Diskussion
Die Diagnose „Schütteltrauma“ hat erhebliche Konsequenzen für das betroffene Kind und die ganze Familie. Die Abgrenzung eines NAHI zu anderen Erkrankungen, die mit retinalen Blutungen einhergehen, ist hierbei nicht immer eindeutig [
4]. Während dem Schutz eines potenziell gefährdeten Kindes eine immanente Bedeutung zukommt, sollte gleichzeitig eine falsche Verdächtigung und Stigmatisierung der Eltern vermieden werden [
8]. Daher sollte immer eine sorgfältige Diagnostik unter Beachtung anderer möglicher Ursachen der Netzhautblutungen erfolgen [
8]. Bei Neugeborenen finden sich recht häufig retinale Blutungen sowohl nach Spontangeburt als auch nach Sectio. Diese Hämorrhagien können in ihrem Aussehen den Blutungen bei NAHI durchaus ähnlich sein, sodass es für den Ophthalmologen insbesondere in den ersten 4 bis 6 Wochen nach der Geburt nicht möglich ist, zwischen dem Geburtstrauma und einem NAHI zu unterscheiden [
8]. Neben dem Geburtstrauma selbst kommen bei Neugeborenen und Säuglingen Erkrankungen des blutbildenden Systems (Anämien, Leukämien), Gerinnungsstörungen (Vitamin-K-Mangel), angeborene Stoffwechselstörungen (Glutarazidurie Typ I) oder auch entzündliche Erkrankungen wie Endokarditis, Vaskulitis und Meningitis als Ursache infrage [
7].
Ein Schütteltrauma, auch „shaken baby syndrome“ (SBS) genannt, ist charakterisiert durch das Vorliegen einer Trias aus schwerer diffuser traumatischer Hirnschädigung mit akuter Enzephalopathie, subduralen Hämatomen und meist beidseitigen retinalen Blutungen [
6,
10]. Am häufigsten sind Kinder im ersten Lebensjahr betroffen, wobei das Risiko für ein NAHI mit 30/100.000 angegeben wird [
3]. Die klinischen Befunde sind in ihrer Ausprägung variabel und reichen von Trinkschwäche, Erbrechen und Schläfrigkeit bis hin zu schwerer Bewusstseinsstörung mit Krampfanfällen, Bradykardie und Apnoe des Kindes [
1]. Äußerlich zeigen sich meist keine Verletzungen, jedoch finden sich gelegentlich Griffmarken an den Extremitäten oder begleitende Knochen- oder Rippenbrüche [
1,
6]. Weiterhin bestehen häufig, wie in unserem Bericht, eine sehr vage Anamnese zum auslösenden Ereignis sowie eine auffällige Sozialstruktur [
1]. Die genaue Sozialanamnese (Alter der Eltern, Beruf, soziales Umfeld) konnte retrospektiv in unseren Fällen leider nicht erhoben werden. Als typische Risikofaktoren, die zum SBS führen können, gelten junges Alter der Eltern, niedriger sozioökonomischer Status, Drogen- und Alkoholabusus sowie eine niedrige Frustrationsschwelle und schlechte Impulskontrolle der Eltern [
6].
Ätiologisch wird davon ausgegangen, dass es beim Säugling durch repetitive Be- und Entschleunigungen des Kopfes bei gleichzeitig noch schwacher Nackenmuskulatur zum Einreißen der Brückenvenen mit konsekutiver Ausbildung von Subduralhämatomen kommt [
7]. Die Enzephalopathie mit Parenchymschädigung des Gehirns entsteht durch den hypoxischen Gefäßschaden und eine traumatische axonale Schädigung [
7]. Die retinalen Blutungen sind am ehesten durch Scherkräfte im Bereich des vitreoretinalen Übergangs hervorgerufen, die einerseits eine direkte Gefäßverletzung oder andererseits eine gestörte vaskuläre Autoregulation induzieren [
7].
Neben der pädiatrischen körperlichen Untersuchung werden in der Regel eine zerebrale Bildgebung (im Akutfall CT, sonst MRT sowie Schädelsonographie), ein Röntgenskelettscreening, eine Abdomensonographie und umfassende Laboruntersuchungen veranlasst [
1]. Der Ophthalmologe wird in der Regel konsiliarisch für die Untersuchung des Augenhintergrundes hinzugezogen. Die Häufigkeit von Netzhautblutungen bei NAHI schwankt je nach Literatur und liegt bei ca. 30–85 % [
5]. Die Übersichtsarbeit von Maguire et al. fand eine Häufigkeit retinaler Hämorrhagien von 81 %, wobei die Blutungen in 84 % bilateral auftraten [
5]. Wie in den oben dargestellten Fällen (vgl. Abb.
