Kommentar zu den Studien
Das postoperative Delir gewinnt im Rahmen der zunehmenden geriatrischen Chirurgie an Bedeutung. Bekannte prädisponierende Faktoren sind Notfalleingriffe und Medikamente; wie sich das Anästhesieverfahren auf das POD auswirkt, ist bisher jedoch nicht gut untersucht. Beide vorliegenden Studien vergleichen an großen Populationen den Einfluss von Regional- im Vergleich zu Allgemeinanästhesie.
Sowohl in RAGA als auch in REGAIN machte das Anästhesieverfahren für die Delirrate keinen Unterschied. Wenn der Verzicht auf eine zentral wirkende Medikation im Rahmen einer rückenmarknahen Regionalanästhesie das Delir nicht verhindert – lässt sich dann im Umkehrschluss behaupten, dass die Allgemeinanästhesie nicht der ausschlaggebende Faktor in der Entstehung des Delirs ist? Vermeintlich ja. Eine ältere Metaanalyse aus überwiegend retrospektiven Untersuchungen an heterogenen Kollektiven sowie eine zweite Analyse prospektiv gewonnener Daten an älteren Patienten mit hüftnaher Fraktur unterstützen die These [
4,
5].
An REGAIN ist anzumerken, dass in der Regionalanästhesiegruppe fast jeder Patient mindestens ein Hypnotikum oder Opioid (44 % Midazolam, 88 % Propofol, 23 % Ketamin) erhalten hat. Zusätzlich wurden 15 % der Regionalanästhesiegruppe in Allgemeinanästhesie operiert, was in einer Intention-to-treat-Analyse nicht berücksichtigt wird. Mit der Gabe prodelirogener Medikamente, die als wichtige prädisponierende Faktoren gelten, lässt sich der fehlende, aber erwartete Unterschied in der Delirrate, nachvollziehen. Umso interessanter ist es, dass in RAGA, wo in der Regionalanästhesiegruppe strikt auf jede zusätzliche Analgosedierung verzichtet wurde, auch in der „Per-protocol“-Analyse kein Unterschied detektiert wurde. Dies steht im Widerspruch zu bisherigen Studien, in denen ein Zusammenhang zwischen tiefer Sedierung und Delirrate gezeigt wurde [
6‐
8]. Denkbar ist, dass nicht die Sedierungstiefe per se, sondern die damit einhergehenden kardiovaskulären Veränderungen (arterielle Hypotonie, Bradykardie, reduziertes Herzzeitvolumen) das Delir begünstigen. Auch dazu ist die Studienlage nicht eindeutig [
9‐
11].
Hervorzuheben an RAGA ist die postoperative Schmerztherapie. Diese ist nicht näher beschrieben, außer dass ca. 20 % der Allgemeinanästhesiegruppe ein peripheres Regionalverfahren erhalten haben. In beiden Gruppen fällt auf, dass kein Patient postoperativ Schmerzen hatte (maximaler Score mittels visueller Analogskala jeweils 0) . Auffallend ist auch die niedrige Delirrate: 6 und 5,1 % in RAGA im Vergleich zu 20 und 19,7 % in REGAIN. Die adäquate Analgesie sowie reorientierende Maßnahmen (frühes und kontinuierliches Einbeziehen von Familienmitgliedern in die Therapie) in RAGA mögen zur niedrigen Delirinzidenz beigetragen haben. Gleichzeitig sind der Anteil an Patienten mit vorbestehendem Delir (13,3 % vs. 0,8 %) und ASA-III-Status (60 % vs. 20 %) in REGAIN deutlich höher. Die Delirinzidenz in REGAIN ist verhältnismäßig niedrig im Vergleich zur Literatur, die mit 5–50 % bei orthopädischen und 10–40 % bei hospitalisierten Patienten angegeben wird [
2,
12]. Die in diesen Metaanalysen einbezogenen Studien sind teils älter als 20 Jahre. Vermutlich trägt die insgesamt weiterentwickelte Patientenversorgung, aber auch eine zunehmend spezialisierte und individualisierte Narkoseführung zur Abnahme der Inzidenz bei. Es bleibt abzuwarten, bis weitere große multizentrische Studien, wie z. B. iHOPE abgeschlossen sind. Die Studienprotokolle von REGAIN und iHOPE sind harmonisiert und ermöglichen daher eine Metaanalyse auf Patientenebene (IPD-Metaanalyse) [
13].
Was lernen wir aus REGAIN und RAGA? Alle hier eingeschlossenen Patienten sind Hochrisikopatienten für ein Delir: Sie sind alt, sie werden nichtelektiv hüftnah operiert, erhalten einen Blasenkatheter, werden räumlich und zeitlich aus ihrem Umfeld gerissen. Sind die Umstände unabhängig vom Anästhesieverfahren bereits ausreichend für die Entstehung des Delirs? Und warum werden die einen delirant und die anderen nicht? Diese Fragen können RAGA und REGAIN nicht beantworten. Beide zeigen, dass das Anästhesieverfahren nicht der ausschlaggebende Faktor ist. Wahrscheinlich ist es wichtiger, das gewählte Anästhesieverfahren qualitativ hochwertig durchzuführen, als die Verfahrenswahl selbst, und die nichtpharmakologischen Ansätze zu beherzigen [
6].
Fazit für die Praxis
Mit RAGA und REGAIN zeigen 2 große, prospektive und randomisierte kontrollierte Studien, dass eine rückenmarknahe Regionalanästhesie zur Versorgung proximaler Femurfrakturen die Delirinzidenz nicht senkt. Für den klinischen Alltag scheint eine auf den Patienten zentrierte und gut geführte Anästhesie relevanter zu sein als das gewählte Verfahren selbst.
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