Die Aufnahme von Störungen durch Verhaltenssüchte in die 11. Revision der International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11) durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt einen bedeutenden Meilenstein dar. Aktuell werden die Glücksspiel- und die Computerspielstörung sowie die Soziale-Netzwerke-Störung zusammen mit Substanzgebrauchsstörungen in der Kategorie „Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte“ klassifiziert, zwei weitere Störungsbilder werden diskutiert. Diese Zuordnung bildet eine wichtige Grundlage für die adäquate Versorgung von Betroffenen und ihren Angehörigen.
Taxonomie, Definitionen und Codes
Die 11. Überarbeitung des Diagnosesystems International Classification of Diseases (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization
2018) beinhaltet das Kapitel „Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte“ (englisch: „disorders due to substance use or addictive behaviours“), das in die beiden Unterkapitel „Störungen aufgrund von Substanzgebrauch“ (englisch: „disorders due to substance use“) und „Störungen aufgrund von Verhaltenssüchten“ (englisch: „disorders due to addictive behaviours“) unterteilt ist. Verhaltenssüchte werden als „erkennbare und klinisch bedeutsame Syndrome“ definiert, die „mit Leiden oder Beeinträchtigungen persönlicher Funktionen einhergehen und sich als Folge wiederholter belohnender Verhaltensweisen entwickeln, bei denen es sich nicht um den Konsum von abhängigkeitserzeugenden Substanzen handelt“ (World Health Organization
2018). Hierzu gehören die Glücksspielstörung (ICD-11-Code: 6C50, engl. „gambling disorder“) und die Computerspielstörung (ICD-11-Code: 6C51, engl. „gaming disorder“). Im Rahmen der ICD-11-Übersetzung werden aktuell sowohl der Begriff Computerspielsucht (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
2024) als auch Computerspielstörung (Rumpf et al.
2021) diskutiert. Aufgrund der Publikation von Rumpf et al. (
2021) wird in der vorliegenden Arbeit jedoch der Begriff Computerspielstörung, der näher am englischen Originalbegriff ist, verwendet. Beide Störungsbilder können sich sowohl auf Online- als auch Offline-Verhaltensweisen beziehen, was in der Kennzeichnung durch „.0“ oder „.1“ an der 5. Stelle im Code zum Ausdruck kommt. Während das pathologische Glücksspiel bereits in der ICD-10 unter den Impulskontrollstörungen aufgeführt war (ICD-10-Code: F63.0), stellt die Computerspielstörung eine neue Diagnose dar.
Die Glücksspielstörung und die Computerspielstörung gemäß ICD-11 sind durch 1) eingeschränkte Kontrolle über das Glücks- oder Computerspiel, 2) Priorisierung des Glücks- oder Computerspiels vor anderen Interessen und Lebensbereichen mit Vernachlässigung derselben und 3) Fortsetzung des Glücks- oder Computerspiels trotz negativer Konsequenzen charakterisiert. Die Diagnose erfordert das Vorliegen dieser 3 Kriterien sowie des übergeordneten Kriteriums des Leidensdrucks und/oder erheblicher psychosozialer Einschränkungen.
Während die Vernachlässigung anderer Lebensbereiche und das Fortsetzen trotz negativer Konsequenzen als Problemkriterien betrachtet werden können, weil sie signifikante Beeinträchtigungen in relevanten Lebensbereichen beschreiben, fungiert die eingeschränkte Kontrolle als Symptomkriterium, da sie alleinstehend nicht notwendigerweise mit einem Problem verbunden sein muss (Colder Carras und Kardefelt-Winther
2018). Aufgrund der obligatorischen 2 Problemkriterien in der ICD-11-Diagnose gilt sie als konservativ und führt in epidemiologischen Studien zu niedrigeren Prävalenzraten im Vergleich zur Forschungsdiagnose der Internet Gaming Disorder in der 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM‑5, American Psychiatric Association
2013). Letztere erfordert lediglich 5 aus insgesamt 9 Kriterien (darunter 5 Symptom- und 4 Problemkriterien) in beliebiger Kombination. Theoretisch besteht die Möglichkeit einer DSM-5-Diagnose ausschließlich auf Basis von Symptomkriterien, ohne dass ein Problemkriterium erfüllt ist. Die ICD-11 berücksichtigt in ihrem strengeren Ansatz den wissenschaftlichen Diskurs und die Besorgnis hinsichtlich einer möglichen Überpathologisierung, die im Vorfeld der Anerkennung dieser Diagnose durch die WHO kontrovers diskutiert wurde (Aarseth et al.
