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Open Access 28.12.2023 | Suizid | Originalarbeit

Psychosoziale Notfallversorgung von Kindern und Jugendlichen nach Suizid oder Tötung im Nahfeld

Eine Querschnittstudie

verfasst von: Tita Kern, Susanna Rinne-Wolf, MSc. Health Science, Simon Finkeldei

Erschienen in: Prävention und Gesundheitsförderung

Zusammenfassung

Hintergrund

Sowohl der Suizid als auch die Tötung einer nahen Person stellen folgenreiche und risikohafte traumatische Erlebnisse für Kinder und Jugendliche dar, welche zahlreiche Familien betreffen. Diese Fälle sind potenzielle Einsätze für die Fachkräfte der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV), deren frühe und spezifische Ansätze nach hoch belastenden Lebenserfahrungen fachlich indiziert sind.

Ziel

Ziel der zugrunde liegenden Studie ist es, die Erfahrungen von Fachkräften der Psychosozialen Akuthilfe (PSAH) bei Einsätzen, in denen es um Suizid oder Tötung geht und Kinder betroffen sind, zu erheben. Es sollen der Stand der Versorgung betroffener Familien und die Einschätzung des Hilfebedarfs sowie die anschließenden Versorgungsangebote der PSNV für betroffene Kinder, Jugendliche und Familien nach der unmittelbaren PSAH abgebildet werden.

Methode

Per teilstandardisiertem Online-Fragebogen wurden Daten von 506 Fachkräften der PSNV im deutschsprachigen Raum erhoben. Themen waren die Einschätzung des Versorgungsbedarfs und der bestehenden Versorgungssituation von Familien nach Suizid/‑versuch oder versuchter/vollendeter Tötung, die Erfahrungen der Fachkräfte bei Einsätzen mit diesen Indikationen sowie die Ausbildung und (Selbst‑)Einschätzung der Kompetenzen zu diesbezüglich relevanten traumaspezifischen Aspekten.

Ergebnisse

Bedarfe für weiterführende Betreuung werden von Fachkräften der PSNV nach Alter der betroffenen Kinder unterschiedlich und teilweise entgegen der aktuellen Forschungslage eingeschätzt. Es werden deutliche Versorgungslücken für von Suizid/‑versuch oder Tötung/-sversuch der betroffenen Familien beschrieben. Fachkräfte der PSNV wünschen sich selbst mehr Kompetenzen im Bereich der Betreuung von Kindern und Jugendlichen nach Suizid/‑versuch und Tötung/-sversuch. Ebenso wird der Wunsch nach einer niedrigschwellig erreichbaren Rückfallebene geäußert.

Schlussfolgerung

Fachkräfte der PSNV sehen den Bedarf für weiterführende Betreuung bei den Betroffenen, beschreiben jedoch einen Mangel an weiterversorgenden Angeboten. Die Angebote, in die lokal weitervermittelt werden kann, sind in den meisten Fällen weder spezifisch, passgenau noch kurzfristig verfügbar. Es besteht ein Bedarf für eine unmittelbar erreichbare, spezifische Unterstützung sowohl für Fachkräfte als auch für betroffene Familien (z. B. durch eine Notfallrufnummer).
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Hintergrund

