Einleitung
Sprunggelenk- und Fußverletzungen gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern in der Traumatologie. Mehr als jede 10. Fraktur des Menschen entfällt auf diese anatomische Region. In den gegenwärtig publizierten internationalen epidemiologischen Studien zeigt sich eine steigende Inzidenz (neuaufgetretene Fälle in einer Population innerhalb einer bestimmten Zeit) dieser Verletzungen, mit einem zu verzeichnenden Anstieg von instabilen Frakturen in der Altersgruppe über 65 Jahren [
13,
36]. Für Deutschland existieren aktuell keine derartigen Daten.
Aufgrund der enormen Herausforderungen für die Versorgungsrealität, die mit einem derartigen Wandel einhergeht, haben wir daher in einer retrospektiven Datenanalyse die demografischen Veränderungen, das zeitliche Auftreten sowie die Entwicklung des Auftretens von Fuß- und Sprunggelenkverletzungen über einem Zeitraum von 8 Jahren analysiert.
Hintergrund und Fragestellung
Verletzungen des Sprunggelenks und des Fußes gehören zu den häufigsten traumatologischen Krankheitsbildern und sind ursächlich für jede 3. Vorstellung in einer chirurgischen Notaufnahme weltweit [
4,
8].
Bezogen auf das Sprunggelenk zeigen sich sowohl für ligamentäre Verletzungen als auch Frakturen steigende Inzidenzen [
5,
9,
13,
22]. Während Distorsionen mit ligamentären Verletzungen eher in der jungen Population beobachtet werden [
30,
38], variiert das Auftreten von Frakturen hinsichtlich der Altersverteilung mitunter deutlich [
13,
34]. In einer Arbeit von Elsoe et al. aus dem Jahr 2018 zeigte sich für Dänemark eine bimodale Altersverteilung der weiblichen Bevölkerung mit einem erneuten Anstieg der Inzidenz um das 70. Lebensjahr [
13]. Darüber hinaus konnte eine saisonale Häufigkeitsverteilung mit Inzidenzhöchstwerten in kalten Wintermonaten beobachten werden [
13].
Bezogen auf Verletzungen des Fußes zeigen sich in Untersuchungen aus Dänemark und den Niederlanden jährliche Inzidenzraten von 142–226/100.000 Einwohner. Während bei Männern höchste Inzidenzraten um das 20. Lebensjahr beobachtet werden konnten [
11,
28], zeigte sich in der weiblichen Bevölkerung analog zu den Sprunggelenkverletzungen eine bimodale Altersverteilung mit einem Anstieg der Inzidenz nach dem 50. Lebensjahr [
28].
Die vorhandenen epidemiologische Studien geben jedoch ein sehr inhomogenes Bild wieder, da gewisse Patientenkohorten bzw. Verletzungen nicht eingeschlossen wurden [
2,
7‐
9,
11,
12,
20,
27,
31,
32,
35,
39]. Zudem fehlen aktuelle Daten, da die zuletzt publizierten Studien lediglich einen Zeitraum bis ins Jahr 2014 abbilden [
2,
13].
Nach unserem Wissen gibt es bis dato keine Studie, welche die epidemiologischen und demografischen Entwicklungen von Fuß- und Sprunggelenkverletzungen in Deutschland untersucht hat.
Ziel dieser Untersuchung war es deshalb, das zeitliche Auftreten, die Entwicklung über die Jahre sowie die demografischen Daten der Patienten mit einer Fuß- und Sprunggelenkverletzung in Deutschland zu analysieren und in einem weiteren Schritt hieraus aktuelle Behandlungsempfehlungen abzuleiten.
Material und Methoden
Retrospektive Datenanalyse von Patienten, welche im Zeitraum von 2010 bis 2017 in der Notaufnahme des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München aufgrund einer Fuß- und/oder Sprunggelenkverletzung behandelt wurden.
Die Stadt München zählt mit einer Einwohnerzahl von ca. 1,5 Mio. als drittgrößte Stadt Deutschlands [
6]. Die Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie des Klinikums rechts der Isar ist eine von 4 Kliniken der Maximalversorgung in München, welche als überregionales TraumaZentrum DGU® zertifiziert ist. Sie stellt als eine von 10 Kliniken in München die Notfallversorgung für unfallchirurgische Patienten über 24h an 7 Tagen die Woche sicher [
10].
Die Datenauswertung erfolgte pseudonymisiert anhand der amtlichen Klassifikation für Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland (ICD-10-GM). Eine schriftliche Patienteneinwilligung war daher nach Artikel 27 (4) des Bayerischen Krankenhausgesetz nicht notwendig.
