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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2/2024

Open Access 01.02.2024 | Übersicht

Die heuristische Gefährdungsbeurteilung – ein Fortbildungsansatz zur Verbesserung der Polizeiarbeit im Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmezuständen

verfasst von: Dr. phil. Psychologie Fabio Ibrahim, Tom Kattenberg, M.A. Kriminologie

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 2/2024

Zusammenfassung

Ziel dieser Übersichtsarbeit ist die Diskussion des polizeilichen Umgangs mit psychisch erkrankten Personen und Personen in psychischen Ausnahmezuständen. Die Themenrelevanz wird anhand praktischer Beispiele sowie der Darstellung aktueller Forschungsergebnisse und -kontroversen aufgezeigt. Aufbauend auf der Schlussfolgerung von Lorey und Fegert (2021) zur notwendigen Verbesserung der polizeilichen Fortbildung werden Konzeptionsinhalte einer heuristischen Gefährdungsbeurteilung im Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmezuständen abgeleitet. Ein dienststellenübergreifendes Ausbildungskonzept, mit vereinheitlichten Begrifflichkeiten und Handlungsempfehlungen, könnte den Polizist:innen mehr Handlungssicherheit ermöglichen, das Eskalationspotenzial verringern und den Einsatzerfolg erhöhen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Die Relevanz psychischer Ausnahmezustände in der Polizeipraxis