Die World Health Organization (WHO) berichtet von ca. 703.000 jährlichen Todesfällen durch Suizid weltweit [30], wobei 81 % aller gewaltsamen Todesfälle in Ländern mit einem hohen durchschnittlichen Haushaltseinkommen auf Suizide entfallen [29]. So verstarben im Jahr 2021 in Deutschland insgesamt 9215 Personen durch Suizid [24]. Während die WHO davon ausgeht, dass in Ländern mit einem hohen durchschnittlichen Haushaltseinkommen die Prävalenz von Suizidversuchen bei 3 pro 1000 erwachsenen Einwohner*innen [29] liegt, schätzt die Deutsche Depressionshilfe, dass die Suizidversuche die Suizide noch um den Faktor 15–20 übersteigen [6]. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass von jedem Suizid bzw. Suizidversuch durchschnittlich 6 Angehörige betroffen sind [23].
Das Bundeskriminalamt berichtet für das Jahr 2022 2236 Fälle von Tötung, Totschlag und Tötung auf Verlangen in Deutschland [5]. Weitere 2220 Menschen überlebten einen Tötungsversuch [5]. Laut United Nations Office on Drugs and Crime entfallen in Europa zwischen 36 und 76 % aller Tötungsdelikte auf Tötungsdelikte in der Partnerschaft und/oder in der Familie [26], wodurch oft auch Betroffenheit von Kindern entsteht. Rynearson und Salloum gehen davon aus, dass mindestens 4–5 primäre Familienmitglieder und/oder nahe Angehörige von jedem Tötungsdelikt betroffen sind [22].
Aus der internationalen Forschung ist bekannt, dass sowohl Suizid als auch Tötung im Nahfeld schwerwiegende Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben. So haben Kinder von Eltern, die sich suizidiert haben, ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen und Persönlichkeitsstörungen [27]. Ferner ist das Risiko, dass diese Kinder und Jugendlichen sich später im Leben selbst suizidieren, deutlich erhöht [13, 15] und im Vergleich zu Kindern, die einen Elternteil durch einen Unfall verloren haben, sogar um 82 % erhöht [13].
Kinder und Jugendliche, die ein Elternteil durch Tötung verloren haben, sind neben posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) als kurz- und langfristiger Folge [1, 9] und traumatischer Trauer [1] auch zahlreichen weiteren Risiken für ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden ausgesetzt. Laut einer systematischen Übersichtsarbeit haben Kinder mit solchen Erfahrungen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Bindungs‑, Anpassungs‑, Verhaltens-, emotionalen Störungen und Verhaltensproblemen [1]. Ein erhöhtes Risiko für schwere psychische Störungen und Selbstverletzungen wurde auch in einer Studie von Lysell et al. festgestellt [16]. Bei jugendlichen Überlebenden von Tötungsdelikten ist die Wahrscheinlichkeit signifikant höher, dass sie über Depressionen berichten [19]. Wie bei Kindern, die einen Elternteil durch Suizid verloren haben, haben auch Kinder, die einen Elternteil durch Tötung verloren haben, ein höheres Risiko, sich selbst später im Leben zu suizidieren [15, 16].
Somit stellen sowohl der Suizid als auch die Tötung einer nahen Person folgenreiche und risikohafte traumatische Erlebnisse für Kinder und Jugendliche dar, welche zahlreiche Familien betreffen. Jeder dieser Fälle ist ein potenzieller Einsatz für die Fachkräfte der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV; [14]). Das Ziel der PSNV besteht darin „die Verarbeitung eines Notfallereignisses oder belastenden Einsatzes durch Ressourcenstärkung und -ergänzung zu ermöglichen, zu unterstützen sowie anhaltende psychische und soziale Belastungen zu vermeiden und/oder abzupuffern“ [3]. Dabei stellen Einsätze mit betroffenen Kindern, Jugendlichen und/oder Familien die Einsatzkräfte vor besondere Herausforderungen [10]. Hilfebedarfe Angehöriger unterschiedlichen Alters richtig einzuschätzen und die eventuelle Vermittlung in passgenaue Angebote sind Anforderungen, die die Komplexität dieser ohnehin schon belastenden Einsätze noch steigern. Insbesondere jüngere Kinder laufen Gefahr, dass ihre Bedarfe eher nicht richtig eingeschätzt werden. So beschreibt Wolfelt [28] beispielsweise, dass viele Erwachsene denken, dass sehr kleine Kinder vom Tod nicht betroffen sind, weil sie bisher nicht wissen, was um sie herum geschieht. Er kommt allerdings zu dem Schluss, dass hierbei ein Missverständnis vorliegt. Auch wenn Säuglinge und Kleinkinder entwicklungsmäßig bislang nicht reif genug sein sollten, um das Konzept des Todes vollständig zu verstehen, so handelt es sich um zwei verschiedene Dinge, wenn es darum gehe, den Tod zu verstehen und von ihm betroffen zu sein [28]. In diesem Zusammenhang ist ein Forschungsergebnis von Guldin et al. von besonderem Interesse, welches besagt, dass besonders die Kinder, die beim Suizid eines Elternteils jünger als 6 Jahre alt waren, selbst ein besonders hohes Suizidrisiko im späteren Lebensverlauf aufweisen [13]. Dadurch werden die Auswirkungen eines solchen Todesfalles besonders auf jüngere Kinder deutlich aufgezeigt und betont, dass das angenommene „nicht verstehen“ sich nicht protektiv auf die Kinder und ihre Verarbeitung auswirkt.
Auch wenn Bedarfe richtig eingeschätzt und in weiterführende Angebote vermittelt werden sollen, so weist eigene vorherige Forschung darauf hin, dass Angebote für Familien, im mittelfristigen Bereich nach hoch belastenden Lebensereignissen, vielerorts nicht ausreichend vorhanden zu sein scheinen [11]. Fachkräfte in Angeboten mit gesetzlichem Versorgungsauftrag für Familien verweisen daher meist in nicht passgenaue und hochschwellige Angebote, wie z. B. das heilkundliche Regelversorgungssystem [11]. Hier werden also Menschen, bei denen kurz nach einem traumatischen Erlebnis in der Regel noch keine krankheitswertige Störung vorliegt, in ein System verwiesen, dessen Auftrag die Behandlung krankheitswertiger Störungen ist und welches sich als deutlich überlastetet, darstellt. So kamen Ritter-Rupp et al. in der Auswertung der Daten von 68.898 Patient*innen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Bayern, welche 2021 eine Psychotherapie begannen, auf eine Wartezeit zwischen erster Sprechstunde und Therapiebeginn von im Median 97 (SD = 126,8) Tagen [20]. Für 10 Jahre alte Kinder lag der Wert sogar bei 115 Tagen. Auch der Wohnort der Patient*innen erwies sich in dieser Auswertung als ungünstig für die Länge der Wartezeit. Während die Wartezeit im Ballungsraum München kürzer war (82 Tage), so lag sie im Rest Bayerns meist zwischen 101 und 104 Tagen, mit einer Spitze von 116 Tagen in der Region Oberfranken. Auch Müller et al. kommen zu ähnlichen Ergebnissen, insbesondere mit Blick auf traumaspezifische psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen [18]. Ihre Studie, welche deutschlandweit Psychotherapeut*innen mit entsprechender Qualifikation befragte, fand heraus, dass mit einer Wartezeit von mehr als 4 Monaten gerechnet werden muss.
Den Fachkräften der psychosozialen Akuthilfe (PSAH) kommt, als zentralem Teil der PSNV, neben der kurzfristigen und ereignisnahen Akuthilfe eine wichtige Lotsenfunktion zu, in der sie nach Bedürfnis- und Bedarfserhebung ggf. in mittel- und längerfristige psychosoziale Hilfen vermitteln sollen [4]. Diese Studie möchte erheben, ob die Fachkräfte sich hierzu ausreichend ermächtigt sehen und ob entsprechende Angebote regional und wohnortnah zur Verfügung stehen. Im bisher wenig erforschten Bereich der PSNV [2, 14] ist diese Studie unseres Wissens nach die Erste, welche Fachkräfte der PSAH zu Einsätzen mit Kindern/Jugendlichen nach Suizid/‑versuch oder versuchter/vollendeter Tötung befragt.
Die Studie fand im Rahmen des Forschungsprojekts „Kurswechsel“ statt, welches als Teil der Initiative „Gewalt loswerden“ des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales von der AETAS Kinderstiftung durchgeführt wurde. „Kurswechsel“ hat u. a. die Erhebung, Bewertung und Verbesserung der psychosozialen Versorgung nach verschiedenen Formen von körperlicher, selbstbezogener und/oder interpersoneller Gewalt und deren Folgen zum Ziel. Der Schwerpunkt liegt auf frühzeitigen und gezielten Hilfen sowie dem Schutz von Kindern und Jugendlichen vor den psychischen Folgen von Suizid/‑versuch und Tötung/-sversuch im Nahfeld.
Im Sinne der Versorgungsforschung wird hier schwerpunkthaft über die Studienergebnisse bezüglich der Versorgung, der Einschätzung des Hilfebedarfs und der sich an die unmittelbare PSAH-Betreuung anschließenden Versorgungsangebote der PSNV für betroffene Kinder, Jugendliche und Familien berichtet.

