Skip to main content
Erschienen in: Rechtsmedizin 2/2018

16.02.2018 | Suizid | Originalien

Palliativversorgung statt Lebensverkürzung

BVerwG-Urteil mangelt es im Tatsächlichen

verfasst von: Dr. iur. utr. C. Schütz, Dr. med. T. Sitte

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 2/2018

Einloggen, um Zugang zu erhalten

Zusammenfassung

Hintergrund

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 07.03.2017 (3 C 19/15) in Bezug auf einen Fall des Jahres 2005 die Möglichkeit eines Rechtsanspruchs auf die Erlaubnis zum Erwerb eines Betäubungsmittels (BtM) zur Selbsttötung bejaht.

Fragestellung

Die (verfassungs)rechtliche Bewertung und Erörterung der Konsequenzen des Urteils für die Zukunft.

Methode

Überprüfung der Urteilsgründe am Maßstab der aktuellen Grundrechtsdogmatik, insbesondere des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, und kritische Betrachtung der tatsächlichen Annahmen des Gerichts vor dem Hintergrund der Palliativmedizin sowie des zwischenzeitlich höchstrichterlich bestätigten Rechts auf das „Sterben-Dürfen“.

Ergebnisse

Das Urteil entspricht in seiner Begründung der modernen Grundrechtsdogmatik. Das Erwerbsverbot für BtM zwecks Suizid stelle einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit 1 Abs. 1 GG) dar, der grundsätzlich gerechtfertigt sei. Die Rechtfertigung des Verbots entfiele jedoch im Falle unerträglichen Leidens, wenn dem Betroffenen keine „andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches zur Verfügung steht“. Allerdings bietet die Palliativmedizin jedem Betroffenen rechtlich zulässig genau diese „andere zumutbare Möglichkeit“.

Schlussfolgerung

Nachdem der Bundesgerichtshof mit Urteilen vom 25.06.2010 (2 StR 454/09) und 17.09.2014 (XII ZB 202/13) straf- und betreuungsrechtlich das Recht des Einzelnen zum „Sterben-Dürfen“ bestätigt hat, kann dies durch die Palliativmedizin ermöglicht werden, ohne dass es eines Zugangs zu BtM zur Selbsttötung bedarf. Die Perspektive des Bundesverwaltungsgerichts für das Jahr 2005 kann daher rechtlich und faktisch heute nicht mehr aufrechterhalten werden. Für die Zukunft bedarf es daher keiner Erlaubniserteilung mehr für den BtM-Erwerb zum Suizid.
Fußnoten
1
Schütz/Sitte, NJW 2017, 2155 ff.
 
2
BVerwG, NJW 2017, 2215.
 
3
In der Fassung des Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 03.12.2015, BGBl. I, 2177.
 
4
BVerwGE 154, 352 = NVwZ 2016, 1413; mit zust. Anm. Hauck, jurisPR-SozR 19/2016 Anm. 2., der zutreffend darauf hinweist, dass (insbesondere nach der Rechtsprechung des von ihm geleiteten BSG-Senats) ein Anspruch auf Versorgung mit THC-Arzneimitteln gegenüber Krankenkassen (bisher, s. a. nun § 31 Abs. 6 SGB V n. F.) nicht besteht.
 
5
BVerwG, NJW 2017, 2215.
 
6
S nur Bubrowski, FAZ v. 19.05.2017, 4 („Tabubruch“).
 
7
Dazu jüngst mit Recht krit. Lindner, Rechtswissenschaft als Metaphysik, 2017, passim.
 
8
Insoweit mit Recht verwundert über die Reaktionen insbesondere des Deutschen Ethikrates Brade/Tänzer, NVwZ 2017, 1435 (1439, Fn. 66); insoweit auch dezidiert krit. Lindner, ZRP 2017, 148 ff.
 
9
S. etwa Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG I, 3. Aufl., 2013, Art. 1 I, Rn. 154; Schulze-Fielitz, ebd., Art. 2 II, Rn. 32; Fink, HGR IV, 2011, § 88 Rn. 48 f.; Müller-Terpitz, HStR VII, 32009, § 147 Rn. 101; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. Abs. 1 Rn. 89 (Stand: 2009); Einschränkend Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 47 f. (Stand:2004); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 5. Aufl. 2005, Art. 2 Rn. 207, 214; Kunig, in: v. Münch/Kunig, 6. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 50; s. a. die Nw. bei Roxin, NStZ 2016, 185 (186).
 
10
BGHSt 55, 191 = NJW 2010, 2963 (2967); BGHZ 202, 226 = NJW 2014, 3572 (3574); EGMR (Haas ./. Schweiz), NJW 2011, 3773 (3774: Teil des Anspruchs auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK).
 
11
Mit dem Senat kann hier zum Diskussionsstand auf Jäger, JZ 2015, 875 (877), verwiesen werden.
 
12
Mittelbar prognostisch im Eilverfahren BVerfG, NJW 2016, 558 f.; s. a. Stellungnahme der DPS in den Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 2357/15 u. a. (Download unter www.​palliativstiftun​g.​de [abgeruf. am 11.12.2017]); a.A. freilich etwa Hilgendorf, JZ 2014, 545 ff.
 
13
BT-Drs. 18/5373, S. 14; insofern für Straffreiheit wegen bloßer „Beihilfe zu einer straflosen Selbsttötung“ Miebach, NStZ 2016, 536 (538).
 