Nach dem Tod des 16-jährigen Mouhamed Dramé, der durch mehrere Schüsse aus einer Maschinenpistole durch die Dortmunder Polizei am 08.08.2022 starb, ist die Frage nach dem Umgang mit psychisch kranken Menschen in den politischen, medialen und gesellschaftlichen Fokus gerückt. Gleichzeitig weist diese Fragestellung auch für die Polizeiarbeit eine hohe praktische Relevanz auf, denn jede fünfte Kontaktperson der Polizei ist psychisch erkrankt (Lorey und Fegert 2021, S. 242). Die häufigsten Krankheitsbilder sind dabei Suchterkrankungen, Depression und Schizophrenie (Lorey und Fegert 2021, S. 242).1 In der Allgemeinbevölkerung ist das Bild psychisch kranker Personen negativ konnotiert, wie die Untersuchung von Lamnek (1991, S. 39) aufzeigt. Hier gaben mehr als die Hälfte der Befragten an, dass sie psychisch Kranke für aggressiv halten, und 8 % gaben an, dass diese Personengruppe typischerweise kriminell ist. Laut Lamnek (1991, S. 39) stehen diese Vorstellungen in einem erheblichen Widerspruch zum tatsächlichen Kriminalitätsaufkommen durch psychisch kranke Menschen. Haller et al. (2004, S. 363) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: Aus zahlreichen
„Untersuchungen geht eindeutig hervor, dass die Gesamtheit der Menschen mit psychischen Störungen gegenüber der Durchschnittsbevölkerung kein erhöhtes Gewalttätigkeitsrisiko aufweist, aber einzelne Untergruppen eher zu selbst- und fremdaggressiven Verhalten neigen. Dazu gehören Menschen mit paranoiden und schizophrenen Störungen […] [es] wird die Annahme übereinstimmend bekräftigt, dass zwischen psychiatrischer Erkrankung und Gewalttätigkeit ein moderater, aber zuverlässiger Zusammenhang besteht“.
Hodgins (2006, S. 7) konstatiert: „Empirische Daten deuten trotz wiederholter gegenteiliger Behauptungen darauf hin, dass schwer psychisch erkrankte Personen ein erhöhtes Risiko sowohl für Kriminalität als auch für aggressives Verhalten aufweisen.“ In der Untersuchung von Lorey und Fegert (2021, S. 245) heißt es, „die Annahme, dass die Gesamtheit psychisch erkrankter Personen per se gefährlicher ist als nichterkrankte Personen, lässt sich zwar empirisch nicht belegen, bestimmt aber scheinbar den polizeilichen Alltag“. Die divergente Befundlage zum erhöhten Risiko psychisch erkrankter Personen veranlasst uns, in der folgenden Diskussion weniger diagnostiziert psychisch erkrankte Personen als vielmehr Personen in psychischen Ausnahmezuständen zu fokussieren. Der psychische Ausnahmezustand ist durch einen hohen Leidensdruck, durch starke Emotionalität sowie durch eine Störung des Bewusstseins geprägt und stellt eine maladaptive Reaktion auf eine akute oder kumulative Belastung dar. Darüber hinaus ist der Begriff des psychischen Ausnahmezustandes ein in der polizeilichen Einsatzpraxis etabliertes Konstrukt, welches sich für die Fortbildungskonzeptionen als übergreifende Begriffskategorie eignet, wie im folgenden Beispiel ersichtlich wird:
Am 17.03.2023 kam es in Jarmen (Landkreis Vorpommern-Rügen in Mecklenburg-Vorpommern) zu einem tödlichen Schuss eines Polizisten, der mit einem Schwert attackiert wurde und dabei selbst verletzt wurde (NDR 2023). Bei der Polizei in Anklam ging laut Pressemitteilung ein Anruf der Polizei aus Sachsen-Anhalt ein, „wonach sich eine Hinweisgeberin Sorgen um ihren Bekannten machen würde. Er befinde sich in einem psychischen Ausnahmezustand und wäre nunmehr nicht mehr telefonisch zu erreichen“ (Presseportal 2023). Infolgedessen fuhren drei Beamte zur Wohnung, wobei erst die Wohnungsinhaberin die Tür öffnete. Der zunächst friedlich wirkende Mann attackierte plötzlich einen Polizisten mit dem Schwert (Presseportal 2023). Gegenstand dieses Beispiels soll weniger die Frage der Notwehr sein, sondern vielmehr, ob die Informationen, die die Beamten bereits vor dem Betreten der Wohnung erhielten, zu einem anderen Vorgehen hätten führen können. Es sind eindeutige Parallelen zum Fall Mouhamed Dramé ersichtlich, denn auch Dramé befand sich in einem psychischen Ausnahmezustand und war zwei Tage vor dem Vorfall psychiatrisch eingewiesen worden sowie während des Einsatzes mit einem Messer bewaffnet. Das Messer gilt nicht nur in den dargestellten Beispielen, sondern allgemein in Einsätzen mit Personen in psychischen Ausnahmezuständen als höchst relevanter Gefahrenpunkt.
Immer wieder sind Messerangriffe im Fokus medialer Berichterstattung, sodass infolgedessen Waffenverbotszonen diskutiert werden, eine Messerkultur bei Jugendlichen hypothetisiert wird und die Frage des Anteils nichtdeutscher Tatverdächtiger aufkommt (z. B. rnd 2022; Magoley 2022).
„‚Messerangriffe‘ im Sinne der Erfassung von Straftaten in der PKS [Polizeiliche Kriminalstatistik; Anm. d. Verf.] sind solche Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird. Das bloße Mitführen eines Messers reicht hingegen für eine Erfassung als Messerangriff nicht aus.“ (PKS 2022, S. 15)
Im Jahr 2022 gab es insgesamt 8160 (≙ 5,6 %; 2021: 7071 Fälle ≙ 5,8 %) Messerangriffe in Bezug auf Taten der gefährlichen und schweren Körperverletzung, bei Raubdelikten waren es 4195 Fälle (≙ 11,0 %; 2021: 3060 Fälle ≙ 10,2 %) (PKS 2022, S. 15). Das Tatmittel Messer wird erst seit dem Berichtsjahr 2021 erfasst, und Aussagen zu Tatverdächtigen sind auf der aktuellen Datenbasis nicht möglich (PKS 2022, S. 15).2 Die Studienlage zu Messerangriffen in Deutschland ist rar, aber in einer aktuellen Studie wird deutlich, dass die Narrative der medialen und politischen Diskussion um den dramatischen Anstieg von Messergewalt nicht bestätigt werden konnten (Rausch et al. 2023, S. 2). Jedoch wird darauf verwiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Tatmittel Messer und psychischen Erkrankungen, psychischen Vorbelastungen und Klinikaufenthalten gibt (Rausch et al. 2023, S. 2f.). Die Ergebnisse der Studie von Rausch et al. (2023, S. 9) deuten darauf hin, dass sich Täter:innen schwerwiegender Gewaltdelikte mit Messereinsatz überproportional häufig in einem psychischen Ausnahmezustand befinden. Hier ist aus Sicht der Polizei eine doppelte Bedrohung vorhanden: zum einen die bereits schwer einschätzbare Person, die sich in einer psychischen Krise befindet, und zum anderen das Messer, welches er/sie in seinem/ihrem Wirkbereich hat. Dieses kombinierte Gefahrenpotenzial erhöht die Notwendigkeit, nicht einzig durch Strafverschärfungen oder Waffenverbotszonen zu intervenieren, sondern einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen (Rausch et al. 2023, S. 9). Ein solch holistischer Ansatz, welcher insbesondere Personen in psychischen Ausnahmezuständen berücksichtigt, muss insbesondere in der Aus- und Fortbildung sowie der Einsatzpraxis und Gefährdungsanalyse der Polizist:innen ansetzen, um die Sicherheit für die Einsatzkräfte zu erhöhen und die Anzahl an lebensbedrohlichen Einsatzsituationen durch beispielsweise Messerangriffe weiter zu verringern. Die Relevanz einer verbesserten Gefährdungsanalyse wird durch die Betrachtung des polizeilichen Schusswaffengebrauchs deutlich. Denn im Jahr 2021 kam es insgesamt zu 139-maligem polizeilichen Schusswaffengebrauch durch Polizist:innen auf Personen – davon 60 Warnschüsse, 28 Schüsse gegen Sachen und 51 Schüsse direkt auf Personen –, wobei 8 Personen getötet und 31 verletzt wurden (Lorei 2022). Seit 2010 bis zum Jahr 2022 wurden mindestens 133 Menschen durch Polizist:innen erschossen, wobei jedes zweite Opfer wohl in einer psychischen Notsituation war (Fischhaber et al. 2022).3 Der Schusswaffengebrauch war aus rechtlicher Sicht in den allermeisten Fällen erlaubt, da es sich um lebensbedrohliche Einsatzsituationen mit Messern, Äxten etc. handelte (Jasch 2022, S. 453). Dennoch besteht die Frage, ob eine Fortbildungskonzeption mit besonderem Fokus auf die Gefährdungsbeurteilung von Personen in psychischen Ausnahmesituationen einen positiven Einfluss auf die polizeiliche Einsatzpraxis hätte und diese die Anzahl an Einsätzen mit tödlichem Schusswaffengebrauch verringern würde. Daraus erwächst die Anschlussfrage, wie eine solche Gefährdungsbeurteilung in der Praxis gestaltet werden müsste, um einen praktischen Nutzen für die Polizist:innen zu haben. Die erste Frage beantworten wir bereits an dieser Stelle mit einem klaren „Ja“, da eine Professionalisierung im Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmezuständen die Gefahrenpotenziale solcher Einsatzlagen verringern kann. Und das Ziel dieser Arbeit ist, die zweite Frage zu beantworten und Lösungsräume anzubieten, indem wir eine praxisnahe Gefährdungsbeurteilung entwickeln.