Methode

Zielgruppe und Rekrutierung

Die Befragung im Rahmen dieser Querschnittstudie richtete sich an alle Personen, die in einem akut versorgenden System der psychosozialen Notfallversorgung tätig sind. Hierbei wurden Personen aus dem gesamten deutschsprachigen Gebiet angesprochen, deren Tätigkeitsbereich in der Krisenintervention im Rettungsdienst, der Notfallseelsorge, der Notfallpsychologie usw. liegt.
Teilnehmende wurden durch ein systematisches Rollout rekrutiert. Hierfür wurden alle bundesweit verfügbaren Landeszentralstellen bzw. Landesbeauftragte der PSNV angeschrieben und gebeten, die Einladung zur Teilnahme an die regionalen PSNV-Systeme zu verteilen. Bei der Kontaktaufnahme zu den Landeszentralstellen/Landesbeauftragten wurde die AETAS Kinderstiftung durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) unterstützt, dem in der bundesweiten PSNV-Landschaft eine koordinierende Funktion zukommt. Überdies erhielten alle Hilfsorganisationen als größte Träger der Krisenintervention im Rettungsdienst sowie die Sprecher*innen der Notfallseelsorge der evangelischen und katholischen Kirche entsprechende Informationen. Zusätzlich wurden verschiedene Fachverteiler genutzt. Hier ist insbesondere die im deutschsprachigen Raum reichweitenstarke Mailingliste der jährlichen internationalen Tagung für Krisenintervention und Notfallseelsorge der Universität Innsbruck bzw. des Österreichischen Roten Kreuzes zu nennen.
Der Fokus bei der Teilnehmendenrekrutierung lag auf dem Bundesland Bayern. Das Forschungsprojekt „Kurswechsel“, in dessen Rahmen die Erhebung stattfand, wird vom Freistaat gefördert und hat dementsprechend einen primär regionalen Auftrag. Um eine möglichst hohe Rücklaufquote zu erreichen, wurden hier zusätzlich zur zuständigen Landeszentralstelle auch regionale Knotenpunkte (bspw. Verantwortliche in Hilfsorganisationen) und Versorgende direkt angeschrieben (v. a. in der Metropolregion München die Krisenintervention und die Notfallseelsorge).
Zur Erhöhung des Rücklaufs, sowie als Dankeschön für die erfolgreiche Beteiligung an der Befragung, wurde den Teilnehmenden zwei Incentives angeboten. Zum einen konnte die eigene E‑Mail-Adresse zum Versand der Studienergebnisse hinterlegt werden. Zum anderen wurde die Registrierung für eine Online-Schulung angeboten. Für den Versand der Studienergebnisse gaben 307 Personen ihre E‑Mail-Adresse an, für die Teilnahme an einer Online-Schulung 305 Personen. Für letztere wurden zwei Termine angeboten, im Dezember 2021 und im Januar 2022. Inhaltlicher Schwerpunkt der Schulung war die psychosoziale Akutbetreuung von Kindern und Jugendlichen sowie die Ergebnisse aus dem „Kurswechsel“-Projekt.
Teilnehmende wurden vor Beantwortung des Fragebogens auf die anonyme Speicherung der Daten hingewiesen und ihr Einverständnis zur Datenverarbeitung eingeholt. Darüber hinaus wurde über die voraussichtlich erforderliche Zeit für die Beantwortung aller Fragen informiert und das Thema des verwendeten Fallbeispiels (Suizidversuch eines Familienvaters) vorab offengelegt. Da die Umfrage in Übereinstimmung mit der Deklaration von Helsinki stattfand, war kein Votum einer Ethikkommission erforderlich.
Die Befragung fand vom 22. Juli 2021 bis zum 27. September 2021 statt.