2017).
Für die Diagnose „Andere spezifizierte Störungen durch Verhaltenssüchte“ (ICD-11 Code: 6C5Y) wurden weitere Störungsbilder vorgeschlagen, darunter die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, die Kauf-Shopping-Störung und die Pornografie-Nutzungsstörung (Brand et al.
2020). Gegenwärtig sind die Kauf-Shopping-Störung und die Pornografie-Nutzungsstörung gemäß der ICD-11 jedoch dem Kapitel der Impulskontrollstörungen zugeordnet, obwohl die Symptomatik eine Eingliederung unter die Verhaltenssüchte ebenso rechtfertigen würde. Eine mögliche Umgruppierung wird erwartet, sobald die Forschung belegt, dass die zugrunde liegenden Prozesse dieser beiden Störungen ähnlich denen anderer Verhaltenssüchte sind.
Zur Vergabe der Diagnose einer Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, die bereits den anderen spezifizierten Störungen durch Verhaltenssüchte zugeordnet ist (ICD-11 Code: 6C5Y), wird vorgeschlagen, dass die gleichen Kriterien erfüllt sein müssen wie bei der Computerspielstörung, wobei sich das Verhalten auf die Nutzung von sozialen Netzwerken (wie Snapchat, Instagram, TikTok) anstelle von Computerspielen bezieht (Brand et al.
2020). Die Kauf-Shopping-Störung (ICD-11 Code: 6C7Y) ist durch zwanghaftes Einkaufen und wiederholten Kontrollverlust über den Erwerb von Konsumgütern gekennzeichnet. Das unangemessene Kaufverhalten führt zu finanziellen Problemen, familiären Konflikten, emotionaler Belastung und klinisch signifikanter Beeinträchtigung in wichtigen Lebensbereichen. Entsprechend des dritten Kriteriums der Verhaltenssüchte sind die Betroffenen trotz erheblicher negativer Konsequenzen nicht in der Lage, ihr Einkaufsverhalten nachhaltig zu kontrollieren (Brand et al.
2020). Die Pornografie-Nutzungsstörung kann als eine Unterform der Störung mit zwanghaftem sexuellem Verhalten (ICD-11 Code: 6C72) innerhalb der Kategorie der Impulskontrollstörungen diagnostiziert werden. Vergleichbar zu den Kriterien der Verhaltenssüchte zeigt sich ein anhaltender Konsum mit Verlust der Kontrolle über den Konsum. Der Pornografiekonsum nimmt eine dominierende Rolle im Leben der betroffenen Person ein, was zu einer Vernachlässigung von Pflichten, zuvor bestehenden Interessen und Hobbys führt. Das Verhalten wird trotz nachteiliger Konsequenzen fortgesetzt, wodurch wesentliche Lebensbereiche erheblich beeinträchtigt werden. Konsequenzen können sich in Form von Konflikten in intimen Beziehungen oder beeinträchtigter beruflicher Leistungsfähigkeit äußern, oft bedingt durch exzessiven nächtlichen Konsum von Pornografie (Brand et al.
2020).
Begrifflich werden zudem häufig die Termini
Online-Verhaltenssüchte sowie synonym
Internetnutzungsstörungen (engl.: „internet use disorders“) verwendet, wenn die Störungen auf online durchgeführtem Problemverhalten beruhenden (Rumpf et al.
2021). Der allgemeinere Nutzungsbegriff betont den Bezug zu dem entsprechenden Verhalten, das die Störung bedingt, z. B. Glücksspielen, Computerspielen, Soziale-Netzwerke-Nutzung, Pornografienutzung, Kaufen bzw. Shopping oder Internetnutzung unabhängig von der Modalität. Bei substantivierten Verben (z. B. Computerspielen) wird auf die Bildung eines Nominalkompositums durch Verwendung des Grundwortes „Nutzung“ verzichtet. Die Terminologie wurde in Analogie zu den
Substanzgebrauchsstörungen (engl. „substance use disorders“) gewählt, die durch den Gebrauch von Substanzen wie Alkohol, Anxiolytika, Koffein, Cannabis, Halluzinogene, Schnüffelstoffe, Opioide, Stimulanzien oder Tabak entstehen.