Der Fortbildungsbedarf zur Erhöhung der Handlungssicherheit im Umgang mit psychisch erkrankten Personen

Eine neuere Studie von Lorey und Fegert (2021) bestätigt frühere Untersuchungsergebnisse und macht deutlich, dass die Polizist:innen als größte Herausforderung im Umgang mit psychisch erkrankten Personen die Gefährlichkeit und die Vorhersagbarkeit des Verhaltens angeben (Lorey und Fegert 2021, S. 243). Zum einen ist das Erkennen der Erkrankung überhaupt und zum anderen der Umgang mit psychisch kranken Personen für die Beamt:innen mit Schwierigkeiten verbunden. Dabei werden psychisch Erkrankte oftmals stigmatisiert, und ihre Andersartigkeit wird als Gefahr wahrgenommen, obwohl möglicherweise lediglich eine Unsicherheit oder Verunsicherung vorliegt (Feltes und Alex 2022, S. 2). Auf diese Weise entsteht die polizeiliche Figuration des gefährlichen, gewaltbereiten psychisch Kranken, und dementsprechend werden „verschiedenen Figuren verschiedene (erwartete) Verhaltensweisen und damit auch verschiedene Gefährlichkeiten zugeschrieben, die zum Bezugspunkt für polizeiliches (Nicht‑)Handeln werden“ (Schmidt 2023, S. 170). Die Figuration der psychisch kranken Person fordert die Polizei aufgrund der oftmals dynamischen Situationseinschätzung zum aktiven Handeln auf, wobei eine zurückhaltende Art des Polizierens und/oder eine Übergabe an andere Professionen bzw. Krisendienste oftmals zielführender erscheint.
Lorey und Fegert (2021) erhoben darüber hinaus Veränderungswünsche von Polizist:innen, um den Umgang mit psychisch kranken Personen zu verbessern. Der meistgenannte Verbesserungsvorschlag war der Ausbau von Fortbildungsangeboten, gefolgt von Vernetzungen zu professionellen Helfer:innen (Lorey und Fegert 2021, S. 244). Fortbildungsangebote zum Thema Umgang mit psychisch kranken Personen können dabei helfen, die oftmals auftretenden Warnzeichen in gestörten Interaktionsverläufen frühzeitig zu erkennen, um ihnen dann professionell entgegenzutreten, denn ein verfrühtes Einsetzen von Gewalt kann die Eskalationsspirale stark verschärfen (Feltes und Alex 2022, S. 2). So hat das Polizeipräsidium Dortmund nach den tödlichen Schüssen auf Mouhamed Dramé „Dienstunterrichte etabliert, in denen erfahrene Führungskräfte Einsatzkräfte im Umgang mit psychisch auffälligen Personen schulen und sensibilisieren“ (Polizei Dortmund 2023).
Der Fortbildungsbedarf ergibt sich folglich aus zwei Gründen: Erstens geben die Polizist:innen aus der polizeilichen Praxis in Befragungen an, dass sie Probleme beim Erkennen sowie im Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmezuständen haben, und zweitens äußern sie, dass sie sich mehr Fortbildungsangebote zu dem Themengebiet wünschen (Lorey und Fegert 2021). Das Beispiel der polizeilichen Ausbildung der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern zeigt genau diese Ausbildungslücke auf: Hier gibt es zwar ein Wahlpflichtmodul, das sich mit „psychischen Krankheiten und kriminellem Verhalten“ beschäftigt (Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern), dieses Modul ist jedoch nicht obligatorisch, und demnach erhält nur eine Minorität der Polizist:innen diese Qualifikationen.4
Insgesamt scheint es eine Diskrepanz zwischen Ausbildungsstand und Ausbildungswunsch bzw. -bedarf zu geben. Es sollte demnach konkrete Ausbildungsinhalte für alle Polizeianwärter:innen in der Ausbildung/im Studium und zusätzlich Fortbildungsangebote für alle Polizist:innen, welche bereits im Berufsleben stehen, geben. Die Verhaltensempfehlungen müssen dabei über die Fragen der Eigensicherung und der rechtlichen Rahmenbedingungen hinausgehen (Lorey und Fegert 2021, S. 245). Auf diese Weise werden nicht nur Polizist:innen selbst besser geschützt, sondern eben auch die Personen in psychischen Ausnahmezuständen. Denn auch die Selbstgefährdung, beispielsweise der versuchte Suizid, erfordert unmittelbares polizeiliches Handeln und ist der Untersuchung von Lorey und Fegert (2021) nach insbesondere bei depressiven Personen eine prävalentere Herausforderung. Eine grundlegende pharmakologische Schulung der Polizist:innen könnte zu einer höheren Sensibilisierung für Krankheitsbilder und Medikationen führen. Beispielsweise könnten Polizist:innen bei Personen mit beginnender Medikation von Antidepressiva ein höheres Selbstgefährdungsrisiko annehmen, da die aktivierende Wirkung vor der Reduktion depressiver Symptome einsetzen kann und dies die Wahrscheinlichkeit zur Umsetzung suizidaler Impulse erhöht (Hegerl 2007). Aus- und Fortbildungsangebote sollten nicht ausschließlich polizeiintern konzipiert werden, sondern vielmehr durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Kriminolog:innen erarbeitet werden.

Die heuristische Gefährdungsbeurteilung als rekursiver Entscheidungsprozess in der polizeilichen Praxis

Insbesondere die Rechtspsychologie beinhaltet Forschungsergebnisse, Erhebungsinstrumente und Diagnoseverfahren zur Gefährdungsprognose, welche als Grundlage eines handlungsorientierten Ausbildungsanteils genutzt werden könnten. Die kriminalpsychologische Rückfall- oder Gefährdungsprognose gilt als wissenschaftliche Methode der Prognose einer kriminellen Wiederholungstat. Die prognostische Güte der Vorhersage hängt immer mit der zugrunde liegenden Delinquenztheorie und der Validität der Indikatoren zusammen. Aufgrund der zahlreichen Einflussvariablen sowie der dynamischen individuellen Krankheitsentwicklung und der Zufälligkeit von Umgebungseinflüssen ist die Einschätzung stets als Arbeitshypothese zu betrachten und die Prognosegüte kritisch zu hinterfragen. Dennoch könnten Indikatoren, welche aus der rechtspsychologischen Forschung als prognostisch besonders valide bewertet werden, in einem Kurs zur Gefährdungsbeurteilung von psychisch Kranken bzw. Personen in psychischen Ausnahmezuständen als Grundlage der Gefährdungseinschätzung fungieren. Wichtig wäre es demnach, dass Psycholog:innen für die Beamt:innen Basisheuristiken (Daumenregeln) ableiten, welche in Form eines Entscheidungsbaums eine möglichst effiziente (schnell und präzise) Gefährdungsbeurteilung ermöglichen. Denkbar wäre demnach ein Vierklang, bestehend aus:
1.
Indikatoren (Sammlung von Indikatoren für eine mögliche psychische Erkrankungen bzw. für Krisen, z. B. Körpersprache, Kleidung, körperliche Verfassung, Wohnverhältnisse, biografische Kenntnisse etc.; Abb. 1);
 
