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Angioödem

Verfasst von: Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Angioödem.
Synonyme
Angioneurotisches Ödem; Quincke-Sy; Bannister-Krankheit; Milton-Riesenurtikaria; Oedema cutis circumscriptum; engl. „hereditary angioneurotic edema“ (HANE)
Oberbegriffe
Enzymopathie, allergisch-angioneurotische Ödeme.
Organe/Organsysteme
Kapillaren, Gefäßsystem, vegetatives Nervensystem, Haut (Unterhaut), Atemwege, Gastrointestinaltrakt.
Inzidenz
1:50.000 bis 1:500.000. ACE-Hemmer- induziertes Angioödem (bradykininvermittelt) 0,1–0,2 %.
Ätiologie
Unterscheidung in hereditäre und histaminvermittelte Form.
Hereditäre Form mit autosomal-dominantem Erbgang. Es liegt eine erniedrigte (15 % der Fälle) oder fehlende (85 %) Aktivität des Komplement-C1-Esteraseinhibitors vor. Gelegentlich besteht ebenfalls eine abnormale fibrinolytische Funktion. Im akuten Anfall kommt es zu einer umschriebenen Gewebsschwellung mit kapillärem Leck (vermutlich durch inadäquate Komplementaktivierung und Ausschüttung vasoaktiver Substanzen). Auslösung durch geringfügige Traumen (häufiger in Stresssituationen wie Menses, Schwangerschaft, Fieber, Operationen), jedoch auch spontan. Hauptmediator der Permeabilitätserhöhung und Ödembildung ist Bradykinin.
Histaminvermittelte Form geht einher mit Allergien auf Medikamente, Chemikalien, Lebensmittel, Parasiten, inhalative Allergene. Als Auslöser kommen in Frage bekannte Histaminliberatoren wie Morphin, Kodein, Kontrastmittel, Thiopental, Atracurium, Mivacurium. Ferner ist eine Auslösung möglich bei verschiedenen Immunkomplexerkrankungen, durch physikalische Stimuli wie Kälte, Hitze, Sonnenlicht, Druck, Sauerstoff, Wasser, Vibrationen, Salicylate, ACE-Hemmertherapie (diese verursachen 25–39 % aller Fälle), Parvoviren, Schlangenbiss, Hämodialysemembranen. Wenn gar kein Auslöser gefunden wird: „idiopathische“ Form.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Urtikaria (Schwellung in Oberhaut), allergische Diathese, Nephrose-Ss (Nephrotisches Sy), akute Nephritis, Hunt-Sy Typ I, Melkersson-Rosenthal-Sy, Ascher-Sy, Hench-Rosenberg-Sy, „autoimmune progesterone dermatitis“ während der Schwangerschaft.

Symptome

Rezidivierende akute ödematöse Schwellungen der Haut und der Subkutis mit den Prädilektionsstellen Lippen, Augenlider, Gesicht, Extremitäten und Genitale, die in der Regel keinen Pruritus zeigen. Enorale Schwellungen von Zunge, Epiglottis, Glottis (inspiratorischer Stridor). Rückbildung in ca. 2–5 Tagen.
Bei Asphyxie 15–30 % Mortalität!
Weitere Begleiterscheinungen: Kopfschmerzen (Migräne), Kolonspasmen, Abdominalschmerzen, Ileus-Symptomatik, Diarrhö, Nausea, Vomitus, Lungenödem, Polyurie.
Vergesellschaftet mit
Asthma bronchiale, Menière-Sy.
Therapie
Langzeitprophylaxe mit Inhibitoren der Plasminogenaktivierung wie α-Aminocapronsäure, Tranexamsäure. Diese vermindern die Schwere der Attacken, verhindern sie jedoch nicht. Ferner Aprotinin und Androgenderivate (Danazol, anfangs 600 mg/Tag, Aufrechterhaltung mit 250–300 mg/Tag, oder Stanozolol, 2 mg/Tag per os).
Zur Akuttherapie ist die Gabe eines gereinigten C1-Inhibitors (1–2 Amp. Berinert® entsprechend 1000–2000 Einheiten) empfohlen. Wirkungseintritt 20–40 min nach der Infusion mit einer Wirkdauer von 1–4 Tagen. Berinert® sollte auch zur Therapie akuter Attacken eingesetzt werden. C1-Inhibitor steht inzwischen auch als rekombinantes humanes Präparat (Conestat alfa: Ruconest®) zur Verfügung. Ein neues Therapiekonzept für Akutsituationen stellt die Bradykinin-Antagonisierung mit Icatibant (Firazyr®) s.c. dar, einem Bradykininrezeptor-Antagonisten in einer Dosierung von 30 mg, welche nach 6 Std. wiederholt werden kann (max. 3 x tgl. Wirkungseintritt innerhalb von 30 min). Eine Prophylaxe oder Therapie mit direkter Substitution des C1-Inhibitors ist auch durch die Gabe von FFP (2–4 Einheiten) möglich. Pro FFP-Einheit wird der C1-Inhibitorplasmaspiegel um 1,25 mg/dl angehoben.
Kortikosteroide, Antihistaminika, Adrenalin bzw. Adrenalinderivate sind beim hereditären Angioödem nicht wirksam, beim histaminvermittelten Angioödem jedoch sinnvoll!
Präoperative Untersuchungen
Aufgrund der unterschiedlichen Therapien muss der Typ des Angioödems unbedingt präoperativ abgeklärt werden (Bestimmung der Plasmakonzentrationen von C1–C4).

