. Drei Gesichtspunkte sind dabei ausschlaggebend:

Zum Verhältnis von Makroperspektive und Mikroperspektive

Nichts belastet uns so sehr, Patientinnen und Patienten sowie Therapeutinnen und Therapeuten gleichermaßen, wie die aufeinander und nebeneinander über uns hereinbrechenden Krisen, die Coronakrise, die sich immer mehr zuspitzende Klimakatastrophe, der Überfall Russlands auf die Ukraine. Die globalen politischen Krisen machen vor den Türen der psychotherapeutischen Praxis keinen Halt. Vielmehr dringen sie in die Therapiegespräche ein; sie beeinflussen alle an der Therapie Beteiligten. In diesen Krisenzeiten wird uns besonders deutlich, dass Psychotherapie sich aus den sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen nicht heraushalten kann. Sie ist eingelassen in diese Verhältnisse, gehört zu ihnen, wird durch sie geprägt. Da der Populismus gegenwärtig eine nicht zu übersehende gesellschaftliche Kraft ist, wirkt auch er sich auf Psychotherapien aus und kann nicht ignoriert werden.
Makroperspektive und Mikroperspektive sind nicht nur verschränkt in der Gestaltung und Atmosphäre der Therapie und in den Einstellungen der Beteiligten; die Makroperspektive wirkt sich tiefergehend auf das Erleben der Therapeuten ebenso wie der Patienten aus und gestaltet das, was als Belastung, Leiden oder psychische Störung erscheint. Ja, die Mikroperspektive lässt sich sogar nur im Verhältnis zur Makroperspektive wirklich erklären. Neue gesundheitsrelevante Phänomene wie Burn-out, Bore-out oder Prokrastination lassen sich nicht allein individualpsychologisch auflösen, sondern erscheinen im Sinne von Devereux (1980) als „Modellkrankheiten“, die etwas über den gesellschaftlichen Prozess aussagen, aber durch ihn auch bestimmt sind.

„Manie – kuren“

Der humorvolle skeptische Philosoph Odo Marquard hat in seiner Rede zur Verleihung des Sigmund-Freud-Preises die Philosophen als „Nous-Knacker“ bezeichnet (Marquard 1982). „Nous“ ist das altgriechische Wort für die Vernunft. Marquardt spielt mit dem Wort „Nussknacker“, mit dem sich harte Nussschalen öffnen lassen, manchmal freilich nur mit großer Kraftanstrengung. Wenn das Thema Populismus sehr viel mit Unvernunft zu tun hat, so lässt sich auf den Spuren von Marquard mit den Begriffen spielen. Der Wahnsinn war im Altgriechischen die Mania, das Wort lebt in der Manie fort, μαίνομαι (mainomai) heißt „ich rase“. Der Psychiater oder Psychoanalytiker hätte es dann mit einer „Manie-Kur“, mit einer „Manie-kure“, zu tun. Seine Aufgabe besteht darin, den Wahnsinn zu kurieren, das Ende der Vernunft zu markieren und zu korrigieren, um letztendlich das Leben zu verschönern.
Ein wichtiger Teil dieser „Manie-kure“ ist es, einen Beitrag zum Verstehen gesellschaftlicher Entwicklungen und Krisen zu leisten. Es ist rätselhaft und aufklärungsbedürftig, es entzieht sich dem alltäglichen Verständnis zu sehen, wie erfolgreich populistische Politiker sind. Wahrscheinlich sind wir alle fassungslos zurückgeblieben vor den Ereignissen des 06.01.2021, nach dem Sturm auf das US-amerikanische Capitol. Unverständlich bleibt, wie es möglich ist, die Wahrheit oder den Anspruch auf Wahrheit in dem politischen Diskurs zu verabschieden, und ebenso irritierend ist es, dass die offene Lüge politisch und gesellschaftlich salonfähig und erfolgreich ist. Eine methodologisch interessante Frage schließt sich an: Können die Experten der Mikroperspektive zur Makroperspektive etwas beitragen? Sigmund Freud und Wilhelm Reich haben vor etwas mehr und etwas weniger als 100 Jahren unter dem Gesichtspunkt der Massenpsychologie vorgemacht, wie fruchtbar das Handwerkszeug psychotherapeutischen Verstehens für eine Analyse der Makroverhältnisse werden kann. Auf beide wird später eingegangen; im Zentrum aber wird erst einmal die soziologische Analyse stehen.

Angriffe auf Verbindungen

Der Titel der Arbeit ist erklärungsbedürftig. „Angriffe auf Verbindungen“ – so lautet der erste Teil. Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker werden den Ursprung rasch identifizieren. Der heute noch intensiv diskutierte, innovative, aber nicht leicht zugängliche psychoanalytische Autor Bion (1990 [1959]) hat vor mehr als einem halben Jahrhundert den folgenreichen Aufsatz „Attacks on linking“ geschrieben, der im Deutschen eben als „Angriffe auf Verbindungen“ übersetzt worden ist. Wir kennen aus der psychotherapeutischen Erfahrung diese – von innen her kommenden – Angriffe; im kognitiven Bereich schränken sie das eigene Denkvermögen ein, reduzieren sie den Umfang der eigenen Urteile, Fantasien und Einfälle, ersetzen ein differenziert abgestuftes Denkvermögen durch Alles-oder-nichts-Regeln. Wir kennen Angriffe auf Verbindungen im interpersonellen Bereich, wenn persönliche Beziehungen, auch die zwischen Patienten und Patientinnen sowie Therapeuten und Therapeutinnen, bewusst oder unbewusst angegriffen oder zerstört werden. Das Denkvermögen, die Kommunikationsfähigkeit und die Handlungsoptionen verengen sich; sie regredieren. Unter dem Gesichtspunkt eines regressiven Angriffs auf Verbindungen will ich im Folgenden auch den Populismus bearbeiten und untersuchen.