1b und
2a), finden sich bei NAHI häufig zahlreiche Netzhauthämorrhagien in verschiedenen Schichten der Netzhaut verteilt über den gesamten Fundus [
7]. Die Blutungen können präretinal, intra- und subretinal lokalisiert sein [
3]. Teilweise findet sich wie bei anderen Netzhautblutungen eine zentrale Aufhellung [
8]. An Stellen vermehrter Glaskörperadhäsion (Makula, Gefäße, periphere Retina) finden sich die Hämorrhagien gehäuft [
8].
Da sich die retinalen Blutungen, wie auch in den von uns beschriebenen Fällen, häufig sehr schnell resorbieren (innerhalb weniger Tage bis 2 Wochen), sollte eine rasche augenärztliche Untersuchung, wenn möglich innerhalb der ersten 24 Stunden, erfolgen [
3]. Da es auch nach der Hospitalisierung des Kindes zum Auftreten neuer Blutungen kommen kann, sollten im Verlauf weitere ophthalmologische Kontrollen erfolgen [
8]. Neben den Netzhautblutungen werden eine makuläre Retinoschisis oder paramakuläre Netzhautfalten als weitere typische klinische Befunde bei NAHI beschrieben [
7]. Prinzipiell können auch Unfälle, z. B. Stürze, zu retinalen Blutungen führen. Der Anteil von Kindern mit Netzhautblutungen nach schweren Schädel-Hirn-Traumata ist jedoch mit 3–5 % sehr gering [
3,
6]. Gleichzeitig ist die Anamnese bei unfallbedingtem Schädel-Hirn-Trauma oft eindeutig und mit den vorhandenen Begleitverletzungen vereinbar [
3]. Paramakuläre Netzhautfalten bei Kleinkindern wurden bisher nur vereinzelt nach tödlichen Verkehrsunfällen oder Sturz aus sehr großer Höhe beschrieben [
3,
8]. Während die Netzhautblutungen und die makuläre Schisis meist zu keiner bleibenden Visusbeeinträchtigung führen, wird die visuelle Entwicklung des Kindes zusätzlich durch die Enzephalopathie und neurologische Auffälligkeiten beeinflusst [
8]. Zudem kann eine okulär bedingte Visusminderung durch ein Durchbrechen der Blutung in den Glaskörperraum sowie durch eine Traktionsablatio oder Optikusatrophie hervorgerufen werden [
2,
8]. Daher sollten eine augenärztliche Anbindung und regelmäßige Vorsorgeuntersuchung erfolgen, wobei insbesondere bei asymmetrischem Befund das Risiko einer Amblyopie beachtet werden sollte [
8].
Obwohl die Bilateralität der retinalen Blutungen in der Literatur häufig als typisches Merkmal angeführt wird [
3], gibt es wie in den von uns beobachteten Fällen mittlerweile mehrfach Berichte zu nachgewiesenem NAHI mit streng einseitigem Netzhautbefund [
4,
9]. Je nach Quelle liegt die Häufigkeit einseitiger Netzhautblutungen bei NAHI bei 16–26 % [
4,
5]. Gleichzeitig wird in der Literatur ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Netzhautbefundes und der Schwere des Traumas beschrieben [
6]. In unseren Fällen fand sich jeweils ein asymmetrischer ophthalmologischer Befund. Das einseitige Auftreten der Netzhautblutungen könnte mutmaßlich mit einer asymmetrisch erfolgten äußeren Krafteinwirkung auf das Kind zusammenhängen. Hierfür sprechen auch die pädiatrischen klinischen Befunde (Fall 1: Netzhautblutungen links, periorbitale Petechien links > rechts, Subduralhämatom links; Fall 2: Netzhautblutungen rechts, Hämatom der rechten Flanke). Unsere Fallserie soll verdeutlichen, dass die Einseitigkeit des ophthalmologischen Befundes ein NAHI nicht ausschließt. Die Befunderhebung sollte in Verdachtsfällen immer interdisziplinär durch Kooperation von Ophthalmologie, Pädiatrie und Rechtsmedizin erfolgen.
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