2.
Diagnostik (die Nutzung von Indikatoren und vorgefertigten Basisheuristiken zur Einschätzung potenzieller Störungsbilder, z. B. Körpersprache = Vigilanz; soziales Umfeld = isoliert; Biografie = Flüchtlingshintergrund; Diagnose = potenziell posttraumatische Belastungsstörung [PTBS]);
 
3.
heuristische Gefährdungsbeurteilung (Ableitung einer Gefährdungseinschätzung; möglicherweise PTBS, also Gefährdungsstufe gelb);
 
4.
Maßnahmen: aufgrund gelber Gefährdungsstufe stark deeskalierendes Vorgehen, unbedingtes Vermeiden von Drucksituationen, Krisen und potenzieller Provokation eines Flashback; dringendes Vermeiden von Missverständnissen und öffentlicher Kränkung, z. B. Hinzuziehen von Übersetzern, Sozialarbeiter:innen etc.; abgesichertes prolongiertes Vorgehen.
 
Die Umsetzung der heuristischen Gefährdungsbeurteilung (HGB) kann einsatzvorbereitend und -begleitend als rekursiver Entscheidungsprozess unterstützen. Vor dem Eintreffen am Einsatzort sollten in der Phase 1) Indikatoren Vorabinformationen zu den Aspekten Einsatzrahmen, psychische Störung und Biografie gesammelt und durch Informationen in der direkten Beobachtung ergänzt werden. Diese Informationssammlung passiert auf zwei Ebenen: Zum einen sind die eingesetzten Polizeikräfte auf dem Weg zum Einsatzort mit Informationen durch die Leitstelle und/oder Dienstgruppenleiter:in zu versorgen. Das heißt, es werden (polizeiliche) Systeme genutzt, um einsatzrelevante Informationen zu sammeln, um sie dann an die Kräfte vor Ort – im besten Falle auf dem Anfahrtsweg zum Einsatzort – weiterzugeben. Zum anderen bedarf es des Informationsabgleiches und der Informationssammlung durch die Polizeikräfte vor Ort. Diese Indikatoren werden in der Phase 2) Diagnostik kumuliert und führen in der Phase 3) heuristische Gefährdungsbeurteilung zu einer grundlegenden Einschätzung des Gefährdungspotenzials von moderat (grün) bis besonders hoch (rot). Diese Stufen sind in der Phase 4) Maßnahmen mit empfohlenen Handlungsschritten und Sicherheitsvorkehrungen verbunden. Während des Einsatzes muss die Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich möglicher neuer Informationen angepasst werden, sodass neue Indikatoren zu einer Veränderung der Einschätzung führen. Die HGB ist demnach, insbesondere vor dem Hintergrund a priori fehlender oder unzureichender Informationen, als kontinuierlicher Prozess zu verstehen.
Erst die Interaktion der diagnostischen Indikatoren ermöglicht eine Gefährdungseinschätzung in Form einer Ampel-Heuristik. Eine rote Einstufung ist in diesem Arbeitsmodell erst zu treffen, wenn mindestens zwei Indikatoren mit besonders hohem Risiko (z. B.: Soldat mit Einsatzerfahrung und akute Intoxikation oder eine Schizophrenie und ein emotional aggressiver Ausbruch) zutreffen. Eine weitere besonders hohe Einschätzung ist bei der Kombination einer psychischen Störung sowie einer akuten Intoxikation angezeigt (Abb. 1). Die hier skizzierte HGB ist als Arbeitsmodell zu betrachten und muss zukünftig durch eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe validiert und optimiert werden. Insbesondere Erkenntnisse der praktischen Polizeiarbeit, wie eine erhöhte Gefährdung durch Einsätze im häuslichen Rahmen (Eingriff in Privatsphäre, Informationsvorteil, Zugang zu möglichen Waffen), in belebter Öffentlichkeit (Scham, Ehrgefühl, Provokation durch Passanten) und in beengten Räumen (öffentliche Verkehrsmittel) sollten in der HGB dringende Berücksichtigung finden. Das hier formulierte Arbeitsmodell der HGB kann als Arbeitsgrundlage für weitere Entwicklungen sowie als Impuls für eine umfassende Konstruktion dienen.
Der hier formulierte Vierklang müsste für die wichtigsten psychischen Erkrankungen bzw. psychische Ausnahmezustände trainiert werden, sodass die Polizist:innen ein gemeinsames Verständnis sowie eine gemeinsame Sprache zur Gefährdungsbeurteilung von Personen in psychischen Krisen haben. Auch die Möglichkeit, eine psychische Ausnahmesituation ohne bestehende psychische Störung, also eine psychische Krise, als Akutreaktion auf ein Belastungsereignis, sollte innerhalb des Ausbildungskonzeptes behandelt und mit einem einheitlichen Klassifikationsbegriff als Sonderfall gekennzeichnet werden. Dennoch gilt im Grundsatz für Personen mit und ohne psychische Störung bei einer akuten psychischen Krise der hier formulierte Vierklang.
Demnach müssten im nächsten Schritt Basisheuristiken und Entscheidungsregeln als Grundlage der Aus- und Fortbildung entwickelt werden. Wichtige Bestandteile der Heuristik wären die Big Four (Andrews und Bonta 2010), welche als besonders wichtige Merkmale der Gefährdungseinschätzung fungieren sollten sind: dissoziale Persönlichkeitsanteile, biografische Aspekte von antisozialem/delinquentem Verhalten, antisoziale Kognitionen und ein antisoziales Umfeld. Des Weiteren haben zahlreiche Metaanalysen familiäre Probleme, Probleme in Schule und Beruf, ein unstrukturiertes Freizeitverhalten und Drogenabusus als wichtige Merkmale der Gefährdungsbeurteilung ermittelt (Dahle und Schneider-Njepel 2014).
Auch die Dittmann-Liste (Hachtel et al. 2019), als Sammlung von Merkmalen zur Risikoprognose eignet sich besonders zur Entwicklung von Entscheidungsheuristiken. Insbesondere die Kriterien: bisherige Kriminalitätsentwicklung bis zu den Anlasstaten; Persönlichkeit, psychische Störungen und persönlichkeitsspezifisches sowie situatives Konfliktverhalten eigenen sich als aussagekräftige Informationsbereiche der Risikoprognose.
Als ein besonders relevantes Störungsbild sollte das Störungsbild der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS; International Classification of Diseases 11th [ICD-11], Kapitel 7 B) in der Aus- und Fortbildung zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Erkrankter Berücksichtigung finden. Das Symptommuster der PTBS enthält:
1.
das Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in der Gegenwart oder in Albträumen;
 
