Fixateur externe
Wagner stellte 1978 erstmalig einen unilateralen Fixateur externe zur Knochenverlängerung vor. Allerdings ging er nicht nach dem Prinzip der Kallusdistraktion vor, sondern führte im Anschluss an die graduelle Verlängerung eine Spongiosaplastik zur Auffüllung der Defektstrecke durch (Wagner
1978). Auf Grundlage dieses Apparates wurden in der Folge diverse unilaterale Fixateur externe-Systeme
entwickelt, die eine suffiziente Stabilisierung der Knochenfragmente zur kontinuierlichen Kallusdistraktion erlauben (z. B. Limb Reconstruction System [LRS], Orthofix GmbH, Verona, Italien (s. Abb.
10 und
11); Modular Rail System, Smith & Nephew, Memphis, USA) (Aldegheri et al.
1989; De Bastiani et al.
1987). Unilaterale Systeme werden in der Regel für reine Verlängerungen genutzt. Zusätzliche Achs- und
Torsionskorrekturen können jedoch akut bereits intraoperativ (Donnan et al.
2003) oder eingeschränkt mithilfe spezieller Module (sog. Schwenkbacken, Bogenbacken) graduell im Zuge der Kallusdistraktion erfolgen.
Die moderne Knochenverlängerung geht jedoch ursprünglich auf Ilizarov zurück. Durch umfangreiche klinische und wissenschaftliche Evaluationen seit den 1950er-Jahren machte er den Ringfixateur
zu einem sicheren Instrument für die Kallusdistraktion, sodass das Verfahren in der klinischen Routineanwendung etabliert werden konnte (Ilizarov und Deviatov
1971; Schiedel und Rodl
2013; Vogt et al.
2020a). So sind mit dem klassischen Ilizarov-Ringfixateur
durch gezielte Montage von sog. Korrekturgelenken neben reinen Verlängerungen außerdem simultane graduelle Korrekturen in allen räumlichen Dimensionen möglich (s. Abb.
10 und
12) (Paley
1988; Paley
2002). Trotz dieses enormen Korrekturpotenzials werden die weniger auftragenden unilateralen Systeme von den Patienten insbesondere am Oberschenkel besser akzeptiert (s. Abb.
10 und
11). Zur gemeinsamen Fassung von Tibia und Fibula am Unterschenkel sind Ringfixateurkonstruktionen jedoch den unilateralen Systemen überlegen (s. Abb.
10 und
12).
Die Gebrüder Taylor modifizierten 1994 das bis dahin etablierte Ilizarov-System, indem sie 2 Ringe mit 6 Teleskopstreben verbanden, die softwaregestützt über virtuelle Korrekturpunkte präzise Verlängerungen und Korrekturen in allen Raumebenen garantieren (Taylor Spatial Frame [TSF], Smith & Nephew, Memphis, USA) (s. Abb.
13 und
17) (Iobst
2010; Nakase et al.
2009). Die hohe Präzision des Systems zur Extremitätenverlängerung und Deformitätenkorrektur konnte durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen nachgewiesen werden (Blondel et al.
2009; Horn et al.
2017; Manner et al.
2007; Reitenbach et al.
2016). Verglichen mit dem konventionellen Ringfixateur wurden – auch in eigenen Untersuchungen – signifikant bessere Resultate und weniger Probleme unter Verwendung des TSF gefunden (Manner et al.
2007; Reitenbach et al.
2016; Rodl et al.
2003). Softwaregestützte Hexapodensysteme werden heute von diversen weiteren Herstellern zur Verfügung gestellt (z. B. TL-Hex, Orthofix, Verona, Italien; Hoffmann LRF Hexapod, Stryker, Mahwah, USA).
Gemeinsamer Nachteil aller externen Fixateursysteme stellt die transkutane Fixation der äußeren Komponenten mittels Drähten oder Schrauben am Knochen dar (s. Abb.