Was versteht die soziologische Forschung unter Populismus?

Der zweite Teil im Titel der vorliegenden Arbeit, „Zur Sozialpsychologie des Populismus“ beschreibt dessen Ziel: Das Phänomen des Populismus soll sozialpsychologisch beschrieben und erläutert werden. Die gegenwärtige soziologische Forschung ist reichhaltig und hilft, das Phänomen besser zu verstehen.
Populus ist das Volk; was populär ist, ist volksnah. Wenn das Volk sich nicht vertreten fühlt, wer immer das Volk ist, so kann es sich selbst ermächtigen. Es ermächtigt sich mit dem Durchschneiden von, dem Angriff auf Verbindungen. Viele Akteure, die nicht zum Volk gezählt werden, werden ausgeschieden; das Volk, wer immer die Menschen sind, die sich eben zum Volk erklären, vertritt nun einen moralischen Alleinvertretungs- und Absolutheitsanspruch: „Wir sind das Volk“. Politik wird vorgestellt als ein Kampf, in dem einem reinen und homogenen Volk unmoralische korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen (Müller 2016, S. 42).
Interessant ist nun, dass einige Soziologen zu Recht den Populismus insofern ernst nehmen, dass sie ihn nicht als eine leere Form verstehen, die sich beliebig mit Inhalten füllen ließe, sondern ihn als eine vollwertige politische Ideologie verstehen (Schäfer und Zürn 2021, S. 59 ff.). Sie ist – in der hier gewählten Begrifflichkeit beschrieben – dadurch gekennzeichnet, dass sie Verbindungen durchschneidet und radikale Grenzen hochzieht. Nicht umsonst wurde soeben mehrfach den Zusatz gewählt: „wer immer das Volk ist“. Es wird in nationalstaatlicher oder nationalistischer Perspektive festgelegt, wer zum eigenen Volk gehören darf und wer nicht. In der populistischen Migrationspolitik wird dies unmittelbar sichtbar, mit schlimmen Konsequenzen; Populisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie Fremdinteressen nicht akzeptieren und die eigene Nation in den Vordergrund rücken. In diesem Zusammenhang fällt uns wahrscheinlich schnell Donald Trump ein, dessen Bewegung MAGA heißt, was sich wie Mega ausspricht und doch ein Akronym ist: Make America Great Again. Die Bewegung MAGA ist praktisch folgenreich und hat dazu geführt, dass gegenüber Mexiko Zäune errichtet worden sind und Flüchtlingskinder interniert und von den Eltern grausam getrennt worden sind. Die Interessen der eigenen Nation stehen im Vordergrund, alle anderen stehen zurück. Wir müssen aber nicht nach Amerika schauen, sondern wir können auch einen bedeutenden konservativen Politiker zitieren, von dem nicht ausgeschlossen ist, dass er der nächste Bundeskanzler der BRD sein wird. Dieser hat im Herbst 2022 die Ukraineflüchtlinge als Sozialtouristen und im Januar 2023 die vorgeblich ausländischen Kinder, die disziplinarische Probleme in Schulen bereiten, als kleine Pascha bezeichnet. Letztere beschreibt er so: „Das sind überwiegend Jugendliche aus dem arabischen Raum, die nicht bereit sind, sich hier an die Regeln zu halten, die Spaß daran haben, diesen Staat herauszufordern.“ Diese Jugendlichen, die oftmals in der BRD geboren worden sind, also gehören offensichtlich nicht zum Volk, Friedrich Merz aber schon.
Der Angriff auf die Verbindungen aber reicht weiter und über den Nationalismus hinaus. Er greift auch den Pluralismus an, der für eine Demokratie selbstverständlich sein sollte. Aus einem vermeintlichen oder objektivierbaren Demokratiedefizit entstanden, das noch beschrieben werden wird, richtet der Populismus sich gegen das Grundprinzip von Demokratie, die „Deliberation“ (Habermas 2023), also den offenen, gleichberechtigten politischen und gesellschaftlichen Dialog, das gemeinsame Abwägen und Nachdenken. Stattdessen werden politische Einstellungen nicht mehr diskutiert, sondern es werden Entscheidungen getroffen, die sich nicht mehr ausweisen müssen, so als verstünden sie sich von selbst.
In den USA konnten wir beobachten, wie Populisten den Staatsapparat in Besitz genommen haben. Die eigenen Gefolgsleute Trumps sind in Positionen lanciert worden, von denen es wichtig gewesen wäre, dass die Stelleninhaber eine ausgewogene und vielleicht sogar neutrale Position einnehmen. Das höchste amerikanische Gericht, der Supreme Court, ist von Donald Trump mit radikalkonservativen Richtern besetzt worden. Man bleibt unter sich, zerstört die Verbindungen, das Gespräch, die Debatte mit Andersdenkenden. So setzt sich die für den Populismus charakteristische antipluralistische Haltung fort.
Die Kommunikation mit anderen, die Verbindung zu kritischen Institutionen wird einfach gekappt. Der populistische Führer ist im Selbstverständnis der einzig legitime Führer, damit spielen andere Meinungen oder gar Enthüllungen keine Rolle. Die Rede von der Lügenpresse macht die Runde, um so die kritische Öffentlichkeit der Medien zu entwerten. Diese werden dann als fremdgesteuert gebrandmarkt. Sie werden unter Umständen von ausländischen Mächten unterstützt, sie gehören jedenfalls nicht zum Volk und werden dadurch ausgegrenzt.
Der Grundirrtum oder die wesentliche Ideologie des Populismus, wie immer man sagen will, ist das Missverständnis von Repräsentation; diese wird von Populisten als imperatives Mandat missverstanden: Der klar identifizierbare Wille des Volkes muss einfach nur umgesetzt werden. Übersehen wird dabei, dass es diesen Willen des Volkes aber gar nicht gibt, dass er sich schon gar nicht a priori feststellen lässt (Müller 2016, S. 59). Gleichwohl aber wird dieser nichtfassbare Volkswillen vom populistischen Führer ausgesprochen. An ihm ist nicht das Charisma entscheidend, sondern dass er die Strömungen, die Vorurteile, die Enttäuschungen aufgreift und zu einem Volkswillen umformt. Dieser steht an der Stelle des Mehrheitswillens; er muss rasch in die Tat, in politische Wirklichkeit umgesetzt und erfüllt werden, daran misst sich der Erfolg des Anführers. Parlamentarische Prozesse werden dabei missachtet.