2.
die Vermeidung von Erinnerungsanlässen, die zum Wiedererleben des Traumaerlebnisses führen;
 
3.
eine Übererregung in Form einer erhöhten Wachsamkeit oder einer gesteigerten Schreckreaktion sowie die subjektive Wahrnehmung einer anhaltenden Bedrohung.
 
Unterschiedliche Berufsgruppen weisen eine erhöhte Prävalenz auf. Beispielsweise zeigt eine in Deutsches Ärzteblatt publizierte Untersuchung (Wittchen et al. 2012) eine zwei- bis vierfach erhöhte Wahrscheinlichkeit einer PTBS-Erkrankung bei Soldaten mit Einsatzerfahrung. Auch die militärische Ausbildung und taktische Befähigung der Soldaten sowie die erhöhte Vigilanz und potenzielle Krisen nach der Einsatzrückkehr stellen Beispiele für eine besonders hohe Gefährdungsbeurteilung nach heuristischem Vorgehen dar.
Zusätzlich stellen Flüchtlinge eine Subpopulation mit erhöhter PTBS-Prävalenz dar, sodass auch hier psychische Krisen eine erhöhte Relevanz aufweisen. Eine spezifische Ausbildung von Polizist:innen, welche die Gefährdungsbeurteilung sowie ein anlehnendes Handlungstraining umfasst, erhöht demnach die Einsatzsicherheit im Umgang mit beiden Subpopulationen. Die Metaanalyse von Lindert et al. (2018) zeigt, dass die studienübergreifende Prävalenz einer PTBS-Erkrankung bei Flüchtlingen bei 32 % liegt. Möglicherweise hatte auch Mouhamed Dramé, als senegalesischer Flüchtling, eine undiagnostizierte Vorerkrankung. Eine Vorausbildung im Umgang mit psychischen Krisen hätte die Beamt:innen möglicherweise für den Themenkomplex stärker sensibilisiert und die Handlungssicherheit im Umgang mit dem Jugendlichen weiter erhöht.
Neben der PTBS, welche wir in diesem Überblick aufgrund zunehmender Migrationsbewegungen und kriegerischer Erfahrungen sowie Traumata im Besonderen fokussiert haben, gibt es jedoch zahlreiche weitere Störungsbilder, welche potenziell das Gewaltrisiko erhöhen und besondere Berücksichtigung in der HGB finden sollten. Beispielsweise ist die Rate der Gewaltdelinquenz bei Männern mit schizophrener Störung um ein Siebenfaches erhöht (Hodgins und Müller-Isberner 2014). Auch affektive Erkrankungen wie die bipolare Störung und die antisoziale Persönlichkeitsstörung hängen mit einem erhöhten Gewaltrisiko zusammen (Kopp et al. 2009).
Zusätzlich ist die Dynamik von polizeilichen Einsätzen ein wichtiger Faktor, welcher in der Nutzung der HGB berücksichtigt werden muss. Insbesondere der erste Schritt Indikatoren, welcher sich in die Vorabinformation und direkte Beobachtung unterteilt (Abb. 1), kann und wird sich im Einsatzverlauf entwickeln. Denkbar ist hier, dass die Vorabinformationen zu einer Einschätzung einer hohen Gefährdung (gelb) führt (z. B. häuslicher Rahmen (++) und Flüchtling aus Kriegsgebiet (++) und Schizophrenie (+++)). Wenn im Einsatz jedoch zusätzliche Indikatoren in der direkten Beobachtung erschlossen werden (z. B. emotional aggressiver Ausbruch (+++) und akute Intoxikation (+++)) ist die Erhöhung der Gefährdungsbeurteilung auf rot empfohlen. Es handelt sich demnach um einen Einsatz mit besonders hohem Gefährdungspotenzial, welcher ein gesichertes bzw. taktisches Vorgehen und zusätzliche Unterstützung durch beispielsweise den psychosozialen Dienst erfordert. Eine derartige Taxonomie kann Entscheidungs- und Handlungsunsicherheiten reduzieren und hilft den Polizist:innen, die relevanten Indikatoren zur Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen.
Insgesamt wäre ein zukünftig obligatorischer Aus- und Fortbildungsbestandteil zur Gefährdungsbeurteilung psychisch Erkrankter bzw. Personen in psychischen Ausnahmezuständen eine vielversprechende Komponente der polizeilichen Grundlagenausbildung. Die Interdisziplinarität, mit besonderem Einbezug der Rechtspsychologie, würde die Professionalität und Praktikabilität der Ausbildungsanteile erhöhen. Wichtig wäre, dass diese Ausbildung den Fokus auf die Praxisrelevanz legt und die Polizist:innen dazu befähigt, den skizzierten Vierklang: 1) Indikatoren; 2) Diagnostik; 3) heuristische Gefährdungsbeurteilung; 4) Maßnahmen in verschiedenen Situationen abzurufen. Um die HGB in der polizeilichen Praxis zu verankern, muss insbesondere der Bereich der Aus- und Fortbildung das Modell im Curriculum der polizeilichen Grundausbildung sowie in der Führungskräftefortbildung implementieren. Die Führungskräfte können hier in Zusammenarbeit mit dem psychologischen Dienst eigene Fortbildungen initiieren und als Multiplikatoren fungieren (Top down). Die jungen Polizist:innen, welche das neue Modell in der Grundausbildung gelernt haben, können dieses (Bottom up) in die Organisation tragen. Dieser bidirektionale Ansatz erhöht die Wahrscheinlichkeit einer nachhaltigen organisationalen Implementierung und der praktischen Anwendung des Modells.
In der Ausbildung der HGB sollte insbesondere Wert auf eine hohe Praxisnähe gelegt werden. Wichtig wäre, die Hintergründe der Indikatoren plastisch aufzugreifen und prägnant zu erklären. Hier können insbesondere statistische Zusammenhänge und anschauliche Beispiele helfen, die potenzielle Gefährdung verschiedener Indikatoren verstehen und erinnern zu können. Die Auszubildenden sollten diesen rekursiven Entscheidungsprozess anhand verschiedener Beispiele mit zunehmender Schwierigkeit trainieren, um die HGB zunehmend zu automatisieren. Ziel dieses Ausbildungsanteils sollte darin bestehen, ein grundlegendes Verständnis für die Systematik zu erlangen, Sicherheit im heuristischen Entscheiden zu gewinnen und insbesondere zielgerichtet relevante Indikatorinformationen zu suchen. Grundlegende Ausbildungsabschnitte wären daher:
1.
Relevanz der heuristischen Gefährdungsbeurteilung durch Beispiele problematischer und positiver Einsatzverläufe aufzeigen (Ausbildungsziel: Relevanz aufzeigen und Interesse erzeugen);
 