10). Je weniger bewegliche Verschiebeschichten (Muskulatur, gelenknahe Weichteile) von Drähten und Schrauben penetriert werden, desto weniger mechanische Irritationen mit nachfolgenden infektiösen Heilungsproblemen entstehen (Paley
1990; Schiedel und Rodl
2013). Es existieren diverse Atlanten, in denen man die geeigneten Pin- und Drahtplatzierungen für fast jede anatomische Region nachschlagen kann (z. B. die Atlanten nach Catagni (Catagni
2003) und nach Solomin (Greulich und Pyle
1959)). Erstaunlicherweise sind ernsthafte, also bis in den Knochen hineinreichende Infektionen dieser sog. Pin-Sites trotz teilweise langer Tragedauer extrem selten. Oberflächliche Hautinfektionen treten allerdings sehr häufig auf. Nahezu jeder Patient entwickelt im Laufe der Behandlung ein Problem dieser Art und sollte schon im Vorfeld darüber aufgeklärt werden. Diese oberflächlichen Pin-Site-Infektionen lassen sich jedoch in den allermeisten Fällen mit oraler Antibiotikatherapie gut beherrschen. Eine topische Behandlung mit lokaler Reinigung oder Desinfektion sollte aufgrund der zusätzlichen Reizung vermieden werden. Revisionsbedürftige septische Lockerungen oder Osteitiden bilden Raritäten (Camathias et al.
2012; Schiedel und Rodl
2013).
Auch unabhängig von diesen infektiösen Problemen müssen externe Fixateurbehandlungen als unkomfortabel und komplikationsträchtig angesehen werden (s. Abb.
10). Paley differenziert dabei zwischen Problemen, Schwierigkeiten und echten Komplikation (Paley
1990). Die Komplikationsrate einer Fixateurtherapie steigt einerseits mit der Schwere der zu behandelnden Deformität und damit dem Ausmaß der durchzuführenden Verlängerung bzw. Korrektur und andererseits mit der Gesamtbehandlungszeit (s. unten).
Nach erfolgter Distraktion härtet der
Kallus zu Knochen aus. Durchschnittlich umfasst diese Konsolidierungsphase die doppelte Zeit der vorangegangenen Distraktionsphase und begründet somit die notwendige Gesamttragedauer des Fixateur externe. Orientierend muss pro Zentimeter Verlängerung eine Tragedauer von 1 Monat für das Femur und 1,5 Monate für die Tibia kalkuliert werden (Vogt et al.
2020a).
Insbesondere angeborene, aber auch erworbene Skelettdeformitäten mit erheblichen BLD in Kombination mit Achs- und/oder Torsionsfehlern schon bei jungen Kindern stellen die klassische Indikation für externe Fixateure dar (s. Abb.
11 und
12) (Hefti
2008; Paley
2000). Wie voranstehend erläutert, sollte das geeignete Fixateursystem unter Berücksichtigung der zu korrigierenden Deformität gewählt werden. Isolierte Verlängerungen sind meist mit unilateralen Schienenfixateuren zu erreichen. Kallusdistraktionen mit simultaner gradueller Korrektur komplexer Fehlstellungen lassen sich ausgezeichnet mit Ringfixateuren realisieren. Bestimmte Achs- und Torsionsfehler sollten gerade bei zusätzlicher Verlängerung aufgrund resultierender Weichteilbelastungen nicht akut, sondern fixateurgesteuert kontinuierlich durchgeführt werden (z. B. kniegelenksnahe Varisierung mit Belastung des lateral [konkavseitig] gelegenen N. peroneus) (Paley
1988,
1990; Schiedel und Rodl
2013). Auch gelenkübergreifende Fixateurmontagen können unter bestimmten Umständen indiziert sein. So werden Fixateursysteme einerseits zur weichteiligen Gelenkreposition bzw. -unterstellung (z. B. bei höhergradigen kongenitalen Tibiahypoplasien) und andererseits zur Sicherung instabiler angrenzender Gelenke bei Knochenverlängerungen eingesetzt (s. unten und Abb.
17) (Mindler et al.
2016; Paley
1990; Schiedel und Rodl
2013).