Patienten mit den folgenden ICD-10-Codes [
26] wurden in die Analyse eingeschlossen: S82.3–S82.9, S86.0, S92.–S92.9, S93.2–8, S93.4–S93.43 und S93.5–6. Es erfolgte eine Unterteilung in Sprunggelenkfrakturen (S82.), Fußfrakturen (S92.), ligamentäre Verletzungen des Sprunggelenks (S93.2, S93.4) und Achillessehnenrupturen (S86.0), Luxationen im Fußbereich (S93.3), Verstauchungen und Zerrungen des Fußes (S93.5–6). Die Sprunggelenkfrakturen wurden entsprechend den ICD-Codes in distale Tibia‑, Fibula- (proximal, Schaft), Innenknöchel‑, Außenknöchel‑, Bi- und Trimalleolarfrakturen subklassifiziert. Bei den Fußfrakturen erfolgte eine Unterteilung in Rückfuß- (Talus- und Kalkaneusfrakturen), Mittelfuß- (Fraktur eines oder mehrerer Fußwurzelknochen) und Vorfußfrakturen (Fraktur der Mittelfußknochen und Zehen). Zudem wurden für die Auswertung das Alter, das Geschlecht und das Behandlungsdatum analysiert.
Statistische Auswertung
Kontinuierliche Variablen wurden als Mittelwert und Standardabweichung angegeben. Mittels Quantil-Quantil-Diagramm wurden kontinuierliche Variablen auf Normalverteilung getestet
und, falls zutreffend, mittels t‑Test oder nichtparametrischem Mann-Whitney-U-Test auf Signifikanz überprüft. Bei kategorialen Variablen erfolgte die Angabe von Häufigkeiten bzw. Prozentangaben, und es wurden die „odds ratio“ und das 95 %-Konfidenzintervall berechnet. Die Analyse der Daten erfolgte mittels RStudio (RStudio Team 2020, RStudio: Integrated Development Environment for R. RStudio, PBC, Boston, MA, USA, URL
http://www.rstudio.com/).
Diskussion
In dieser Studie wurden erstmals über einen Zeitraum von 8 Jahren in einer Notaufnahme in Deutschland das zeitliche Auftreten, die Entwicklung über die Jahre sowie die demografischen Daten von 6851 Patienten mit einer Fuß- und/oder Sprunggelenkverletzung analysiert.
Es zeigt sich, trotz leichter Schwankungen, eine tendenziell zunehmende Anzahl an Sprunggelenkfrakturen in der von uns untersuchten Patientenklientel. Im Allgemeinen kann dieser Trend auch durch die internationalen Analysen der letzten Jahre bestätigt werden [
9,
13]. Diese Beobachtung lässt sich möglicherweise durch eine deutliche Zunahme von Sportverletzungen im jüngeren Patientenkollektiv und die demografische Entwicklung in den letzten Jahren erklären [
9,
33]. Bei den Sportverletzungen sind neue Sportarten hinzugekommen, welche ein besonderes Risiko für die untere Extremität darstellen, und jüngere Patienten zeigten eine tendenziell zunehmende körperliche Aktivität [
19,
33]. Im älteren Patientenkollektiv ist insbesondere bei Frauen ab dem 50. Lebensjahr eine steigende Prävalenz für Osteoporose und damit ein erhöhtes Frakturrisiko infolge eines inadäquaten Traumas zu beobachten [
16,
17].
Hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens einer Sprunggelenkfraktur ergab sich für Männer eine unimodale und für Frauen eine bimodale Altersverteilung. Ein ähnliches Verteilungsmuster konnte auch von Elsoe et al. 2018 in einer retrospektiven Analyse von 9767 Sprunggelenkfrakturen in Dänemark beobachtet werden [
13]. Bei den Fußfrakturen zeigte sich eine ähnliche Alters- und Geschlechtsverteilung wie beim Sprunggelenk, jedoch waren die Patienten mit durchschnittlich 39 Jahren etwas jünger. Dies konnte so auch in einer epidemiologischen Studie zu Frakturen in Dänemark und einer Analyse von 5912 Fußfrakturen beobachtet werden [
11,
28]. Diese Altersverteilung kann dadurch erklärt werden, dass Fuß- und Sprunggelenkfrakturen bei jüngeren Patienten am häufigsten aufgrund eines Sportunfalls auftreten und diese Verletzungen vornehmlich bei Männern zu beobachten sind [
13,
29,
33]. Insbesondere bei Sportarten wie Fußball, Basketball und Football kommt es häufig zu Sprunggelenkverletzungen [
38]. Die Tatsache, dass Menschen im Sommer körperlich aktiver sind, kann auch das gehäufte Auftreten von Fußfrakturen im Juli und August erklären [
24]. Rasmussen et al. haben diese saisonale Verteilung ebenfalls in einer Studie von 2020 in Dänemark beobachtet [
28]. Das vermehrte Auftreten von Fuß- und Sprunggelenkfrakturen bei Frauen ab dem 50. Lebensjahr kann der bis zu 4‑fach erhöhten Prävalenz einer Osteoporose bei Frauen im Vergleich zu Männern zugeschrieben werden [
17], zumal in diesem älteren Patientenkollektiv Niedrigenergietraumen die häufigste Ursache für eine Fuß- und Sprunggelenkfraktur sind [
13,
27,
28].
