Einführung
In den letzten 10 Jahren ist das Thema Antibiotic Stewardship (ABS) auch in der ambulanten Kinder- und Jugendmedizin immer stärker in den Vordergrund gerückt [
1‐
3], insbesondere, weil ein nichtleitlinienkonformer Einsatz von Antibiotika zunehmend kritisch betrachtet wird [
4] und das Verordnungsverhalten der niedergelassenen Ärzte
1 aufgrund des großen Verordnungsvolumens einen Selektionsdruck auf multiresistente Erreger ausübt [
5,
6]. Der Fachbereich V Epidemiologie und Versorgungsatlas des Zentralinstituts (Zi) für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahren wiederholt bundesweite und krankenkassenübergreifende Antibiotikaverordnungsdaten nach § 300 SGB V publiziert, in denen auch Ergebnisse von 0‑ bis 14-Jährigen enthalten sind [
7‐
9]. In der hier vorgelegten Analyse wurden diese Daten um Ergebnisse aus detaillierten Analysen zur altersgruppenspezifischen Verteilung von Wirkstoffgruppen sowie altersgruppen- und wirkstoffgruppenspezifischen regionalen Entwicklungen in der ambulanten pädiatrischen Versorgung bis einschließlich des Jahres 2019 erweitert.
Diskussion und Fazit
Die hier vorgestellten Verordnungsraten zeigen aus der Perspektive des Antibiotic Stewardship (ABS) in der ambulanten Kinder- und Jugendmedizin grundsätzlich einen sehr positiven Trend, weil sie von 2010–2019 durchgängig und stark abnehmen. Dies ist eine Folge der zunehmenden Bedeutung des Themas rationale Anwendung von Antibiotika, dem sich Fachgesellschaften [
1] und der Berufsverband der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) [
13], aber auch regionale Qualitätszirkel [
2,
3] in den letzten 20 Jahren intensiv zuwenden. In den vergangenen 10 Jahren sind diese Bemühungen von einem gar nicht hoch genug anzuerkennenden Erfolg gekrönt, den es in diesem Ausmaß in anderen Facharztgruppen nicht gegeben hat.
Um diesen quantitativen Trend nachhaltig zu unterstützen und qualitative Aspekte der Antibiotikatherapie (Indikation, Auswahl des am besten geeigneten Antibiotikums und Dauer der Behandlung) stärker in den Fokus zu rücken, hat die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie 2019 gemeinsam mit dem BVKJ eine eigene Arbeitsgemeinschaft ABS ambulante Pädiatrie (ABSaP, abs-ambulante-paediatrie@dgpi.de) gegründet.
Was den Anteil der Oralcephalosporine an allen Antibiotikaverordnungen angeht, fällt auf, dass er in allen Altersgruppen sowohl 2010 als auch 2019 verhältnismäßig hoch ist. Insbesondere betrifft dies die Cephalosporine der Cefuroximgruppe, nach ATC-Systematik
2: Cefaclor (mit Abstand höchster Anteil) und Cefuroxim. Beide Antibiotika sind in keiner der aktuellen Leitlinien Mittel der ersten Wahl [
1]. Alleine diese Beobachtung macht deutlich, dass es einen anhaltenden Bedarf an Fortbildung und nach wie vor Ansatzpunkte für Verbesserungen gibt. So bleibt es eine langfristige Herausforderung, bei Kinder- und Jugendmedizinern sowie bei allen anderen Facharztgruppen, die Antibiotika bei Kindern und Jugendlichen verordnen, auf eine kontinuierliche Bewusstseinsveränderung hinzuwirken, mit dem Ziel, Antibiotika leitlinienkonform zu verordnen. Möglicherweise ist der „gute Geschmack“ der Cefaclor-Saft-Präparation im Vergleich mit anderen Antibiotika ein ganz banaler weiterer Grund für die häufige Verordnung. Leider ist die Motivation der Hersteller, an diesem Punkt ihr schon lange generisch zugelassenes Produkt zu verbessern, sehr gering.
Übergeordnete Bestimmung von ABS ist es, die Patient*innen bestmöglich zu behandeln; dies beinhaltet u. a. die klare Formulierung von Therapiezielen und eine daran orientierte Indikationsstellung unter Wahrung der Abschätzung von Nutzen und Risiken. Konkret wird dies in den meisten Fällen eine zurückhaltende Verordnung von Antibiotika, die Verordnung von Antibiotika mit möglichst schmalem Wirkspektrum mit der kürzest möglichen Therapiedauer beinhalten [
4,
14]. Nicht medizinisch begründete Kontextfaktoren (unzureichende Kommunikation mit den Eltern über den zu erwartenden Nutzen und die unerwünschten Effekte einer Antibiotikatherapie, Verordnung „nur zur Sicherheit“, Verordnung, weil die Eltern ein Antibiotikum einfordern usw.) müssen berücksichtigt und minimiert werden [
4].