Im Wachstumsalter ermöglichen externe Fixateursysteme eine stabile Fixation der zu bewegenden Knochenfragmente unter Schonung der Epiphysenfugen (s. Abb.
11). Bei Kindern und Jugendlichen kann in der Regel eine unbeeinträchtigte Wundheilung und Kallusregeneratbildung erwartet werden.
Auch psychosoziale Aspekte lassen Extremitätenverlängerungen bereits im Kindesalter günstig erscheinen (Moraal et al.
2009; Paley
2000; Schiedel und Rodl
2013; Hamilton et al.
2021). Unselbstständigkeit und Mobilitätseinschränkungen als Folge der Fixateurbehandlung alterieren einen ohnehin in allen Lebensbereichen von seiner Familie abhängigen Patienten im Vorschul- oder Grundschulalter deutlich weniger als in späteren Lebensabschnitten nach erfolgter Individualisierung mit zunehmender Eigenständigkeit und privaten, schulischen oder gar beruflichen Verpflichtungen. Selbstverständlich sollten therapiebedingte schulische Ausfallzeiten möglichst vermieden oder zumindest so gering wie möglich gehalten werden. Psychologisch wichtig bei solch einer invasiven und langwierigen Behandlung ist für die Kinder eine feste Verankerung in ihrer Familie und „peer group“. Elektive Fixateurbehandlungen zur Einschulung oder zum Übergang auf die weiterführende Schule sollten nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden.
Große BLD lassen sich nicht mit einer einzigen Verlängerungsprozedur ausgleichen, sondern erfordern in der Regel mehrere zeitlich aufeinanderfolgende Behandlungsphasen im Verlauf des gesamten Wachstumsalters. Dabei hat es sich bewährt, die kurze Extremität abhängig von der Entwicklung des Ausmaßes der BLD durch geschickte Terminierung der Distraktionsphasen im Prinzip „mitwachsen“ zu lassen. So versuchen die Autoren, die Entwicklung von BLD über 5 cm hinaus und damit die Notwendigkeit für aufwendigere und funktionell einschränkendere orthopädietechnische Versorgungen zu vermeiden.
Ein Längengewinn von bis zu 6 cm pro behandeltem Knochen zeigt in der Regel ein akzeptables Komplikationsprofil und ist auch im frühen Kindesalter möglich (Paley
1988; Paley
1990; Schiedel und Rodl
2013). Bei einer prognostizierten Differenz von bis zu 10 cm werden so spätere Operationsschritte oder die orthetische Versorgung vereinfacht. Ebenso ist eine Kombination mit einer späteren ED (s. oben) möglich, mit der beispielsweise eine Rest-BLD zwischen 2–5 cm ausgeglichen werden kann. Limitiert wird der maximal mögliche Längengewinn einerseits durch die Gesamtbehandlungsdauer, die nach Ansicht der Autoren einen Zeitraum von jeweils 6 Monaten mit angelegtem Fixateur nicht überschreiten sollte. Andererseits steigt die Rate an Komplikationen bei Distraktionen von mehr als 6 cm sprunghaft an (Paley
1990; Schiedel und Rodl
2013). Hier sind Brüche und/oder Achsabweichungen im Kallusregenerat, selten neurovaskuläre Schäden, insbesondere aber aus verstärkter Muskel- und Bandspannung resultierende Gelenkkontrakturen bis -luxationen (s. Abb.
17) gefürchtet (Mindler et al.
2016; Paley
1990; Schiedel und Rodl
2013).