Anästhesierelevanz

Im Vordergrund steht die Vermeidung von Ödemattacken. Sinnvoll ist die Fortführung einer medikamentösen Therapie (Danazol). Darüber hinaus sollten alle Maßnahmen möglichst wenig traumatisierend durchgeführt werden.
Insbesondere vor zahnärztlichen Operationen sowie anderen Operationen im Mund-Rachenbereich sollten Patienten 1 Std. vor Eingriff 500–1000 Einheiten Berinert® als Kurzinfusion erhalten. Die Halbwertszeit des C1-Inhibitors liegt zwischen 24 und 72 Stunden.
Vorgehen
Zur Prämedikation sind Benzodiazepine gut geeignet. Alle Manipulationen im Gesicht und Nasen-Rachen-Raum sollten auf das Notwendigste reduziert und gewebeschonend durchgeführt werden. Daraus leiten einige Autoren eine Bevorzugung von Regionalanästhesietechniken ab oder sprechen sich zumindest für die Vermeidung einer Intubation aus. Dennoch sind praktisch alle gängigen Anästhesieverfahren erfolgreich angewendet worden; möglicherweise ist die Problematik der Gewebereizung durch die Intubation etwas überbewertet worden. Manipulationen an den Atemwegen scheinen das Auftreten des Angioödems weniger zu beeinflussen als vermutet. Insgesamt tritt ein relevantes Angioödem an den Atemwegen trotz Disposition nur selten auf (ca. 6 % der Fälle).
Wenn eine Allgemeinanästhesie durchgeführt werden soll, erscheint die Durchführung von Maskennarkosen als eine praktikable Vorgehensweise, sofern nicht eine Intubation wegen fraglicher Nüchternheit indiziert ist. Bei Intubationen reichlich Lidocain-Gel für Tuben und Katheter verwenden. Magensonden, ösophageale Temperatursonden u. Ä. sowie intratracheale Absaugung möglichst vermeiden. Perioperativ ist eine adäquate Überwachung indiziert. Im Falle einer Attacke mit Beteiligung des Oropharynx sollten Sauerstoff und FFP bzw. Berinert® appliziert werden. Sofern danach keine Besserung eintritt und Erstickung droht, ist die mechanische Sicherung der Atemwege zwingend (Intubation mit einem dünnen Tubus und Atemhilfe, ggf. Notkoniotomie/Tracheotomie). Entsprechende Ausrüstung ist vorzuhalten.
Während einer Schwangerschaft treten häufiger Ödeme auf, die aber nur selten eine Therapie mit C1-Inhibitoren erfordern. In der Geburtshilfe wird die Anlage einer Epiduralanästhesie empfohlen. Vor operativen Entbindungen wird eine Substitution von aus Plasma gewonnenem C1-Inhibitor angeraten.
Eine verlängerte monitorisierte postoperative Überwachung wird dringend empfohlen, nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Extubation ebenfalls ein Ödem auslösen kann!
Nach der Anästhesie sollte dem Patienten ein schriftlicher Bericht über den Ablauf der Behandlung mit Vorschlägen für eventuelle künftige Eingriffe mitgegeben werden.
Cave
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