Die deutlichen regionalen Unterschiede im Verordnungsverhalten lassen sich nach vernunftbezogenem Ermessen innerhalb Deutschlands nicht plausibel durch Unterschiede im Erkrankungs- oder Patientenspektrum erklären [
7,
8]. Ansatzpunkte für Erklärungsversuche könnten sein, dass sich regionale „Schulen“ etabliert haben und sich Verordnungsverhalten von Ärzten gegenseitig beeinflusst, im Sinne einer positiven Rückkopplung „ansteckend“ ist und so über Erfahrungen und Erwartungen auf Arzt- wie auch Patientenseite zu regionalen „Verordnungskulturen“ führt. In einer aktuellen Studie aus den USA waren die Gesamtverordnungsrate und die Rate unangemessener Antibiotikaverordnungen höher in ländlichen Regionen [
15]. In einer deutschen Studie von 2010 [
16] erhielten 36 % aller Kinder unter 17 Jahren mindestens eine Antibiotikaverordnung mit einer regionalen Streuung von 19 bis 53 %; ein Teil dieser Variabilität konnte durch sozioökonomische regionale Unterschiede anhand des German Index of Multiple Deprivation (GIMD) erklärt werden, in den 7 verschiedene Kriterien einfließen [
17].
Das (Antibiotika‑)Verordnungsverhalten von Ärzt*innen wird von weit mehr Faktoren beeinflusst als der Kenntnis von krankheitsbezogenen Erregerspektren und Resistenzdaten. Antibiotika werden nicht zuletzt auf der Grundlage gut oder weniger gut gelingender Arzt-Patient-Kommunikation [
18] verordnet, aber auch aus irrationaler Sorge vor Komplikationen und möglichen medikolegalen Konsequenzen. Interventionen dürfen sich daher nicht allein auf die krankheitsbezogene Schulung von individuellen Ärzten oder Ärztegruppen beschränken. Notwendig im Hinblick auf Reichweite und Nachhaltigkeit sind zum einen Schulungen hinsichtlich der Arzt-Patient-Kommunikation, zum andern insbesondere aber regional verortete Maßnahmen. Hierzu gehören von den Kinder- und Jugendmedizinern eines KV-Bezirkes gemeinsam verabschiedete Leitlinien zu Diagnostik und Therapie der häufigsten ambulant behandelten Infektionen [
1,
2,
19] sowie die Etablierung lokaler fach- und sektorübergreifender ABS-Netzwerke; entsprechende Modelle existieren bereits [
www.antib.de]. Ergänzend wäre ein bundesweites, standardisiertes Rückmeldesystem über die Antibiotikaverordnungen in den einzelnen Praxen hilfreich, in dem z. B. der Anteil aller Patienten (Konsultationen) mit einer Antibiotikaverordnung und die Liste der 5 bis 10 am häufigsten verordneten Antibiotika übermittelt wird. Dies wird von einzelnen KV bereits praktiziert. Wenn in einer Praxis der Anteil aller Kinder mit einer Antibiotikaverordnung im Vergleich mit anderen Praxen der gleichen Region die 75. Perzentile überschreitet oder in der „Top-Ten“-Liste Cephalosporine und andere Antibiotika mit erweitertem Wirkspektrum überrepräsentiert sind, könnte von der zuständigen KV eine Einladung zu einem ABS-Gespräch ausgesprochen werden. Ergänzend wäre es sinnvoll, wenn jede Antibiotikaverordnung verbindlich in der Praxissoftware mit einer ICD10-Diagnose (Indikation für die Antibiotikatherapie) verknüpft werden müsste. Die vom Zi ausgewerteten Daten lassen aus datenschutzrechtlichen Gründen keinen Rückschluss auf das Verordnungsverhalten einzelner Praxen zu.
Solche Daten gibt es auf Praxisebene in Deutschland bisher deswegen leider nicht, weil aus datenschutzrechtlichen Gründen Verordnungsdaten und pseudonymisierte patientenbezogene Sozialdaten (mit ICD10-Codierungen des jeweiligen Quartals) strikt voneinander getrennt weitergeleitet und ausgewertet werden. So versucht das Projekt „Wann muss ich mir Sorgen machen“ [
20,
21], an dem seit 2015 17 kinder- und jugendmedizinische Praxen im Saarland teilnehmen, diese aus ABS-Perspektive sehr ungünstige Situation zu verändern. Wenn es möglich wird, der einzelnen Praxis detailliertere Informationen zurückzumelden [
22], bei welchen Indikationen welche Antibiotika verordnet wurden, kann dies einen sehr nachhaltigen Effekt auf das Verordnungsverhalten haben [
23‐
25]. Begleitet werden sollte dies von Fortbildungsformaten der Fachgesellschaften, die neben inhaltlicher Wissensvermittlung regionale Besonderheiten und nichtwissensbezogene Einflussfaktoren berücksichtigen. Das Format „Kinderärztlicher Nachmittag der DGPI“ greift diese Themen unabhängig von einem Sponsoring durch Arzneimittelhersteller auf.
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