Fragebogen

Für diese Querschnittstudie wurde ein teilstandardisierter Fragebogen auf der Online-Plattform SoSci Survey. (Version 3.2.43) programmiert. Vor Freischaltung erfolgte ein Pretest, um Sprache, Verständlichkeit und Logik zu testen und der Fragebogen wurde anhand der Rückmeldungen überarbeitet.
Der Fragebogen setzte sich aus 40 Single- und Multiple-choice-Fragen sowie 20 offenen Fragen zusammen. Diese befassten sich mit der Einschätzung der Fachkräfte bezüglich des Versorgungsbedarfs und der bestehenden Versorgungssituation von Familien nach Suizid/‑versuch oder versuchter/vollendeter Tötung, den Erfahrungen der Fachkräfte bei Einsätzen mit diesen Indikationen sowie der Ausbildung und (Selbst‑)Einschätzung der Kompetenzen zu diesbezüglich relevanten traumaspezifischen Aspekten. Darüber hinaus wurden demografische Daten und Angaben zu den Systemen, in denen die Fachkräfte tätig sind, sowie dessen Einzugsgebiet erhoben.
Die ersten Fragen des Fragebogens bezogen sich auf das Fallbeispiel eines anonymisierten Realfalls (vgl. Infobox).
Infobox Fallbeispiel Online-Befragung Fachkräfte psychosoziale Akuthilfe
Ein Vater, 44 Jahre alt, stranguliert sich in suizidaler Absicht im Kinderzimmer seines Sohnes Tim. Tim, 8 Jahre alt, hört den Krach eines umfallenden Stuhls und geht darauf in sein Kinderzimmer. Dort findet er den Vater und verständigt sofort die Mutter, 40 Jahre alt. Diese alarmiert den Rettungsdienst. Der Vater überlebt und wird zur weiteren medizinischen Versorgung in das nächste Klinikum gebracht. Zur Familie gehört noch die Tochter Mia, 3 Jahre alt.
In Ihrer Funktion als psychosoziale*r Akuthelfer*in werden Sie vom Rettungsdienst zur Versorgung der Familie angefordert.
Dieser Schwerpunkt wurde gewählt, da die realen Fallzahlen für selbstbezogene Gewalt wesentlich höher liegen als die für interpersonelle Gewalt. Suizid/‑versuch stellt somit die häufigere Indikation bei Einsätzen im Feld der Fachkräfte der PSNV dar [14].
Durch den Einsatz von Fallbeispielen als Methode kann der subjektive Handlungssinn durch vorstellbare Situationen erfasst und festgehalten werden [25]. Durch den Einsatz von situativen Darstellungen können kognitive Skripte besser verstanden und Wahrnehmungs- und Handlungsmuster mithilfe von passenden und realitätsnahen Fallbeispielen abgerufen werden.
Darüber hinaus bietet die Verwendung eines Fallbeispiels den Vorteil, dass Antworten, die zu einem breiten Thema (z. B. Suizid in einer Familie) erhoben werden, vergleichbarer werden, da alle Befragten vom selben Szenario ausgehen. So können Fragen eng gefasst werden und den befragten Personen steht genügend Kontext zur Verfügung, um genau antworten zu können, [17]. In der hier beschriebenen Befragung ergab sich durch die Verwendung des Fallbeispiels außerdem die Möglichkeit, differenzierter Angaben zu Kindern in unterschiedlichen Altersstufen (in diesem Fall Kindergartenalter und Grundschulalter) möglichst natürlich zu erfragen.
Neben den Fragen bezüglich des Fallbeispiels wurden für die Indikationen Suizid/‑versuch sowie versuchte/vollendete Tötung jeweils gesondert weitere Daten erhoben.

Datenanalyse

Die Analyse der erhobenen Daten erfolgte mittels SPSS für Windows (Version 25.0.0.1, IBM, 2017, Armonk, NY, USA), R (Version 4.1.0), MAXQDA Standard 2020 (Version 20.4.0, VERBI GmbH, Berlin, Deutschland) und Excel (Version 2310, Microsoft, 2019, Redmond, WA, USA).
Antworten auf offene Fragen wurden per quantitativer Inhaltsanalyse operationalisiert [12]. Hierfür wurden sowohl theorie- als auch empiriegeleitete Kategoriensysteme für die verschiedenen Fragebereiche entwickelt. Die Antworten auf offene Fragen wurden in MAXQDA-Standard 2020 kodiert und die Reliabilität der Kodierungen im Anschluss überprüft. Die Ergebnisse der Kodierung wurden im Anschluss, zur gemeinsamen Analyse, mit den anderen Daten und Variablen der Umfrage zusammengeführt.

Ergebnisse

Rücklauf und Repräsentativität

An der Online-Befragung zur psychosozialen Akutversorgung von Kindern und Jugendlichen nach Suizid/‑versuch oder versuchter/vollendeter Tötung im Nahfeld nahmen insgesamt 506 Personen teil. Die Stichprobe beinhaltet Befragte aus dem gesamten deutschen Bundesgebiet sowie aus dem deutschsprachigen Ausland – konkret aus Österreich, der Schweiz und Italien. Wie in Online-Umfragen häufig zu finden, kann keine Aussage über die Größe der Grundgesamtheit gemacht werden. Valide Aussagen zur gesamten Anzahl von PSNV-Kräften im deutschsprachigen Raum liegen nicht vor. Die befragten Fachkräfte stellen eine Gelegenheitsstichprobe dar.
Von der maximalen Anzahl von Befragten (N = 506) beantworteten 388 Personen den Fragebogen vollständig. Durch dieses normale Drop-out-Verhalten [7] ergeben sich variierende n für die einzelnen Fragen. Die hier vorgestellten deskriptiven Einzelauswertungen betrachten das jeweilige n. Für die weiterführenden Analysen wurde jeweils um die Abbruchfälle bereinigt.

Stichprobe

Die Befragten (n = 397) gaben zu 53,67 % an, eine Ausbildung in der Krisenintervention, zu 25,19 % in der Notfallseelsorge und zu 14,86 % in beidem durchlaufen zu haben. Die restlichen 6,3 % hatten sonstige Qualifikationen im Bereich der psychosozialen Notfallversorgung absolviert. Die Fachkräfte verfügen über durchschnittlich 9,51 Jahre Erfahrung in ihrer Tätigkeit in der PSNV (SD = 6,76; Mdn 8).
Da ein Schwerpunkt auf die versorgenden Systeme gelegt wurde, wurden keine soziodemografischen Daten der einzelnen Befragten (bspw. Alter, Geschlecht) erhoben.