Zu den Ursachen des Populismus

Einig sind sich viele Autoren und Autorinnen in folgender Feststellung. Der Populismus ist antidemokratisch, aber begleitet die parlamentarische und repräsentative Demokratie wie ein Schatten (Müller 2016, S. 18).
Dieser Schatten macht sich fest an den offensichtlichen Nachteilen einer repräsentativen Demokratie. Der Blick des in der Schweiz lebenden Deutschen fällt schnell auf das erste offensichtliche Defizit: Wenn nur alle paar Jahre eine Wahl stattfindet, kann Politik von den zur Wahl zugelassenen Menschen nur selten und dazu nur global, indem eine Partei mit einem bestimmten Programm gewählt wird, beeinflusst werden.
Erschwert und zusätzlich belastet wird die ohnehin schwache Verbindung von Bürgerwille zu Politik, wenn nicht alle gesellschaftlichen Gruppen repräsentiert werden oder sich ausreichend vertreten fühlen können. Deutlich schichtabhängig in unserer westlichen Demokratie ist, wer etwas zu sagen hat, wer sich in der Demokratie repräsentiert fühlen kann. In einem schönen Bild zusammengefasst, lässt sich sagen, dass der vielstimmige Chor der Repräsentanten und Repräsentantinnen eines Staates mit einem deutlichen Oberklassenakzent singt (Schäfer und Zürn 2021, S. 101). So lag die Wahlbeteiligung, differenziert nach Einkommensschichten (Roßteutscher und Schäfer 2016), 2013 in den unteren Schichten bei circa zwei Dritteln, in den oberen hingegen bei knapp 100 %. In den 1970er-Jahren lagen alle bei circa 90 %. Politische Entscheidungs- und Funktionsträger und -trägerinnen kommen in den letzten 30 Jahren immer stärker aus akademischen Milieus, und das hat zur Folge, dass der Politikbetrieb immer mehr von Menschen bestimmt wird, die selbst privilegiert sind und zu Lebens- und Problemlagen weiterer Bevölkerungsschichten Distanz haben.1 Auf diese Partizipationseinschränkungen reagiert der Populismus; daraus erhellt sich, dass es ein notwendiges, aber andererseits keineswegs ausreichendes Kriterium zur Definition des Populismus ist, dass er sich in Kritik an den gesellschaftlichen Eliten ausbildet (Müller 2016, S. 26).
Demokratie lebt vom Ideal der kollektiven Selbstbestimmung, aber von ihr ist die real gelebte gesellschaftliche Ordnung weit entfernt, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist einfach groß und wird von soziologischen Forschern immer neu beschrieben. Zur Kluft trägt dazu bei, dass gesellschaftliche Entscheidungen oftmals nicht von den dafür demokratisch legitimierten Institutionen gefällt werden, sondern vielmehr von Institutionen, die gar nicht die Mehrheit oder gar die Demokratie insgesamt repräsentieren. Es handelt sich um spezialisierte öffentliche Autoritäten, die nicht durchs Volk gewählt worden sind und daher keine demokratische Legitimation haben, sich stattdessen auf Sachgründe und epistemische Autorität als Grundlage ihrer Entscheidung berufen (Schäfer und Zürn 2021, S. 106). Beispiele für die Verlagerung der Entscheidungskompetenzen in nichtmajoritäre Institutionen (NMI) sind die Zentralbanken oder auch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Dies geht so weit, dass der Rechtsphilosoph Forst (2020) vor einigen Jahren von einer „Verwahrlosung der Demokratie“ gesprochen hat.
Die Bürger eines demokratischen Staates erleben also eine doppelte Entfremdung. Die politischen Prozesse sind vom demokratischen Ideal weit entfernt, sie sind unübersichtlich, schlecht nachvollziehbar und nicht beeinflussbar. Die demokratischen Institutionen rücken weit weg von der Bevölkerung und entfremden sich von den Menschen, die sie doch tragen sollten. Die Gemeinschaft der Bürger, die bürgerliche Öffentlichkeit, der Volkswille erkennt sich in ihren Beschlüssen nicht mehr ohne Weiteres wieder. Die Repräsentationskrise wird von Schäfer und Zürn als „demokratische Regression“ beschrieben, als Rückschritt in doppelter Hinsicht: Demokratien gehen weltweit zurück, darüber hinaus nimmt die demokratische Qualität in den de iure existierenden Demokratien ab. Ein Blick nach Ungarn reicht, um sich diesen Abbau zu veranschaulichen; als weiteres Beispiel kann die französische Präsidialdemokratie gelten, in der es möglich ist, dass die Regierung weitreichende und eingreifende Entscheidungen wie jüngst die Rentenreform am Parlament vorbei plant und damit die demokratische Legitimation des eigenen Handels offen aushebelt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ideologien bündeln Antworten auf die Probleme der Zeit, das gilt auch für den Populismus. Sie antworten auf gesellschaftliche Konflikte. Populistische politische Kräfte erstarken, wenn das System einer Repräsentation in der repräsentativen Demokratie in die Krise gerät, und zwar, wenn sich wichtige Segmente des Staates im politischen System nicht repräsentiert, also nicht vertreten und in ihren Interessen geschützt fühlen. Dann kann eine ideelle Basis den Populismus vorbereiten; diese geht aus von einer basisdemokratischen Grundüberzeugung, nämlich der, dass die gewöhnlichen Menschen ihr Schicksal selbst bestimmen sollen und dass sie dazu auch fähig sind. Sie wird in die praktische Maxime verwandelt, dass der Mehrheitswille auf jeden Fall umgesetzt werden muss. Die demokratischen Institutionen, die dem im Wege stehen, werden angegriffen, parlamentarische Verfahren entwertet, das Parlament wird als Quasselbude oder als Schwatzbude verunglimpft. Dann setzen sich Menschen, die negativistische Haltungen vertreten, die antiliberal, antipluralistisch, antiinternational ausgerichtet sind, politisch durch.