14
BVerfG, NVwZ 2017, 461.
 
15
Ebenso Lindner, FAZ v. 01.06.2017, 6 (Brief a.d. Hrsg.) Unklarheiten meinen allerdings Brade/Tänzer, NVwZ 2017, 1435 (1437), ausmachen zu können, ebenso Augsberg/Dabrock, FAZ v. 04.12.2017, 6; dies teilweise ins Abwegige zuspitzend jedoch Weilert, DVBl. 2017, 910 (912).
 
16
So Bundesgesundheitsminister Gröhe, zit. nach FAZ v. 24.05.2017, 66.
 
17
So BÄK-Präsident Montgomery, zit. wie Fn. 16.
 
18
Darauf weist Lindner, ZRP 2016, 148 (150), mit Recht hin.
 
19
Anders Brade/Tänzer, NVwZ 2017, 1435 (1437), ohne dies jedoch zu begründen.
 
20
BT-Drs. 18/5373, S. 14.
 
21
Unzutreffend daher Makoski, jurisPR-MedizinR 11/2017 Anm. 4, D.VII., der meint, der Bundestag habe „sehr deutlich gemacht“ (…), dass eine Förderung der Selbsttötung nicht zulässig sein solle, egal in welcher Form. Diese Auffassung widerspricht schon der unbestritten straflosen Beihilfe zur Selbsttötung.
 
22
Vgl. zur notwendigen Differenzierung der Fallkonstellationen auch Lindner, ZRP 2017, 148 (150), der hier zutreffend darauf hinweist, dass der Staat auch andernorts in Entscheidungen über eine Lebensbeendigung eingebunden ist, etwa bei der Beteiligung des Betreuungsgericht im Rahmen des § 1904 BGB bei einer Entscheidung über die „Genehmigung“ der Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen in Bindung an eine wirksame Patientenverfügung.
 
23
Hierauf weisen Brade/Tänzer, NVwZ 2017, 1435 (1439), als entscheidendes Kriterium hin.
 
24
Vgl. Brade/Tänzer, NVwZ 2017, 1435 (1436).
 
25
Kuhli, ZIS 2017, 243 ff.
 
26
BVerwG, NJW 2017, 2215 (2219); dies ist auch die entscheidende Legitimation des § 217 StGB n. F.
 
27
BVerwG, NJW 2017, 2215 (2219).
 
28
Was es aus seiner Sicht folgerichtig, aber eben rechtswidrig unterlassen hatte.
 
29
Durch BGHSt 55, 191 = NJW 2010, 2963.
 
30
S. dazu unten insbesondere V.
 
31
Gröhe, in: ders./Schneider/Finger, Und wenn ich nicht mehr leben will? Sterbehilfe in Deutschland, 2015, S. 66.
 
32
Das Konzept des „total pain“ ist in der Palliativmedizin seit Jahren unumstritten anerkannt, siehe z. B. Clarke, Social Science & Medicine 49 (1999), 727 ff.
 
33
Abgdr. in European Journal of Palliative Care 3 (1996), 15 f.
 
34
Huseboe/Klaschik, Palliativmedizin, 2000, S. 167 ff.
 
35
BGHSt 55, 191 = NJW 2010, 2963; dazu Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 ff.
 
36
BGHZ 202, 226 = NJW 2014, 3572 (3574).
 
37
European Association for Palliative Care (EAPC), Recommended Framework for the Use of Sedation in Palliative Care, 2009 (dt. Version von Alt-Epping/Sitte/Nauck/Radbruch, Zeitschrift für Palliativmedizin 2010, Heft 11, 1 ff.).
 
38
EAPC, Recommended Framework (Fn. 37), 3–5.
 
39
Rothfuß, jM 2017, 290 (295).
 
40
Daher unzutreffend Brade/Tänzer, NVwZ 2017, 1435 (1438), unter Bezugnahme auf Heidemann, CME 2010, 64 ff.
 
Metadaten
Titel
Palliativversorgung statt Lebensverkürzung
BVerwG-Urteil mangelt es im Tatsächlichen
verfasst von
Dr. iur. utr. C. Schütz
Dr. med. T. Sitte
Publikationsdatum
16.02.2018
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 2/2018
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-018-0233-y

Weitere Artikel der Ausgabe 2/2018

Rechtsmedizin 2/2018 Zur Ausgabe

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin

Neu im Fachgebiet Rechtsmedizin

Molekularpathologische Untersuchungen im Wandel der Zeit

Open Access Biomarker Leitthema

Um auch an kleinen Gewebeproben zuverlässige und reproduzierbare Ergebnisse zu gewährleisten ist eine strenge Qualitätskontrolle in jedem Schritt des Arbeitsablaufs erforderlich. Eine nicht ordnungsgemäße Prüfung oder Behandlung des …

Vergleichende Pathologie in der onkologischen Forschung

Pathologie Leitthema

Die vergleichende experimentelle Pathologie („comparative experimental pathology“) ist ein Fachbereich an der Schnittstelle von Human- und Veterinärmedizin. Sie widmet sich der vergleichenden Erforschung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden von …

Gastrointestinale Stromatumoren

Open Access GIST CME-Artikel

Gastrointestinale Stromatumoren (GIST) stellen seit über 20 Jahren ein Paradigma für die zielgerichtete Therapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren dar. Eine elementare Voraussetzung für eine mögliche neoadjuvante oder adjuvante Behandlung bei …

Personalisierte Medizin in der Onkologie

Aufgrund des erheblichen technologischen Fortschritts in der molekularen und genetischen Diagnostik sowie zunehmender Erkenntnisse über die molekulare Pathogenese von Krankheiten hat in den letzten zwei Jahrzehnten ein grundlegender …