Herkunft der Befragten

Insgesamt machten 390 der 506 Teilnehmenden eine Angabe dazu, in welchem Herkunfts- bzw. Bundesland sie ihre Tätigkeit in der PSNV ausführen. Gefragt wurde für Deutschland nach den einzelnen Bundesländern, für den weiteren deutschsprachigen Raum nach dem Herkunftsland. Die meisten Antwortenden stammten aus Deutschland (n = 279). Aus Österreich nahmen 76, aus der Schweiz 24 und aus Italien 11 Personen teil (Abb. 1).
Bezüglich des Gebietes, das die Befragten mit Ihren Systemen maßgeblich versorgen, berichteten sie signifikant öfter in Regionen mit 100.000 bis 299.999 zu versorgenden Einwohner*innen tätig zu sein, als in allen anderen Gebieten (p < 0,001). Eine aufgeschlüsselte Darstellung zeigt Abb. 2.
Die Rückläufe innerhalb Deutschlands waren sehr unterschiedlich (Abb. 3): Bayern war mit 106 Personen das am stärksten vertretene Bundesland, was zum einen in den verstärkten Rollout-Bemühungen für Bayern (s. Zielgruppe und Rekrutierung) und zum anderen in einer höheren Bekanntheit der AETAS Kinderstiftung bei den Fachkräften in Süddeutschland, Österreich, der Schweiz und Italien liegen dürfte. Dies ist vermutlich auf die Präsenz von Mitarbeitenden der Stiftung in der praktischen Versorgung von Betroffenen, bei Lehrveranstaltungen und auf Kongressen zurückzuführen.
Da sich beim Vergleich der Antworten der Unterstichproben der verschiedenen Länder und der Gesamtstichprobe für diverse Items keine statistisch signifikanten Unterschiede ergaben, werden hier die Ergebnisse der Gesamtstichprobe berichtet.

Einschätzung des Versorgungsbedarfs und der bestehenden Versorgungssituation von betroffenen Familien nach Suizid/‑versuch sowie nach versuchter/vollendeter Tötung