Zu den Ursachen und der Dynamik des Populismus: zum Begriff Regression

Die wichtigen soziologischen Autoren Schäfer und Zürn kennzeichnen mit dem Begriff Regression einen Rückschritt, ein Wiederbeleben überholt geglaubter Einstellungen. Die demokratische Regression ist eine Regression der Demokratie, eine Rückentwicklung. Einmal auf den Begriff aufmerksam geworden, lohnt es, seiner Verwendung außerhalb der Psychoanalyse weiter nachzugehen. „Demokratische Regression“ – nimmt man den Begriff ernst, hat nicht allein der Populismus ein regressives Programm, auch die demokratische Gesellschaft selbst entwickelt sich regressiv. In kapitalismuskritischen soziologischen Analysen sind es die Parteien, die als regressiv eingestuft werden. Die neoliberale Wende, die uns einen Turbokapitalismus beschwert hat, stand im Zeichen einer Formel, deren Akronym einen sehr freundlich klingenden weiblichen Vornamen gekapert hatte: TINA („there is no alternative“, es gibt keine Alternative; Streeck 2017, S. 253). Der Ausbruch des Kapitalismus und die Globalisierung werden als naturgesetzliche Notwendigkeiten angesehen. Der Neoliberalismus wird als einzig mögliche Denkform angesehen. Die Parteien regredieren, so beschreibt es Streeck (2017, S. 253), zu Interessenvertretern. Populismus reagiert auf die Regression der politischen Institutionen zu Interessenverbänden. Populismus ist die regressive Antwort auf eine demokratische Regression.
Auch hier sind die Beispiele wohlfeil; denken wir an die offensichtliche Nähe von Verkehrsministern mit der Autolobby, die das Naheliegende nicht umzusetzen erlaubt, nämlich Tempo 120 auf der deutschen Autobahn. Mit TINA kommt die Lüge, auch die Expertenlüge in die Welt. In den 1990er-Jahren wurde die Warnung vor der Klimakatastrophe als Symptom einer „German disease“ gebrandmarkt (Gaudard 1993), und es wurden Studien veröffentlicht, die Baumsterben und Wetterveränderungen als Naturphänomene auswiesen. Wir wissen heute, wie falsch dies war.
Wer von Regression redet, muss differenzieren, wer als regressiv beschrieben wird, die Gesellschaft, die politische Zeitgeschichte oder die Bürger einer Gesellschaft. Der Basler Soziologe Nachtwey hebt die „Entzivilisierung“ als regressive Tendenz in westlichen Gesellschaften hervor und benennt prägnant die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen: „Etwas Rohes und Rasendes ist nun in die politische Öffentlichkeit eingezogen.“ Das regressive Verhalten lässt sich vor allem bei Männern mittleren Alters mit einer mittleren Qualifikation (Nachtwey 2017, S. 228) beobachten; diese fühlen sich abgewertet und ausgenutzt, von Eliten, der Globalisierung, von Frauen, von Flüchtlingen. Sie versuchen, den empfundenen Statusverlust durch Abwertungen anderer Gruppen auszugleichen. „Wer den Eindruck hat, gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein, verliert das Gefühl der Selbstwirksamkeit“ (Nachtwey 2017, S. 229). Nachtwey (2017, S. 229) spricht von „entbetteten Individuen“. Sie unterliegen keiner sozialen Kontrolle und müssen sich nicht für hasserfüllte Botschaften verantworten. So entstehen Ressentiments, und mit ihnen wird ein vormals selbstverständliches zivilisiertes, aufgeklärtes, die Rechte anderer respektierendes Verhaltens aufgegeben. Die entbetteten Individuen regredieren und sind besonders anfällig für den Populismus, der – wie wir gesagt haben – Verbindungen bekämpft.
Regression ist also ein Zurückfallen hinter ein für unhintergehbar beachtetes Niveau der Zivilisiertheit (Geiselberger 2017, S. 9). Darüber hinaus wird aber nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung selbst als regressiv eingestuft, sondern auch der soziologische Diskurs, die Debatte um die Zustände der gegenwärtigen Gesellschaft falle zurück hinter einen Stand, der schon einmal erreicht war. Der Begriff erhält also eine doppelte Stoßrichtung, er lässt sich auf die soziale Wirklichkeit, aber auch auf die Wissenschaft beziehen. Regressiv wird in letzter Instanz auch das Denken der Wissenschaftler.