Aus diesen Gründen sind während der gesamten Distraktionsphase regelmäßige klinische und auch radiologische Verlaufskontrollen in kurzen Abständen von etwa 2 Wochen zwingend erforderlich. Zur Dehnung der Weichteilstrukturen und Verhinderung von Gelenkkontrakturen sollte jede Verlängerung durch physiotherapeutische Behandlung begleitet werden. Bei Verschlechterung des Bewegungsumfangs der angrenzenden Gelenke unter Distraktion (z. B. einer Kniebeugekontraktur oder einer Spitzfußentwicklung) muss die Distraktionsgeschwindigkeit reduziert oder die Distraktion sogar vorzeitig abgebrochen werden. Bei drohender oder bereits stattgehabter Gelenkluxation kann es notwendig sein, die bereits gewonnene Länge zumindest teilweise wieder aufzugeben. Am Kniegelenk kann eine geschlossene Reposition unter Extension mit anschließender Retention durch Anlage einer Oberschenkelgipshülse über den liegenden Fixateur („brace over fixator“) in Kurznarkose indiziert sein (Schiedel und Rodl
2013). Die Beurteilung der Stabilität der angrenzenden Gelenke bereits vor Verlängerungsbeginn ist deshalb von essenzieller Bedeutung. Insbesondere angeborenen Defekte (z. B. der kongenitale Femurdefekt oder die fibulare Hemimelie) weisen häufig eine Kreuzbandhypo- oder gar -aplasie mit resultierender sagittaler Knieinstabilität auf (s. Abb.
17). Azetabuläre Überdachungsdefizite sowie femorale Retrotorsionen können bei kongenitalen Femurdefekten koxale Instabilitäten bedingen (s. Abb.
11). In solchen Fällen können vorbereitend gelenkstabilisierende operative Maßnahmen notwendig werden. Bei operativ nicht suffizient stabilisierbaren Gelenken besteht die Möglichkeit einer primär gelenkübergreifenden Fixateurmontage (s. oben und Abb.
17) (Ganger et al.
2011; Mindler et al.
2016; Paley
2002; Paley
1990; Schiedel und Rodl
2013).
Mit den genannten Fixateurmodellen ist im Normalfall auch in der Verlängerungsphase Belastungsstabilität gegeben. Eine eigene Untersuchung konnte zeigen, dass die Alltagsmobilität gerade bei Kindern unter Fixateurbehandlung sehr gut ist. Etwa zwei Drittel der mit einem TSF am Unterschenkel versorgten Kinder liefen kurze Strecken frei und 90 % waren zumindest an Unterarmgehstützen mobil (Schiedel et al.
2012).
Trotzdem gab es bereits ab den 1950er-Jahren Bestrebungen, die Gesamtbehandlungsdauer mit montiertem Fixateur externe zu reduzieren. Fixateurkontrollierte Verlängerungen wurden mit intramedullären Kraftträgern kombiniert, die entweder bereits während („lengthening over nail“, LON) (Paley et al.
1997) oder direkt nach Beendigung der Kallusdistraktion („lengthening and then nailing“, LATN) (Rozbruch et al.
2008) implantiert wurden, um den externen Fixateur frühzeitig bereits vor knöcherner Konsolidierung entfernen zu können. Zu beachten ist, dass ein LON des Femurs aufgrund der intramedullären Nagelschienung nur eine Verlängerung entlang der anatomischen Femurachse zulässt (s. unten). Im jungen Kindesalter sollte diese Technik allerdings noch nicht zur Anwendung kommen. Die noch geöffneten Apo- bzw. Epiphysenfugen können jedoch minimalinvasiv mittels elastischer Markraumschienen („titanium elastic nails“, TENS) und sog. Rush-Pins („lengthening and then rodding“, LATR) (s. Abb.
11) (Abdelgawad et al.
2017; Schiedel et al.
2013) oder Osteosyntheseplatten („plating after lengthening“, PAL) (Uysal et al.
2007) sicher geschont werden. Außerdem verhindern die intra- oder extramedullären Kraftträger effektiv Frakturen oder Verbiegungen des Kallusregenerats (Abdelgawad et al.
2017; Schiedel et al.
2013; Uysal et al.
2007).
Die Autoren präferieren intramedulläre
Stabilisatoren, da diese einerseits zu einer Anfrischung und Markraumausformung im Bereich des
Kallus führen und andererseits minimalinvasiv implantiert werden können und nur eine geringe Weichteilirritationen hervorrufen. Vermeintliches Risiko aller vorgenannten Verfahren ist die Entwicklung von Osteitiden durch simultane oder sukzessive Kombination externer und interner Fixationssysteme. Ein erhöhtes Infektrisiko durch einzeitigen Wechsel von externen Fixateuren auf TENS-Nägel wurde in einer eigenen pädiatrischen Kohorte jedoch nicht beobachtet (Schiedel et al.