Fragen zum Versorgungsbedarf von Kindern und Familien wurden anhand des Fallbeispiels konstruiert. Dabei wurden Einschätzungen für die vier Familienmitglieder einzeln abgefragt. Die Fachkräfte schätzten die Wahrscheinlichkeit, in der Zeit nach dem Suizidversuch des Vaters weitere psychosoziale Unterstützung zu benötigen, sehr unterschiedlich für die einzelnen Familienmitglieder des Fallbeispiels ein (vgl. Abb. 4). Während ein Hilfebedarf bei der Mutter von 91,51 % der Antwortenden als eher und sehr wahrscheinlich eingeschätzt wurde, beim Vater von 87,78 % und bei Tim (8 Jahre) von 86,95 %, so gaben nur 40 % für Mia (3 Jahre) an, mit einem weiteren Hilfebedarf zu rechnen. Insgesamt wurde der Hilfebedarf der Kinder im Vergleich zum Hilfebedarf der Erwachsenen signifikant geringer eingeschätzt (t [926,21] = 10,531; p < 0,001). Darüber hinaus ist auffällig, dass der Hilfebedarf des jüngeren Kindes Mia nicht nur signifikant geringer eingeschätzt wurde als der des Vaters (t [941,51] = 16,775; p < 0,001) und der Mutter (t [886,79] = 17,975; p < 0,001), sondern auch als der des älteren Kindes Tim (t [908,25] = 16,827; p < 0,001).
Auch bei der Auswertung der Begründungen für die jeweiligen Einschätzungen wurden deutliche Unterschiede sichtbar. Für den Vater wurde ein weiterer Hilfebedarf primär dadurch begründet, dass es heilkundlicher Betreuung, der Versorgung einer vorliegenden psychischen Erkrankung und externer Einschätzung von weiterer Selbst- oder Fremdgefährdung sowie Reduktion von Risikofaktoren bedarf (78,42 % aller Antworten). Der Umgang mit möglichen eigenen Gefühlen im Kontext des Suizidversuchs, wie z. B. Schuld, Selbstvorwürfen, Wut, aber auch Schock und Belastung, die zu einer PTBS führen könnten, standen als Begründung für die Mutter im Vordergrund (62,93 %). Interessanterweise bezog sich über ein Drittel (34,89 %) der genannten Begründungen auf interindividuelle Faktoren, d. h. den Umgang mit dem Vater, den Kindern und anderen Angehörigen. Bei den Begründungen von Tims weiterem Unterstützungsbedarf standen situative Belastungsfaktoren, wie eine mögliche Traumatisierung, insbesondere durch das Auffinden des Vaters, und Belastungsreaktionen, mit knapp zwei Drittel (74,2 %) an erster Stelle. Der Umgang mit den anderen Familienmitgliedern und dem sozialen Umfeld wurden nur in 15,2 % der Angaben genannt. Für Mia hingegen standen mit 58,77 % der insgesamt 473 Nennungen intraindividuelle Faktoren bei der Einschätzung des Betreuungsbedarfes klar an erster Stelle. Dabei zeigte sich eine deutlich ambivalente Einschätzung, mit fast ebenso viel Unklarheit darüber, was das Kind überhaupt mitbekommen haben könnte (45,91 % von 318 Nennungen), wie der Einschätzung, dass Mia durch den väterlichen Suizidversuch belastet sein könnte (54,09 % von 318 Nennungen). Es ergaben sich signifikante Zusammenhänge zwischen der Einschätzung des weiteren Hilfebedarfs von Mia und dessen Begründung. Diejenigen, die ihre Einschätzung des Unterstützungsbedarfs von Mia mit einer Betroffenheit/Verstörung/Traumatisierung durch den SV des Vaters begründeten, nahmen einen höheren Bedarf an („Spearmans rank correlation“: p = 0,002512; ρ = 0,1413476). Andererseits nahmen Befragte, die ihre Einschätzung des Unterstützungsbedarfs mit einer Unklarheit darüber begründeten, was Mia mitbekommen habe, einen geringeren Bedarf an (p = 0,0000001087; ρ = −0,245852).
Im Anschluss an die Frage nach dem geschätzten Betreuungsbedarf wurden die Teilnehmenden gebeten, aufzulisten, an welche Einrichtungen in ihrer Region sie die beschriebene Familie für weiterführende psychosoziale Versorgung verweisen können. Darüber hinaus wurden sie gefragt, für wie geeignet sie die einzelnen Einrichtungen für die jeweiligen Familienmitglieder erachten.
Von insgesamt 1073 genannten Verweismöglichkeiten, welche genannt wurden, beziehen sich mehr als ein Drittel (34,3 %) auf Angebote der heilkundlichen Regelversorgung (vollstationäre, teilstationäre und ambulant Niedergelassene mit Approbation). Als zweithäufigstes Angebot wurden in 22,09 % der Nennungen und damit signifikant seltener (p < 0,01) Beratungsstellen genannt und als dritthäufigstes mit 17,71 % Angebote der Krisenintervention. Darüber hinaus wurden im einstelligen Prozentbereich andere Verweismöglichkeiten wie schulpsychologische Dienste, Trauergruppen und Selbsthilfeangebote genannt (Abb. 5).
Häufig genannte Angebote, welche für den Vater als am geeignetsten betrachtet werden (Einschätzung „sehr geeignet“ und „eher geeignet“), waren die der heilkundlichen Regelversorgung (klinische Einrichtungen: 75,431 %, Niedergelassene mit Approbation: 63,636 %) sowie die Krisenintervention (68,508 %; Abb. 6). Auch wenn Beratungsstellen ebenfalls häufig genannt werden, so beurteilten nicht einmal die Hälfte der Befragten diese für sehr oder eher geeignet (48,673 %).
Für die weitere Betreuung der Mutter des Fallbeispiels schätzen die Fachkräfte Beratungsstellen (82,018 %) und Krisenintervention (84,409 %) als am geeignetsten unter den am häufigsten genannten Angeboten ein (Abb. 7).
Auffällig bei der Einschätzung der Angebote für Tim ist, dass sich hier ein sehr ambivalentes Bild bezüglich der Eignung klinischer Einrichtungen findet (Abb. 8). Mit 42,661 % befinden beinahe genauso viele Fachkräfte dieses Angebot für sehr oder eher geeignet, wie mit 40,835 % für eher nicht oder überhaupt nicht geeignet. Dagegen ist das Bild für die Niedergelassenen mit Approbation ein sehr deutliches, indem 80,327 % dieses Angebot als geeignet einschätzen und nur knapp 6 % (5,738 %) als ungeeignet.
Beratungsstellen werden in ca. Zweidritteln der Nennungen (66,228 %) als geeignet befunden. Angebote der Krisenintervention werden auch als durchaus geeignet eingeschätzt (54,19 %), wobei hier interessant ist, dass in diesem Zusammenhang beispielsweise auch die Krisendienste in Bayern genannt werden. Deren ambulante Einsatzteams bieten derzeit jedoch nicht in jeder Region die Versorgung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren an (bspw. Krisendienst Schwaben).
Im Vergleich zur Einschätzung der genannten Angebote für das ältere Kind, werden dieselben Angebote für das jüngere Kind Mia insgesamt als ungeeigneter bewertet (Abb. 9). So entfallen nur ca. die Hälfte der Einschätzungen von Beratungsstellen auf die Kategorien „sehr geeignet“ und „eher geeignet“ (50,711 %) und bei den klinischen Einrichtungen sind es 29,41 %. Auch die Angebote der Krisenintervention werden mit 38,037 % als ungeeigneter erachtet.
Auf die Frage, ob es spezialisierte Facheinrichtungen in ihrer Region gibt, welche die psychotraumatologische Akutbegleitung für Kinder und Jugendliche nach den hier beforschten Ereignissen (Suizid/‑versuche und/oder versuchte/vollendete Tötung) anbieten, antworteten jeweils ca. ein Drittel der Befragten mit Nein (Abb. 10).
Die Fachkräfte, die die Frage nach vorhandenen regionalen spezialisierten Weiterversorgungseinrichtungen bejahen, beziehen sich dabei in erster Linie auf klinische Einrichtungen. Diese werden für beide Indikationen signifikant häufiger genannt, als alle anderen Angebote (nach Suizid/‑versuch p = 0,000008268, nach versuchter/vollendeter Tötung p = 0,002731). Neben der Benennung unspezifischer Angebote (allgemeine Trauerbegleitung, Krisendienst Bayern etc.) beziehen sich nur 11,675 % (Suizid/‑versuch) bzw. 13,609 % (Tötung/-sversuch) der Antworten auf passgenaue und spezifische Einrichtungen (z. B. Beratungsstellen mit spezifischem Schwerpunkt). Insgesamt wurden von 175 antwortenden Personen nur 197 Angebote nach Suizid/‑versuch und von 160 antwortenden Personen nur 169 Angebote nach Tötung/-sversuch für den gesamten deutschsprachigen Bereich genannt.
Nach Wünschen, Vorschlägen und Empfehlungen zur Verbesserung der psychosozialen Akuthilfe für Kinder und Jugendliche gefragt, entfallen fast die Hälfte der Antworten (47,28 %) auf eine Verbesserung der Aus‑, Fort- und Weiterbildung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Befragten angeben, die Besonderheiten von akutem traumatischem Stress bei Kindern und Jugendlichen im Rahmen ihrer eigenen Ausbildung im Bereich der PSNV im Median mit nur 5 h (M = 8,46; SD = 11,18) behandelt zu haben.
Die Verbesserung des Versorgungssystems, beispielsweise durch den Aufbau flächendeckender Angebote der PSNV oder die inhaltliche Verbesserung der Arbeit, macht 37,06 % der Vorschläge zur Verbesserung der psychosozialen Akuthilfe für Kinder und Jugendliche aus.
Die Einführung einer zentralen Notfallrufnummer für Kinder, Jugendliche und ihre Bezugspersonen halten 87,07 % der Befragten für eher bis absolut sinnvoll und 82,80 % halten die Einführung einer solchen zentralen Notfallrufnummer für Fachkräfte der PSNV für eher bis absolut sinnvoll (Abb. 11).