Besonders einschlägig, um zeitgenössische soziale Entwicklungen gut zu erfassen, ist der Begriff der regressiven Modernisierung (Nachtwey 2016, S. 74 ff.). Er ist paradox, er soll es auch sein, weil er die internen Widersprüche und gegenläufigen Entwicklungen in den Gesellschaften der Gegenwart betont. Auf der einen Seite bringt Modernisierung Fortschritt und Emanzipation mit sich, etwa indem die Diskriminierung einzelner Gruppen aufgelöst und aufgefangen wird. Auf der anderen Seite aber wird sie als regressiv bezeichnet, und dies meint, dass die Gesellschaft hinter das in der sozialen Moderne erreichte Niveau zurückfällt. Ein Beispiel ist der Zugang zur Bildung, er hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv ausgeweitet, viel breitere Bevölkerungsgruppen können studieren. Diese Ausweitung aber entwertet zugleich den Hochschulabschluss, mit dem eine vormals garantierte, sichere Anstellung keineswegs mehr verbunden ist. Fortschritte und Rückschritte sind als im selben Prozess verzahnt, ja, sie sind nicht voneinander zu trennen. Ein viel prägnanteres Beispiel aber ist die Globalisierung: Durch sie wurden viele politische und kulturelle Räume allererst geöffnet. Zugleich aber führt sie durch die mit ihr immer weiter vorangetriebene neoliberale Konkurrenz dazu, dass sozialstaatliche Sicherungen abgebaut und soziale Rechte der Beschäftigten weltweit eingeschränkt werden (Amlinger und Nachtwey 2022, S. 96).
Die Paradoxie ist aber nicht einfach gleichzusetzen mit einem unglückseligen Zusammentreffen zweier widersprüchlicher Tendenzen. Nein, die Paradoxie muss prägnanter gefasst werden; sie kennzeichnet den Selbstwiderspruch, der sich in den Fortschritt einnistet und von ihm nicht zu trennen ist. Modernität erzeugt das, was ihr entgegensteht. In ihrer berühmten Schrift Dialektik der Aufklärung schreiben Horkheimer und Adorno:
„Demgegenüber involviert Anpassung an die Macht des Fortschritts, den Fortschritt der Macht, jedes Mal aufs Neue jene Rückbildungen, die nicht den misslungenen, sondern gerade den gelungenen Fortschritt seines eigenen Gegenteils überführen. Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression.“ (Horkheimer und Adorno 1968 [1947], S. 50)
Regression wird hier – wie die Sozialphilosophin Jaeggi (2023) betont – nicht bloß als Rückfall verstanden. Von Rückfall würden wir reden, wenn ein Fortschritt etwa durch Gegenbewegungen aufgehalten und deshalb nicht gut unterstützt wird et cetera. Wir benutzen das Wort Rückfall medizinisch in der Suchtentwöhnung. Deren Ziel ist dort sehr klar definiert, es geht darum, abstinent leben zu können und von der Droge und dem Alkohol frei zu werden und über sie zu verfügen, statt von ihnen beherrscht zu werden. Wenn das nicht klappt, weil der Suchtdruck übermäßig ist, steht der Fortschritt nicht selbst infrage; das Ziel verändert sich nicht, aber es ist nicht so einfach zu erreichen, wie vielleicht ursprünglich gehofft. Nach Adorno und Horkheimer ist gesellschaftliche Regression aber nicht einfach ein Hindernis im Fortschritt, sondern sie ist dem Fortschritt inhärent, sie wird von ihm selbst erzeugt. Das gilt, um im Beispiel zu bleiben, für – mittlerweile weitgehend verlassene – Modelle der Suchtbehandlung, die im unbedingten Ziel, das Suchtmittel zu eliminieren, die Persönlichkeit diesem Ziel unterworfen haben. Mit dem Fortschritt wurde die bedingungslose Abhängigkeit von den Organisationen, die sich Abstinenz zu ihrem Glaubenssatz gemacht haben, oder von anderen Menschen erzeugt, sodass der Fortschritt der Abstinenz mit einer Regression der Persönlichkeit, einer Unterwerfung unter die Glaubenslehre sektenartiger Institutionen erkauft worden ist. Eine vergleichbare dem Fortschrittskonzept inhärente Regression ist eine Gefahr spätkapitalistischer Gesellschaften.
„Das Rad wird nicht zurückgedreht, sondern es bewegt sich vorwärts, aber eben vorwärts im Modus einer fehlgeleiteten Krisenbearbeitung. Hier zeigt sich auch noch einmal der wichtige Unterschied zwischen Regression und Rückfall. Rückfälle gibt es immer. Bestimmte Dinge oder Institutionen, die wir für fortschrittlich halten mögen, können zurückgedreht, abgeschafft oder grob verletzt werden. Das ist aber als solches noch keine Regression. Regressionsprozesse sind Prozesse, die in irgendeiner Art und Weise im Geschehen und der Formation selber schon angelegt sind“ (Jaeggi 2022).