2013). Nach Unterschenkelverlängerung kann die Fixateurtragezeit durch Anlage eines Oberschenkelgehgipses nach Fixateurdemontage verkürzt werden (Iobst et al.
2017; Schiedel und Rodl
2013).
Verschiedene radiologische Klassifikationssysteme zur Beurteilung der Güte und Stabilität von Kallusregeneraten (z. B. nach Li (Li et al.
2006)) wurden vorgestellt, um den sicheren Zeitpunkt zur Fixateurdemontage festlegen zu können. Diese Klassifikationen finden bis heute allerdings wenig Anwendung in der klinischen Routine, sondern werden vorrangig zu wissenschaftlichen Zwecken eingesetzt. Erfahrene Extremitätenrekonstrukteure gaben in einer erst kürzlich durchgeführten wissenschaftlichen Befragung in absteigender Häufigkeit folgende klinische und radiologische Kriterien für ihre Entscheidung über den sicheren Zeitpunkt der Fixateurdemontage nach Kallusdistraktion an: Vollbelastungsfähigkeit, radiologische Darstellung von „3 Kortikalices“, Schmerzfreiheit, nach Dynamisierung und nach einem definierten Zeitraum (Iobst et al.
2017). Nach Meinung der Autoren ist jedoch insbesondere zur Festlegung des geeigneten Demontagezeitpunkts – wie auch schon während der gesamten Behandlungsphase – die individuelle Erfahrung des Behandlers absolut entscheidend für einen möglichst optimalen Therapieerfolg.
Intramedulläre Distraktionsnägel
Auch
bei den voranstehend beschriebenen Kombinationsverfahren (s. oben) erfordert die eigentliche Kallusdistraktion den Einsatz externer Fixateure zur Bewegung der Knochenfragmente. Die Entwicklung vollimplantierbarer Verlängerungsmarknägel (s. Abb.
13–
18) seit den 1990er-Jahren versprach eine deutlich komfortablere Möglichkeit zur Kallusdistraktion ohne die spezifischen verfahrensimmanenten Komplikationen der Fixateurbehandlung wie Pin-Site-Probleme und unschöne Narbenbildungen. Die Nägel waren zunächst reinen Knochenverlängerungen vorbehalten und wurden aufgrund ihrer initial beträchtlichen Dimensionen und eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten zunächst ausschließlich am ausgewachsenen Patienten eingesetzt. In den klinischen Routineeinsatz gelangten die intramedullären Verlängerungssysteme in Form mechanisch oder motorisch betriebener Verlängerungsmarknägel etwa seit der Jahrtausendwende (Baumgart et al.
1999; Cole et al.
2001).
Der von Baumgart und Betz Anfang der 1990er-Jahre entwickelte Fitbone®-Nagel (Wittenstein, Igersheim, Deutschland, mittlerweile Orthofix, Verona, Italien) bleibt bis heute der einzige Nagel mit vollständig mitimplantiertem Antrieb. Die Aktivierung des Elektromotors erfolgt von extern über eine Sonde durch einen Impulstransmitter. Der Nagel funktioniert zwar sehr zuverlässig und stabil (Baumgart et al.
1999), war aber lizenzbedingt bis vor kurzer Zeit nur eingeschränkt verfügbar.
Der mechanisch über einen Ratschenmechanismus angetriebene intramedulläre kinetische Distraktor (ISKD®, Orthofix, Verona, Italien) war deshalb über viele Jahre der einzige frei kommerziell erhältliche Verlängerungsmarknagel
. In einer eigenen Studie konnte eine hohe Präzision der gewünschten Verlängerung gefunden werden. Die schlechte Kontrollierbarkeit seines mechanischen Antriebs bedingte jedoch die Hauptprobleme des Nagels. Auf der einen Seite kam es zu ausbleibenden Distraktionen mit vorzeitigen Konsolidierungen, auf der anderen Seite zu unkontrolliert schneller Verlängerung (sog. „runaway nail“) mit Regeneratinsuffizienz bis hin zur Pseudarthrosebildung, Implantatversagen sowie Gelenkkontrakturen und neurovaskulären Schäden (Schiedel et al.