Diskussion

Die hier vorgestellte Querschnittstudie ist unseres Wissens nach die erste Studie, welche Fachkräfte der PSNV zu Einsätzen mit Kindern/Jugendlichen nach Suizid/‑versuch oder versuchter/vollendeter Tötung befragt. Da Mitarbeitende in der PSAH systembedingt zumeist zu den ersten Fachkräften gehören und teilweise auch die Einzigen sind, welche Angehörige nach diesen Einsatzindikationen betreuen und beraten, kommt ihnen eine besondere Bedeutung in diesem Kontext zu. Sie sind in hohem Maß geeignet, nicht nur akute Betreuung anzubieten, sondern auch wertvolle Hinweise auf weiterführende Angebote und Hilfen zu geben [4].
Einen ersten Schlüsselfaktor für die niedrigschwellige Vermittlung in weiterführende Angebote der PSNV stellt hierbei sicherlich das Erkennen weiterer Hilfebedarfe der Betroffenen dar. Während die Teilnehmenden an dieser Studie die Hilfebedarfe für die Eltern und das ältere Kind im Fallbeispiel als eher hoch einschätzen, ergibt sich für das jüngere Kind ein eher ambivalentes Bild. 16,588 % der Personen halten Mias Alter für zu gering, als dass sie etwas verstehen könnte. Dieses Ergebnis deckt sich damit, dass die Betroffenheit von kleineren Kindern durch Todesfälle eher unterschätzt wird [28]. Auch Rosengreen et al. fanden in ihrer Studie zu in der Bevölkerung vorherrschenden Überzeugungen und Theorien, dass Eltern und Lehrpersonal überzeugt sind, dass kleinen Kindern die kognitiven und emotionalen Ressourcen fehlen, um mit dem Tod fertig zu werden [21]. Daraus resultiert, laut Forschergruppe, die Neigung der Erwachsenen, Kinder vor dem Tod schützen zu wollen. Allerdings fanden die Forschenden, dass selbst die jüngsten Kinder in der Studie grundlegende Elemente des emotionalen Skripts für den Tod kannten und ein beträchtliches Verständnis der Teilkonzepte des Todes zeigten, was so gedeutet wurde, dass das kognitive Verständnis von Kleinkindern weiter fortgeschritten ist, als angenommen, und den vorherrschenden Überzeugungen und Theorien der meisten Erwachsenen widerspricht [21]. Die Relevanz dieser Fehleinschätzungen wird besonders vor dem Hintergrund deutlich, dass das eigene Suizidrisiko nach elterlichem Suizid im Lebensverlauf bei Kindern, die zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre waren, höher ist, als das von älteren Kindern [13]. Dadurch werden die Auswirkungen eines solchen Todesfalles besonders auf jüngere Kinder deutlich aufgezeigt und betont, dass das angenommene „nicht verstehen“ sich nicht protektiv auf die Kinder und ihre Verarbeitung auswirkt.
Die Angebote, in welche die teilnehmenden Fachkräfte der PSNV die Familie des Fallbeispiels vermitteln könnten und ihre Einschätzung bezüglich der Eignung und Passgenauigkeit, zeigen ein weiteres Problemfeld auf. Am häufigsten werden Angebote der heilkundlichen Regelversorgung genannt, welche als Aufgabe in erster Linie die Behandlung von krankheitswertigen Störungen hat. Eine solche Störung liegt allerdings unmittelbar nach dem potenziell traumatisierenden Ereignis in den meisten Fällen nicht vor, wodurch ein Verweis in diese Strukturen eine geringe Passgenauigkeit aufweist. Insbesondere für den Bereich der vollstationären und teilstationären Einrichtungen ist infrage zu stellen, ob diese für die Begleitung der Angehörigen im Fallbeispiel passend sind. Die Einweisung oder Anbindung des 8‑Jährigen und der 4‑Jährigen in bzw. an eine Kinder- und Jugendpsychiatrie erscheint aus dieser Perspektive fraglich und erweckt eher den Eindruck eines Mangels möglicher geeigneterer Verweisungsalternativen. Erst im vergangenen Jahr schrieb Hoppe bezüglich des Verweises von Betroffenen in professionelle Hilfsangebote: „Dabei dürfen Betroffene nicht pathologisiert werden, also den Eindruck bekommen, sie seien krank“ [14]. Vor diesem Hintergrund erscheint es besonders wichtig, andere Verweismöglichkeiten für Betroffene vorzuhalten und zu benennen.
Ein weiterer Faktor, der den Verweis an Akteure der heilkundlichen Regelversorgung (z. B. Psychotherapeut*innen oder Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen) als problematisch erscheinen lässt, sind die dokumentierten langen Wartezeiten. Diese laufen mit bspw. bis zu 115 Tagen für Kinder im Alter von 10 Jahren [20] einer notfallpsychologischen Akutversorgungslogik zuwider. Insbesondere im Bereich der hier besonders angezeigten traumaspezifischen psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen muss mit Wartezeiten von bis zu 4 Monaten gerechnet werden und viele Therapeut*innen geben an, dass die Nachfrage ihre Kapazitäten überstieg und 26 % von ihnen keine Kapazitäten für Notfälle freihalten, wodurch sich keine gesonderten Zugangswege für akut betroffenen Kinder und Jugendliche eröffnen [18]. Diese Ergebnisse sind insbesondere vor dem Hintergrund relevant, als dass Nachteile eines sehr späten Therapiebeginns, besonders bei den komplexen Auswirkungen von Traumafolgestörungen, negative Folgen für die Betroffenen mit sich bringen [8].
Die Frage nach der Passgenauigkeit von Angeboten, in die weitervermittelt werden kann, hat auch eine Relevanz bezüglich der Angaben der Befragten zur grundsätzlichen Versorgung in spezialisierten Facheinrichtungen für Kinder und Jugendliche nach Suizid/‑versuch und Tötung/-sversuch in den jeweiligen Regionen. Die ohnehin schon wenigen Nennungen von Angeboten nach beiden Indikationen entfallen zwischen 30 und 40 % auf klinische Einrichtungen, von denen wiederum zwei Drittel bis drei Viertel (teil)stationäre Angebote sind. In Bezug auf eine mögliche Pathologisierung der betroffenen Kinder und Jugendlichen stellt sich hier ebenfalls die Frage, ob diese Angebote angemessen und stimmig sind. Beratungsstellen mit spezifischem Schwerpunkt wurden in <  15 % der Fälle benannt, wobei hier sogar davon auszugehen ist, dass die Ergebnisse durch einen gewissen Selektionsbias nicht repräsentativ sind. Die AETAS Kinderstiftung, über welche auch ein Teil der Rekrutierung stattfand, war unter den spezifischen Beratungsstellen die Einrichtung, welche am häufigsten genannt wurde (jeweils 15-mal, entsprechend 65,217 %). Dabei ist davon auszugehen, dass durch die Rekrutierung diese Einrichtung eher im Bewusstsein der Teilnehmenden und bekannt war. Insgesamt wurden nur wenige spezialisierte Facheinrichtungen genannt, was auf eine sehr lückenhafte Versorgung mit wirklich geeigneten Angeboten schließen lässt. Diese Annahme wird unterstützt durch die Angaben der Befragten zu Wünschen, Vorschlägen und Empfehlungen zur Verbesserung der psychosozialen Akuthilfe für Kinder und Jugendliche. Der Auf- und Ausbau flächendeckender Angebote der PSNV macht mehr als ein Drittel der Antworten aus. Vor dem Hintergrund dieser herausfordernden Versorgungssituation, ist es nicht verwunderlich, dass die Fachkräfte der PSNV, welche an der Befragung teilnahmen, mit deutlicher Mehrheit eine zentrale Notfallrufnummer für Kinder, Jugendliche und ihre Bezugspersonen für sinnvoll halten.
Darüber hinaus drücken die Fachkräfte auch den Wunsch nach einer eigenen niedrigschwellig erreichbaren Rückfallebene für spezielle Fälle aus, indem fast ebenso viele eine solche Hotline für sich selbst wie für die Betroffenen als sinnvoll erachten. Vor dem Hintergrund, dass Themen rund um Kinder und Jugendliche in der Betreuung in der Ausbildung der befragten Fachkräfte mit nur sehr geringem Stundenumfang behandelt wurden und dass beinahe die Hälfte der Verbesserungsvorschläge für die psychosoziale Akuthilfe für Kinder und Jugendliche sich um eine bessere Aus‑, Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte selbst drehen, wird dem Wunsch nach der Hotline nochmals besonderes Gewicht verliehen.