Die Prävalenzen der beschriebenen Störungsbilder variieren zwischen etwa 0,5 % für die Glücksspielstörung (Potenza et al.
2019), 3 % für die Computerspielstörung (Stevens et al.
2021) sowie jeweils 5 % für die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung (Cheng et al.
2021), die Kauf-Shopping-Störung (Maraz et al.
2016) und die Pornografie-Nutzungsstörung (Markert et al.
2023). Es zeigen sich Unterschiede in der Geschlechts- und Altersverteilung zwischen den Störungsbildern. Der Anteil weiblicher Betroffener bei Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen oder Kauf-Shopping-Störungen ist erhöht, während bei Personen mit Glücksspielstörung, Computerspielstörung und Pornografie-Nutzungsstörung eine höhere Prävalenz bei Männern zu beobachten ist.
Ebenso finden sich Unterschiede in Bezug auf das Erstmanifestationsalter. Während die Computerspielstörung und Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung häufig erstmals im Jugendalter auftreten, entstehen Glücksspielstörung, Kauf-Shopping-Störung oder Pornografie-Nutzungsstörung häufig erst zwischen der 2. und 5. Lebensdekade. Das Risiko für diese Störungen steigt, wenn Schwierigkeiten in bedeutenden Lebensbereichen wie Familie, Schule, Arbeit oder Peerbeziehungen vorliegen. Im Hinblick auf Komorbiditäten lassen sich für alle genannten Störungsbilder häufig parallele Aufmerksamkeitsstörungen, Angststörungen, depressive Störungen oder Substanzkonsumstörungen diagnostizieren (Lindenberg et al.
2017; Müller et al.
2019; Palazzolo und Bettman
2020; Potenza et al.
2019). Darüber hinaus geht die Kauf-Shopping-Störung oft mit pathologischem Horten von Konsumgütern und Essstörungen, insbesondere der Binge-Eating-Störung, einher (Müller et al.
2019). Eine übersichtliche Darstellung der Klassifikation von Verhaltenssüchten in der ICD-10, der ICD-11 sowie des Vorschlags einer künftigen Umgruppierung ist in Tab.
1 zu finden.
Tab. 1
Klassifikation von Verhaltenssüchten in der ICD-10 und der ICD-11
Glücksspielstörung | Impulskontrollstörung: F63.0 | Störungen aufgrund von Verhaltenssüchten: 6C50 | – |
Computerspielstörung | –* | Störungen aufgrund von Verhaltenssüchten: 6C51 | – |
Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung | –* | Andere spezifizierte Störungen durch Verhaltenssüchte: 6C5Y | – |
Kauf-Shopping-Störung | –** | Impulskontrollstörungen: 6C7Y | Andere spezifizierte Störungen durch Verhaltenssüchte: 6C5Y |
Pornografie-Nutzungsstörung | –*** | Impulskontrollstörungen: Störungen mit zwanghaftem sexuellen Verhalten: 6C72 | Andere spezifizierte Störungen durch Verhaltenssüchte: 6C5Y |
Behandlungsrelevante Grundlagen zur Entstehung
Sowohl auf Verhaltensebene als auch auf neurobiologischer Ebene weisen Verhaltenssüchte Ähnlichkeiten mit substanzgebundenen Störungen auf. Entsprechende Befunde liegen für die Computerspielstörung (Weinstein und Lejoyeux
2020), die Pornografie-Nutzungsstörung bzw. zwanghaftes sexuelles Verhalten (Golec et al.
2021), die Kauf-Shopping-Störung (Thomas et al.
2023; Trotzke et al.
2021), die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung (Wadsley und Ihssen
2023) und unspezifizierte Internetnutzungsstörungen (Solly et al.
2022) vor. In beiden Fällen kommt es zu Reaktionen im dopaminergen Belohnungssystem, wobei der wesentliche Unterschied darin besteht, dass bei Verhaltenssüchten Dopamin durch exzessives Verhalten freigesetzt wird, während beim Konsum von substanzgebundenen Suchtmitteln die pharmakologischen Substanzen Reaktionen im dopaminergen Belohnungssystem über Botenstoffe auslösen (Everitt et al.