2.
Vermittlung der theoretischen Grundlage (Ausbildungsziel: Indikatoren, Modellstruktur und Entscheidungsregeln verstehen);
 
3.
Grundlegendes Training der HGB anhand statischer Einsätze (Ausbildungsziel: Internalisierung des Modells mit Fokus auf der A‑priori-Einschätzung);
 
4.
spezialisiertes Training der HGB anhand dynamischer Einsätze (Ausbildungsziel: vertiefte Internalisierung des Modells mit Fokus auf der einsatzbegleitenden, intuitiven Gefährdungseinschätzung).
 
Dennoch sollte die HGB als Hilfsmittel und nicht als polizeiliches Entscheidungsdogma vermittelt werden. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund polizeilicher Einsätze zu verstehen, bei denen es vorab keine Hinweise auf einen Einsatz mit einer Person in psychischen Ausnahmezustand und demzufolge keine Indikatorensammlung gibt. Die Intuition ist insbesondere bei schnell zu treffenden Entscheidungen eine zielführende Informationsquelle in der Polizeiarbeit (Akinci und Sadler-Smith 2020), sodass in der Ausbildung darauf hingewiesen werden muss, dass Abweichungen vom HGB durchaus gerechtfertigt sind.
Insgesamt sind Kriminalprognosen im Allgemeinen und die HGB im Besonderen als ein Hilfsmittel zu verstehen, welches die Polizist:innen sensibilisieren, in der Gefährdungsbeurteilung unterstützen und Handlungsentscheidungen vereinfachen sollen. Dennoch müssen solche kriminalprognostischen Daumenregeln immer mit der Berücksichtigung einer möglichen Fehleinschätzung vermittelt und genutzt werden, da sich Verhalten nie einzig durch individuelle Personeneigenschaften, sondern immer auch durch situative Rahmenbedingungen ergibt (Steller und Volbert 1997, S. 122). Die Aufgabe von Psycholog:innen bei der Entwicklung und Vermittlung der HGB besteht im Besonderen darin, die wissenschaftlichen Befunde in handlungsorientierte Entscheidungsregeln zu überführen und in der Ausbildung mit praxisrelevantem psychologischem Fachwissen zu unterstützen.