Regression in der Psychoanalyse und der Populismus

Wurde bislang die eine Seite der Medaille untersucht, nämlich die regressiven gesellschaftlichen Tendenzen, die dem Populismus Vorschub leisten, so soll nun die Regression, die der Populismus selbst erzeugt bzw. befriedigt, betrachtet werden. An dieser Stelle lohnt es, den in der Psychoanalyse gebräuchlichen Regressionsbegriff beizuziehen.
In der Psychoanalyse bezieht sich Regression zunächst auf die individuelle Psychodynamik, also auf das Seelenleben des Einzelnen, während in der Soziologie kollektive Entwicklungen angesprochen sind. Allerdings haben, wie bereits kurz erwähnt, auch psychoanalytische Autoren Regression auf die Massenpsychologie, wie es im Vokabular der Sozialpsychologie in ihren Anfängen hieß, bezogen, vor allem Sigmund Freud selbst, aber auch der aus verschiedenen Gründen kontrovers rezipierte Wilhelm Reich.
Weil die Psychoanalyse aber die Psychodynamik herausarbeitet, kann Regression nicht allein, wie wir dies bislang bei den soziologischen und sozialphilosophischen Ansätzen gehört haben, pejorativ als Verlust, als Entdifferenzierung, als Schwäche verstanden werden. Vielmehr gilt es, die Dynamik zu verstehen, bzw. auch die affektiven oder wunschbestimmten Motivationen, die zur Regression führen. Dem Populismus kann man aber nur wirksam begegnen, wenn die mit ihm verbundenen Gratifikationen, Lustaspekte, gleichsam seine positiven und verführerischen Seiten verstanden werden. Ich vertrete dabei die These, dass das gleiche Wort, in verschiedenen Zusammenhängen verwendet, nicht bloß eine Analogie beschreibt, sondern dass es eine Ergänzungsreihe zwischen individuellen und kollektiven Tendenzen und Dynamiken gibt, sodass die eine ohne die andere nicht verstanden werden kann. Zugespitzt formuliert: keine Soziologie ohne Psychodynamik, keine Psychodynamik ohne Soziologie.
Regression ist, psychoanalytisch gesehen, Befriedigung, allerdings eine Rückkehr zu Befriedigungsformen, die als überwunden angesehen worden waren.
„Die Psychoanalyse, welche die Tiefen des Seelenlebens durchleuchtet, hat es nicht schwer, aufzuweisen, daß auch die sexuellen Bindungen der ersten Kinderjahre noch fortbestehen, aber verdrängt und unbewußt. … Um es noch schärfer zu fassen: Es steht fest, daß sie [scilicet die ‚vorgängige sexuelle Vollströmung‘] als Form und Möglichkeit noch vorhanden ist und jederzeit wieder durch Regression besetzt, aktiviert werden kann“ (Freud 1921, S. 155).
Worin befriedigt der Populismus die, die ihm anhängen oder erliegen? Was kann er an unter Umständen unbewusst bleibenden Gratifikationen bieten?
Entscheidend, darauf hat Freud schon hingewiesen, ist die Identifikation. Identifizierung, so führt er aus, ist die früheste Form einer Gefühlsbindung an eine andere Person. „Sie strebt danach, das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere, zum Vorbild genommene“ (Freud 1921, S. 68). Sie wirkt in der Gruppe oder dem vom Populismus bestimmten Volk in zwei Richtungen.