2001). Analog zu substanzgebundenen Süchten wird auch bei Verhaltenssüchten von einer komplexen Interaktion der Merkmale des Suchtmittels, der Person und der Umwelt ausgegangen (Wölfling et al.
2013).
Versorgung von Betroffenen
Für Betroffene finden sich in Deutschland sowohl im Beratungsbereich als auch in den Bereichen Behandlung und Rehabilitation Hilfen. Zudem können Angehörige in Beratungskontexten unterstützt werden. Beratungsangebote stehen sowohl in spezialisierten Fachambulanzen als auch in allgemeinen Einrichtungen für Sucht- und Erziehungsberatung zur Verfügung. In vielen Fällen erweist sich eine sozialpsychiatrische Perspektive mit Kooperationen mit Jugendhilfe, (Schul‑)Sozialarbeit, Jobcenter, Schuldenberatung, Soziotherapie und – insbesondere im Falle der Pornografie-Nutzungsstörung auch Paarberatung – als sinnvoll. Behandlungsmaßnahmen umfassen Einzel- oder Gruppenpsychotherapie, rehabilitative Angebote sowie Maßnahmen zur Stabilisierung und zur Rückfallprävention nach einem stationären Aufenthalt. Stationäre Behandlungen in psychosomatischen Akut- und Rehabilitationskliniken oder psychiatrischen Einrichtungen sind indiziert, wenn die Symptomatik schwerwiegend oder chronifiziert ist, Abstinenz oder Distanz vom sozialen Umfeld erforderlich erscheinen, spezifische Komorbiditäten vorliegen, Eigen- oder Fremdgefährdung besteht oder es zu Schulabsentismus kam.
Therapeutische Ziele der genannten Verhaltenssüchte (obwohl nicht alle auch in der ICD-11 unter Verhaltenssüchten geführt werden) beinhalten den Abbau des Suchtverhaltens und die Behebung der eingetretenen psychosozialen Probleme. Strategien enthalten motivationale Verfahren (Psychoedukation, motivierende Gesprächsführung, funktionale Analysen und Pro-Contra-Analysen), behaviorale Verfahren (Stimuluskontrolltechniken, (Teil-)Abstinenz, Exposition mit Reaktionsverhinderung), kognitive Verfahren (kognitive Umstrukturierung, einsichtsorientierte Verfahren, cognitive bias modification) sowie körperorientierte Verfahren (Entspannung) und Methoden des Aktivitätsaufbaus zur Erarbeitung alternativer Verhaltensweisen. Diese werden ergänzt durch Fertigkeitentrainings (Emotionsregulationstraining, Strukturtraining, soziales Kompetenztraining, Problemlösetraining) sowie Interventionen, die Probleme innerhalb der Familie oder in der Paarbeziehung adressieren. Für Jugendliche ab 16 Jahren und Erwachsene existiert ein manualisiertes Therapieprogramm für alle Formen von Online-Verhaltenssüchten, das in der multizentrischen STICA-Studie („
short-term
treatment for
internet and
computer game
addiction”) eine hohe Wirksamkeit erwies (Wölfling et al.
2019). Für Kinder und Jugendliche im therapeutischen Kontext zeigen die Programme „PROTECT+“ („
Professioneller Umgang mit
technischen Medien“; Szász-Janocha et al.
2020) und „Lebenslust statt Onlineflucht“ (Wartberg et al.
2014) im therapeutischen Kontext vielversprechende Ergebnisse. In der indizierten Prävention haben kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme wie „PROTECT“ (Lindenberg et al.
2022) den höchsten Evidenzgrad, aber auch systemische Ansätze wie „ESCapade“ (Bundesministerium für Gesundheit
2014) haben sich im Beratungskontext bewährt. Das evidenzbasierte Programm „Internetsucht: Eltern stärken“ (ISES) beinhaltet ein 6‑wöchiges Elterngruppentraining (Brandhorst et al.
2022). Auch zur Glücksspielstörung (Müller und Wölfling
2020), Kauf-Shopping-Störung (Müller et al.
2020; Müller et al.
2023) und Pornografie-Nutzungsstörung (Stark
2020) haben sich psychotherapeutische Interventionen in verschiedenen Studien als wirksam erwiesen.
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