Krisendienste, psychologische Fachkräfte und die Verhandlungsgruppe der Polizei

Die psychologischen Fachkräfte sind demnach insbesondere in der (Weiter‑)Entwicklung sowie Vermittlung der HGB ein wichtiger Faktor. Der trialogische Ansatz kann hier als beispielhafte Form der Sensibilisierung fungieren. Im trialogischen Ansatz erklären psychisch erkrankte Personen ihre Erkrankung und erzählen von ihren Erfahrungen mit der Polizei. Möglicherweise könnten psychologische Fachkräfte und psychisch Erkrankte gemeinsam mit den Auszubildenden bestehende Indikatoren besprechen und so eine hohe Praxisnähe und Plastizität des Modells für die Auszubildenden erzeugen. Das Besondere ist, dass dieses Ausbildungselement außerhalb von polizeilichen Einsätzen und auf freiwilliger Basis passieren sollte, denn mit Blick auf die sogenannte Kontakthypothese kann nur die freiwillige Kontaktaufnahme und d. h. auch die Bereitschaft zur direkten Auseinandersetzung zum Abbau von Vorurteilen führen und Scheinakzeptanz verhindern“ (von Kardorff 2010, S. 296). Auf diese Weise kann eine echte Akzeptanz für Personen mit psychischen Erkrankungen erreicht werden, und die Erfahrungen können z. B. durch Gespräche mit anderen Polizist:innen weitergetragen werden und somit evtl. auch mittelbare Wirkung entfalten. Denkbar wäre hier, dass die Beamt:innen der polizeilichen Verhandlungsgruppen an einem trialogischen Forum teilnehmen. Zum einen hat es den Vorteil, dass jede Länderpolizei über Verhandlungsgruppen mit Bereitschaftszeiten verfügt, und zum anderen sind diese bereits in der Kommunikation für besondere Einsatzlagen wie Suizidversuche geschult. Die Verhandlungsgruppen werden oft bei hochkritischen Einsatzlagen mit Personen in psychischen Ausnahmezuständen angefordert, weshalb eine Teilnahme an trialogischen Foren im Besonderen und der expliziten Schulung der HGB im Allgemeinen als äußerst praktikabel und gewinnbringend angesehen wird.
Außerdem sollten Krisendienste und psychologische Fachkräfte bei der Nutzung der HGB, insbesondere bei einer besonders hohen Gefährdung (z. B. bei einer Kombination einer Schizophrenie und akuten Intoxikation) fachlich beratend unterstützen. Eine Zielsetzung könnte demnach sein, dass es eine kontinuierliche mobile Konsultationsmöglichkeit von psychiatrischen Diensten und Sozialarbeiter:innen gibt, die rund um die Uhr erreichbar sind (Derin und Singelnstein 2022, S. 363). Polizist:innen könnten so bei Problemen wie Drogendelikten oder eben auch Körperverletzungen durch psychisch Kranke durch Expert:innen unterstützt werden und so das Eskalationsrisiko von sozialen Konflikten verringern (Pichl 2022, S. 283f.). Die Krisendienste Bayern bieten u. a. eine telefonische Beratung und auch Kriseninterventionsteams an, die am Ort der Krise Hilfe leisten, wenn der:die Betroffene nicht mehr zugänglich ist oder akute Gefahr droht (Krisendienste Bayern 2023). Dieses Hilfsangebot für Menschen in psychischen Krisen ist deutschlandweit einmalig (Krisendienste Bayern 2023).5 Die Effekte solcher Ansätze sollten durch Begleitforschung evaluiert werden, um die Wirksamkeit zu bewerten sowie Best-Practice-Ansätze entwickeln zu können und die für die Etablierung solcher Krisendienste erforderlichen Kosten, Strukturen und Gesetzesänderungen rechtfertigen zu können. Dennoch ist zu betonen, dass die Polizeiarbeit und -präsenz durch Expert:innen nicht ersetzt, sondern maximal ergänzt werden kann, um grundsätzlich die Sicherheit und Strafverfolgung im Fall von Straftaten zu gewährleisten.

Ausblick

Um die Wahrscheinlichkeit einer sich gegenseitig verstärkenden Eskalationsspirale in der Polizeiarbeit mit psychisch kranken Personen und Personen im psychischen Ausnahmezustand zu verringern, ist eine flächendeckende Einführung von entsprechenden Fortbildungen notwendig. Eine Möglichkeit, Stigmatisierungen abzubauen, ist der bereits unter Punkt 4 andiskutierte trialogische Ansatz, bei dem Betroffene, Expert:innen (z. B. Psychlog:innen) und Polizist:innen aufeinander treffen (Bergdolt et al. 2021, S. 5). Auf diese Weise können bei den Polizist:innen stereotype Einstellungen abgebaut werden, Erkrankungen werden umfassender verstanden, und die Situationen erscheinen kontrollierbarer (Bock et al. 2015). Weiterhin müssen Fälle wie der von Mouhamed Dramé aufgearbeitet werden. Diese Aufarbeitung setzt eine offene Fehlerkultur woraus, die nicht von Ressentiments geprägt ist und vielmehr andere „Figurationsschablone[n] des polizeilichen Gegenübers“ (Schmidt 2023, S. 264), hier Menschen in psychischen Ausnahmezuständen, zulässt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse sollten durch Fortbildungen das polizeiliche Grundlagenwissen ergänzen und alte, womöglich falsche polizeiliche Verlässlichkeiten im Umgang mit diesen Menschen ersetzen.
Insgesamt ist der Themenkomplex der Personen in psychischen Ausnahmezuständen aufgrund der hohen Prävalenz, des erhöhten Gefahrenpotenzials sowie der geringen Verhaltensvorhersagbarkeit für die Polizei von hoher Relevanz. Ziel dieses Artikels war es, die polizeiliche Praxis und die kriminologischen Forschungsergebnisse zusammenzuführen und einen Problemkern zu identifizieren. Dieser besteht aus hiesiger Sicht in einem fehlenden Konzept zur praktischen Gefährdungsbeurteilung und entsprechender praktischer Handlungsempfehlungen, welche im Besonderen psychisch Erkrankte sowie Personen in psychischen Ausnahmezuständen berücksichtigt. Wir hoffen, mit diesem Bericht einen Impuls zu geben, welcher eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zur Formulierung von einfach anwendbaren Basisheuristiken zur Gefährdungsbeurteilung sowie entsprechenden Handlungsempfehlungen anregt. Mit diesem Artikel haben wir initial ein Arbeitsmodell einer HGB entwickelt, auf welchem in zukünftigen Konzeptionsvorhaben aufgebaut werden kann. Ein solches Konzept polizeilicher Basisheuristiken und Handlungen könnte Bestandteil von zukünftigen Fort- und Ausbildungen sein und sich somit zunehmend in der Polizeikultur und -praxis etablieren. Die resultierende höhere Sensibilisierung, Kommunikationssynchronisation und Handlungssicherheit könnte langfristig zu einer Verbesserung der Polizeiarbeit im Umgang mit psychisch Erkrankten bzw. Personen in psychischen Ausnahmezuständen führen.