Die Identifikation mit einer Führungspersönlichkeit

Was wir bei Politikern (mehr als bei Politikerinnen) als Charisma bezeichnen, hat wohl damit zu tun, dass sie sich für eine Identifikation anbieten. Ihnen als den Vorbildern, den Ichidealen, nachzueifern, ihnen gleich zu sein wie dem „Vater der persönlichen Vorzeit“, gilt eine regressive Strebung.
Es ist schwer, im eigenen Leben immer einem selbstgesetzten Anspruch, einer persönlichen Zielvorstellung nachzugehen und nachzueifern. Das gilt vielleicht besonders in unserer Gegenwart, die von Idealvorstellungen, zum Beispiel der Selbstoptimierung, geradezu überschwemmt ist (Charim 2023). In der Gestalt des Führers ist das Ideal erreicht, es muss nicht mehr erstrebt werden – und die Identifikation ermöglicht es, an dieser Erfüllung des Ideals teilzunehmen. „Wir haben dies Wunder so verstanden, daß der Einzelne sein Ichideal aufgibt und es gegen das im Führer verkörperte Massenideal vertauscht“ (Freud 1921, S. 144), so lautet die enorm hellsichtige Formel Freuds, die er vor mehr als 100 Jahren zu den Dynamiken und den Charakteristika der Führerpersönlichkeit gewählt hat.
Was aber zeichnet die charismatische Persönlichkeit aus? Warum bietet sie sich der Bewunderung an? Weil sie so vollkommen ist? Im Gegenteil, könnte man sagen – das oben angeführte Zitat geht unmittelbar darauf so weiter: „Der einzelne gibt sein Ichideal auf und vertauscht es gegen das im Führer verkörperte Massenideal. Der Führer muss nur die typischen Eigenschaften dieser Individuen in besonders scharfer und reiner Ausprägung besitzen und den Eindruck größerer Kraft und der Bedienung der Freiheit machen.“ Reich (2020 [1933]) hat diesen Gesichtspunkt betont: Der Führer, für den Autor eines 1933 verfassten Werks ist dies Adolf Hitler, ist deshalb so attraktiv, weil er ein Kleinbürger oder ein Angehöriger der Mittelschicht ist. Bei Donald Trump sind es zwar nicht die ärmlichen Verhältnisse, aber doch andere, im übertragenen Sinne „ärmliche“ Eigenschaften. Er ist nachgewiesenermaßen ein notorischer Lügner – die Washington Post und die New York Times haben darüber akribisch Buch geführt und die täglichen Lügen öffentlich festgehalten2 –, handelt kriminell, ist offen misogyn et cetera. Solch eklatante Korruptheit aber ist keineswegs eine für den politischen Erfolg des Populisten hinderliche Eigenschaft. Viele Menschen, viele Männer insbesondere, erkennen ihre verborgenen schwachen, aggressiven und ungerechten Seiten in ihm wieder, er wertet sie auf, befreit sie von Schuld- und Schamgefühlen, denn er trägt sie mit einer Arroganz und Schamlosigkeit sondergleichen zur Schau. Trump wird also nicht trotz seiner unerträglichen Persönlichkeit, sondern wegen ihr gewählt – und er ist intelligent genug, das zu wissen. Deshalb kann ihm, deshalb kann Netanjahu oder Putin ein Gerichtsverfahren nichts anhaben; im Gegenteil.

Identifikation mit den Anderen

In einer Gesellschaft, die auf die freie Entfaltung des Homo oeconomicus (Sennett 1998) oder auf eine narzisstische Selbstverwirklichung ausgerichtet ist, hat Solidarität wenig Platz. Aber natürlich wird sie vermisst. Es ist doch viel schöner, mit anderen in einem Boot zu sitzen, keine Differenzen spüren zu müssen, die gleichen Ziele zu haben. Die in der Regression wirksame wechselseitige Identifizierung der Teilnehmer an Massenbewegungen, so betont Freud (1921), sei selbst Abwehr, nämlich gegen Neid und Aggression. Darin ist sie besonders hilfreich. Gegensätze, Konkurrenz, Antagonismen verschwinden, stattdessen gehören alle zusammen, gehen gemeinsam auf die Straße, stürmen auf das Capitol.
Es gibt zwei Kehrseiten dieses Drangs zur Identifikation mit anderen.

Das Bestehen auf Konsens

Eco (1995), der als Linguist und Sprachforscher und als Romanautor aus ganz anderen Zusammenhängen bekannt ist, hat betont, dass der Populismus, den er „Ur-Faschismus“ nennt, die natürliche Furcht vor der Differenz, dem Anderen ausnutzt und auf Konsens besteht. Im Faschismus steigert sich diese Haltung dahingehend, dass Abweichung als Verrat angesehen wird. Leider ist uns dieser Gedanken gegenwärtig keineswegs fremd, sondern offensichtlich, wenn in Russland kritische Journalisten inhaftiert und in Saudi-Arabien geköpft und gevierteilt werden, wie es Jamal Khashoggi ergangen ist.