Frakturen des Fußes betrafen am häufigsten die Vorfußregion, gefolgt von Frakturen des Rück- und Mittelfußes. Eine vergleichbare Häufigkeitsverteilung auf die 3 unterschiedliche Fußbereiche konnten ebenfalls Shibuya et al. in den USA und Rasmussen et al. in Dänemark beobachten [
28,
31].
Bei den Sprunggelenkfrakturen waren Trimalleolarfrakturen nach Außenknöchelfrakturen die zweithäufigste Sprunggelenkfraktur, und insbesondere Frauen zwischen dem 65. und 74. Lebensjahr waren hiervon betroffen. Eben dieser Trend, dass insbesondere die Inzidenz von instabilen Sprunggelenkfrakturen bei Patientinnen über 60 Jahren angestiegen ist, konnte in Untersuchungen von Elsoe et al. in Dänemark und Thur et al. in Schweden beobachtet werden [
13,
36]. Eine Eingruppierung der Trimalleolarfrakturen in den Bereich der Fragilitätsfrakturen wird nicht zuletzt aufgrund dieser Beobachtung von einer Reihe von Autoren gefordert [
3,
9,
13]. Entsprechend der Definition der Weltgesundheitsorganisation sind Fragilitätsfrakturen die Folge eines inadäquaten Traumas, wie z. B. einem Sturz aus dem Stand oder aus geringer Höhe [
16,
25]. Diese beschriebenen Verletzungsmuster sind gerade bei älteren Patienten ursächlich für die instabilen Sprunggelenkfrakturen und unterstützen damit die These, dass Bi- und Trimalleolarfrakturen bei älteren Patienten zu den Fragilitätsfrakturen zu zählen sind [
13,
21,
36]. Dies würde bedeuten, dass das Behandlungsmanagement bei diesen Patienten multidisziplinär zwischen Unfallchirurgie,
Geriatrie, Ergo‑/Physiotherapie und Sozialdienst erfolgen sollte, um den speziellen Anforderungen geriatrischer Patienten gerecht zu werden. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass bei Patienten mit zunehmendem Alter sowie Vorhandensein von Nebenerkrankungen die Komplikationsrate und die Einjahresmortalität ansteigen [
15,
23]. Insbesondere Patienten älter als 65 Jahre haben eine erhöhte Komplikationsrate und benötigen häufiger eine poststationäre Pflegeeinrichtung [
1]. Sollte sich diese Entwicklung weiter fortsetzten, so muss darüber diskutiert werden, ob instabile Sprunggelenkfrakturen bei älteren Patienten ebenfalls in die Indikationsgruppen des Kriterienkatalogs AltersTraumaZentrum DGU® aufgenommen werden sollten [
37].
Ligamentäre Sprunggelenkverletzung traten im Untersuchungszeitraum häufiger auf als Frakturen des Sprunggelenks. Dies zeigte sich so auch in einer Untersuchung in den Niederlanden, welche eine bis zu 10-mal höhere Inzidenz von Sprunggelenkverstauchungen im Vergleich zu Sprunggelenkfrakturen feststellte [
13,
22]. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass in biomechanischen Untersuchungen gezeigt wurde, dass für eine Fraktur der Fibula im Vergleich zur Außenbandruptur eine etwa 10-mal so große Kraft wirken muss [
14,
18]. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Verstauchungen des Sprunggelenks insbesondere bei jüngeren Patienten auftreten und die körperliche Aktivität in den letzten Jahren bei dieser Patientenpopulation zugenommen hat [
19,
22]. In unserem Patientenkollektiv zeigte sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen eine unimodale Altersverteilung mit Häufigkeitsgipfeln in der Altersgruppe von 25 bis 34 Jahren. Diese Altersverteilung konnten auch Kemler et al. in den Niederlanden und Waterman et al. in den USA bei Patienten mit Sprunggelenkverstauchungen beobachten [
22,
38]. Die ligamentären Verletzungen des Sprunggelenks traten in unserer Untersuchung vermehrt in den Sommermonaten auf. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass Sprunggelenkverstauchungen oftmals die Folge eines Outdoor-Sportunfalls sind und Menschen im Sommer körperlich aktiver sind [
24,
33,
38].
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