Interessenkonflikt

F. Ibrahim und T. Kattenberg geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Fußnoten
1
Eine Studie aus dem Jahr 2010 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KfN) zum Thema „Gewalt gegen Polizeibeamte“ – bei der 20.938 Polizeibeamt:innen befragt wurden – kommt zu folgenden Ergebnissen: „Die Frage nach einer psychischen Erkrankung des Täters wurde in 8,1 % der Fälle bejaht, wobei auch hier zu 37,8 % der Übergriffe keine genaue Angabe vorliegt“ (Ellrich et al. 2010, S. 31).
 
2
Die „Polizeiliche Eingangsstatistik der Bundespolizei“ führt bereits seit Juli 2018 die Anzahl der Gewaltdelikte im Zusammenhang mit Messern. Hier ist eine Zunahme ersichtlich: Im Jahr 2019 wurden bei Gewaltdelikten Messer 402-mal eingesetzt und 194-mal mitgeführt; 2020: 445-mal eingesetzt und 155-mal mitgeführt; 2021: 210-mal eingesetzt und 221-mal mitgeführt; 2022: 591-mal eingesetzt und 291-mal mitgeführt (BT – Drucksache 20/5672 2023, S. 2).
 
3
Ein großer Mangel ist, dass es keine gesicherten Zahlen zu der Thematik Schusswaffengebrauch gegen psychisch kranke Menschen gibt – wenngleich andere Schätzungen und empirische Analysen zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie Fischhaber et al. (2022) – vergleiche dazu die Auflistung von Jasch (2022, S. 452f.).
 
4
Exemplarisch wurde hier das Modulhandbuch der FHöVPR MV (2023) zur Analyse der Lehrinhalte in Bezug auf das Thema psychische Ausnahmezustände genutzt. Für vertiefende empirische Arbeiten wäre eine Bund-Länder-Abfrage zur Thematik denkbar. Hiervon wird in dieser Arbeit abgesehen, weil es an dieser Stelle ausreichend erscheint, das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern anzuführen, und dass in Verbindung mit der Studie von Lorey und Fegert (2021) aufgezeigt werden kann, dass die Aus- und Fortbildungsangebote zum Thema psychische Ausnahmezustände in der Polizei nicht ausreichend sind.
 
5
Ob und inwiefern hier eine Zusammenarbeit mit der Polizei vonstattengeht, kann nicht beurteilt werden und bedarf weiterer Analysen bzw. Expert:inneninterviews.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Bergdolt J, Grochtmann J, Beblo T (2021) Menschen mit psychischen Erkrankungen als Opfer von Gewalt. Ein Konzept für Workshops an Polizeihochschulen Bergdolt J, Grochtmann J, Beblo T (2021) Menschen mit psychischen Erkrankungen als Opfer von Gewalt. Ein Konzept für Workshops an Polizeihochschulen
Zurück zum Zitat Dahle K‑P, Schneider-Njepel V (2014) Rückfall- und Gefährlichkeitsprognose bei Rechtsbrechern. In: Bliesener T, Lösel F, Köhnken G (Hrsg) Lehrbuch der Rechtspsychologie, 1. Aufl. Hogrefe, Bern, S 422–445 Dahle K‑P, Schneider-Njepel V (2014) Rückfall- und Gefährlichkeitsprognose bei Rechtsbrechern. In: Bliesener T, Lösel F, Köhnken G (Hrsg) Lehrbuch der Rechtspsychologie, 1. Aufl. Hogrefe, Bern, S 422–445
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Zurück zum Zitat Ellrich K, Baier D, Pfeiffer C (2010) Gewalt gegen Polizeibeamte: Ausgewählte Befunde zu den Tätern der Gewalt. Zwischenbericht Nr. 2. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e. V. (KFN) Ellrich K, Baier D, Pfeiffer C (2010) Gewalt gegen Polizeibeamte: Ausgewählte Befunde zu den Tätern der Gewalt. Zwischenbericht Nr. 2. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e. V. (KFN)
Zurück zum Zitat Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern (2023) Modulhandbuch des Bachelorstudienganges nach § 12 PolLaufbVO M-V, 1. Aufl., Mecklenburg-Vorpommern. Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern (2023) Modulhandbuch des Bachelorstudienganges nach § 12 PolLaufbVO M-V, 1. Aufl., Mecklenburg-Vorpommern.
Zurück zum Zitat Haller R, Dittrich I, Kocsis E (2004) Wie gefährlich sind Patienten mit psychischen Störungen? Wien Med Wochenschr (15–16):356–365 Haller R, Dittrich I, Kocsis E (2004) Wie gefährlich sind Patienten mit psychischen Störungen? Wien Med Wochenschr (15–16):356–365
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Zurück zum Zitat Steller M, Volbert R (Hrsg) (1997) Psychologie im Strafverfahren: Ein Handbuch, 1. Aufl. Huber Steller M, Volbert R (Hrsg) (1997) Psychologie im Strafverfahren: Ein Handbuch, 1. Aufl. Huber
Zurück zum Zitat Wittchen H‑U, Schönfeld S, Kirschbaum C, Thurau C, Trautmann S, Steudte S, Klotsche J, Höfler M, Hauffa R, Zimmermann P (2012) Traumatic experiences and posttraumatic stress disorder in soldiers following deployment abroad: how big is the hidden problem? Dtsch Ärztebl. https://doi.org/10.3238/arztebl.2012.0559CrossRef Wittchen H‑U, Schönfeld S, Kirschbaum C, Thurau C, Trautmann S, Steudte S, Klotsche J, Höfler M, Hauffa R, Zimmermann P (2012) Traumatic experiences and posttraumatic stress disorder in soldiers following deployment abroad: how big is the hidden problem? Dtsch Ärztebl. https://​doi.​org/​10.​3238/​arztebl.​2012.​0559CrossRef
Metadaten
Titel
Die heuristische Gefährdungsbeurteilung – ein Fortbildungsansatz zur Verbesserung der Polizeiarbeit im Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmezuständen
verfasst von
Dr. phil. Psychologie Fabio Ibrahim
Tom Kattenberg, M.A. Kriminologie
Publikationsdatum
01.02.2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 2/2024
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-023-00818-z

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