Die Kreation von Feindbildern

Die Mechanismen der Projektion sind bekannt, auf sie wird deshalb an dieser Stelle nicht eingegangen. Stattdessen sollen Beispiele projektive Abwehr in der Gesellschaft verdeutlichen, und leider müssen wir nicht weit gehen, um sie zu finden. In der Silvesternacht 2022/2023 haben vor allem in Berlin-Neukölln üble Angriffe gegen Feuerwehr und Polizei Empörung ausgelöst. Auch wenn offensichtlich Menschen mit außereuropäischen Wurzeln, auch Asylanten dabei eine Rolle gespielt haben, so ist doch bemerkenswert, dass die kollektive Empörung kaum darauf eingegangen ist, dass Gewalt und Aggressivität bei Massenveranstaltungen nicht mit den Flüchtlingen ins Land eingekehrt sind – deutsche Männer unterscheiden sich in dieser Bereitschaft, unübersichtliche und entgrenzte kollektive Ereignisse auszunutzen, nicht von ausländischen. Die deutschen Täter aber werden medial entlastet, wenn die sogenannten Ausländer (die oftmals längst Deutsche sind) bezichtigt werden.
Das Gefühl, dass die Ausländer „uns“, den Einheimischen, etwas wegnehmen, die Arbeitsplätze, die Rentenversorgung, Haus und Hof, ist verbunden mit einem zweiten, nämlich dass sie mehr erhalten als „wir“, die Einheimischen, dass „wir“ leer ausgehen, sie dagegen in Fülle und Luxus leben können. Wie viel „wir“ erhalten, weil dringend benötigte Fachkräfte zu „uns“ kommen, das wird aus der Erkenntnis verbannt.
Sexuelle Grandiositätsfantasien, die verleugnet werden, werden besonders gern auf Angehörige anderer Kulturen projiziert und dienen dazu, dass beispielsweise die jungen Männer aus Afghanistan viel schlechter behandelt werden als die Frauen aus der Ukraine. Das führt dazu – so zeigt eine Studie zur Fremdenfeindlichkeit gegenüber den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, „dass eine sexuelle Dämonisierung des ‚fremden Mannes‘ als ein Argument gegen die Aufnahme von Flüchtlingen fungiert und als wirkmächtiger Faktor im Zusammenhang mit der Legitimation von Gewalttaten gesehen werden muss“ (Christmann 2016, S. 4).
Populismus antwortet, so lässt sich dieser Abschnitt zusammenfassen, auf gesellschaftliche Regression, indem er ein regressives Schema anbietet. Für den Einzelnen ebenso wie für die Gruppe kann es entlastend, befriedigend, verführerisch sein, wenn sich die Selbst- und Fremdsicht vereinfacht, das Leben dadurch wieder einfach wird, der politische Führer als starker Beschützer und Sachwalter erscheint sowie der in einer populistischen Bewegung mit mir vereinte Nächste mit mir ganz einig ist und ganz und gar auf meiner Seite steht. Wenn es mir dann gelingt, das kritische Bewusstsein und noch dazu meine Empathie, meine Achtung vor dem anderen stillzustellen, dann muss mir nicht mehr auffallen, wie sehr ich die Verbindungen zu anderen angreife, wie sehr ich andere Gruppen ausgrenze, wie ungerecht ich werden kann.

Schluss

Regressive Angriffe auf Verbindungen – unter dieser Perspektive wurde in dieser Arbeit der Populismus untersucht. Angriffe richten sich gegen die vernünftige Deliberation, das verantwortungsvolle demokratische Gespräch. Sie antworten auf gesellschaftliche Regression, verstärken aber ihrerseits regressive Prozesse. So entsteht eine regressive Schleife, ein verhängnis- und gefahrvoller Circulus vitiosus. Als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind wir Expertinnen und Experten der Unvernunft, die im individuellen Seelenleben Verbindungen gefährdet oder sogar zerstört. Wir können unsere Fähigkeiten zu verbinden, die wir in unseren Praxen erworben haben und dort täglich erproben, auch gesellschaftlich nutzen, indem wir die Gewalt kritisieren, die mit den Angriffen auf Verbindungen einhergeht, indem wir die Verführungskraft der Regression anerkennen und benennen, und indem wir die Sprache, die wir täglich in unseren Praxen benutzen, und das Gespräch hüten und auch öffentlich lebendig werden lassen.
Am Ende soll die kleine Fabel stehen, die Toni Morrison in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises 19933 vorgetragen hat und die sich dem Schutz der Sprache widmet, die in Gestalt eines kleinen Vogels vorgestellt wird, und es ist nicht verkehrt, im kleinen Vogel das gemeinsame, das demokratische Gespräch zu sehen.
„Es war einmal eine alte Frau. Sie war blind. Weise. Eines Tages wird die Frau von einigen jungen Leuten, die ihre Hellsichtigkeit widerlegen und sie als Betrügerin entlarven wollen, besucht. Ihr Plan ist einfach: Sie dringen in ihr Haus ein und stellen ihr die eine Frage, deren Antwort einzig und allein von ihrem Unterschied zu ihnen abhängt, einem Unterschied, den sie für eine schwere Behinderung halten: ihre Blindheit. Sie stehen vor ihr, und einer von ihnen sagt: ‚Alte Frau, ich halte einen Vogel in meiner Hand. Sag mir, ob er lebt oder tot ist.‘
Sie antwortet nicht, und die Frage wird wiederholt. ‚Ist der Vogel, den ich in der Hand halte, lebendig oder tot?‘ Immer noch antwortet sie nicht. Sie ist blind und kann ihre Besucher nicht sehen, geschweige denn, was sie in ihren Händen halten. Sie kennt weder ihre Hautfarbe noch ihr Geschlecht oder ihre Heimat. Sie kennt nur ihr Motiv. Das Schweigen der alten Frau dauert so lange, dass die jungen Leute sich das Lachen nicht verkneifen können. Schließlich spricht sie, und ihre Stimme ist sanft, aber streng. ‚Ich weiß es nicht‘, sagt sie. ‚Ich weiß nicht, ob der Vogel, den du in der Hand hältst, tot oder lebendig ist, aber was ich weiß, ist, dass er in deinen Händen ist. Er ist in deinen Händen.‘ Ihre Antwort kann so verstanden werden: Wenn er tot ist, habt ihr ihn entweder so gefunden oder ihn getötet. Wenn er lebendig ist, könnt ihr ihn immer noch töten. Ob er am Leben bleiben soll, ist Eure Entscheidung. Wie auch immer, es ist ihre Verantwortung.“

Interessenkonflikt

J. Küchenhoff gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Metadaten
Titel
„Angriffe auf Verbindungen“ – zur Sozialpsychologie des Populismus
verfasst von
Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff
Publikationsdatum
29.06.2023
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Psychoanalyse
Erschienen in
Forum der Psychoanalyse / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 0178-7667
Elektronische ISSN: 1437-0751
DOI
https://doi.org/10.1007/s00451-023-00514-y

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