Limitationen

Diese Studie trägt wichtige Hintergründe und Erkenntnisse zum derzeit noch begrenzt erforschten Gebiet der PSNV im deutschsprachigen Bereich bei. Insbesondere die Erfahrungen von Fachkräften der PSAH bei Einsätzen mit den Indikationen Suizid/‑versuch und versuchter/vollendeter Tötung sind, nach unserer Kenntnis, bisher kein Gegenstand wissenschaftlicher Erhebungen gewesen, ebenso wenig, wie die Implikationen durch Kinder und Jugendliche als Betroffene.
Gleichwohl ergeben sich Limitationen durch die Befragung einer Gelegenheitsstichprobe, wodurch von einer grundsätzlichen Repräsentativität für die Gesamtstichprobe nicht ausgegangen werden kann. Darüber hinaus wird nur eine Facette der Gesamtthematik abgebildet, da ausschließlich der Blick von Fachkräften eingeholt wurde. Das Erleben und die Sicht der Betroffenen selbst stellen ein deutliches Forschungsdesiderat dar, welchem zukünftige Forschung nachkommen sollte.

Fazit für die Praxis

  • Für Kinder und Jugendliche, die den Suizid/‑versuch oder Tötung/-sversuch einer nahen Person erlebt haben, gibt es nur wenige passgenaue weiter versorgende Angebote der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) nach der psychosozialen Akuthilfe (PSAH), obwohl belegt ist, wie häufig und folgenreich diese Ereignisse sind.
  • Fachkräfte der PSNV wünschen sich mehr Kompetenzen im Bereich der Betreuung von Kindern und Jugendlichen nach Suizid/‑versuch und Tötung/-sversuch.
  • Bedarfe für weiterführende Betreuung werden von Fachkräften der PSNV nach Alter der Kinder unterschiedlich eingeschätzt – im Fallbeispiel wurde für das jüngste Kind der geringste Bedarf eingeschätzt, was der bestehenden Forschungslage zuwiderläuft.
  • Fachkräfte der PSNV sehen deutliche Versorgungslücken für von Suizid/‑versuch oder Tötung/-sversuch betroffenen Familien und sprechen sich für eine Notfallrufnummer für diese Familien aus.
  • Eine niedrigschwellig erreichbare Rückfallebene für Fachkräfte der PSNV in Form einer Hotline wird von > 80 % der Fachkräfte als sinnvoll erachtet.

Förderung

Diese Studie wurde im Rahmen des Projekts „Kurswechsel“ der AETAS Kinderstiftung, gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, durchgeführt.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

T. Kern, S. Rinne-Wolf und S. Finkeldei geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Literatur
2.
Zurück zum Zitat AWMF (2019) S2k-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung AWMF (2019) S2k-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung
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Metadaten
Titel
Psychosoziale Notfallversorgung von Kindern und Jugendlichen nach Suizid oder Tötung im Nahfeld
Eine Querschnittstudie
verfasst von
Tita Kern
Susanna Rinne-Wolf, MSc. Health Science
Simon Finkeldei
Publikationsdatum
28.12.2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Schlagwörter
Suizid
Suizid
Erschienen in
Prävention und Gesundheitsförderung
Print ISSN: 1861-6755
Elektronische ISSN: 1861-6763
DOI
https://doi.org/10.1007/s11553-023-01092-x

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