2011).
Aufgrund dieser Schwierigkeiten ist das System seit 2011 nicht mehr verfügbar. Green stellte nahezu zeitgleich den Precice®-Nagel (NuVasive, San Diego, USA) vor, der über ein internes Planetenrollengetriebe durch rotierende Magnetfelder in einer elektromotorisch angetriebenen externen Steuereinheit kontrolliert wird (s. Abb.
13–
18). Im Gegensatz zu den zuvor dargestellten Systemen erlaubt dieser Nagel eine
bidirektionale Steuerung mit Distraktion, aber auch Kompression. Der Nagel ermöglicht abhängig von seiner initialen Länge Distraktionen um bis zu 8 cm. In einer vergleichenden Untersuchung fand unsere Arbeitsgruppe eine mit den Vorgängersystemen mindestens vergleichbar hohe Genauigkeit und eine präzise Kontrollierbarkeit des Nagels (Schiedel et al.
2014).
Stellten Kombinationen aus Verkürzung mit Achs- und/oder Torsionsfehlern bis dato klassische Indikationen für den Einsatz externer Fixateure dar (s. oben), so wurden in den vergangenen Jahren aufgrund der guten Erfolge und der hohen Akzeptanz der bedienfreundlichen motorisierten Verlängerungsmarknägel neben reinen Knochenverlängerungen zunehmend auch aufwendige Rekonstruktionen komplexer Deformitäten nagelkontrolliert durchgeführt (s. Abb.
15 und
16) (Rozbruch et al.
2014).
In diesem Zusammenhang haben sich über das letzte Jahrzehnt sicherlich neue Behandlungsparadigmen in der Deformitätenrekonstruktion etabliert. So werden akute Achskorrekturen simultan durch Fragmentkontrolle über gezielte intramedulläre Nagelführung (unter Verwendung von Applikationshülsen, rigiden Markraumbohrern und/oder Pollerschrauben) durchgeführt (Fragomen und Rozbruch
2017; Horn et al.
2019; Iobst et al.
2018; Kucukkaya et al.
2015; Lenze und Krieg
2016; Muthusamy et al.
2016). Dabei müssen alle Deformitätenkorrekturen mit Ausnahme der Verlängerung bereits intraoperativ endgültig hergestellt werden. Eine fundierte präoperative Korrekturplanung mit nachfolgend exakter intraoperativer Umsetzung ist deshalb absolut entscheidend für den gewünschten Therapieerfolg.
Bei femoralen Rekonstruktionen mit nagelkontrollierter Verlängerung entlang der anatomischen Schaftachse muss dabei eine mögliche Lateralverschiebung der mechanischen Beinachse berücksichtigt werden (s. unten) (Baumgart
2009; Paley
2002). Das Ausmaß der akuten Achs- und/oder
Torsionskorrekturen wird von der Schwere und Lokalisation der Deformitäten und von den möglicherweise resultierenden Weichteilbelastungen begrenzt (s. oben). Die entstehenden angulären und translatorischen Dislokation im Bereich der meist perkutan und damit
additiv durchgeführten Osteotomien (s. oben) bedingen einen reduzierten interfragmentären Knochenkontakt (s. Abb.
15 und
16) und können deshalb die Kallusregeneratbildung verzögern oder beeinträchtigen. Aus diesem Grund wurde empfohlen, akute Achskorrekturen vor Beginn einer Kallusdistraktion am Femur auf 15° und an der Tibia auf 5–10° zu beschränken. Um eine suffiziente Regeneratausformung in solchen Fällen günstig zu beeinflussen, wurde zu verlängerten Latenzzeiten über 7–10 Tage hinaus bis zum Distraktionsbeginn, zu protrahierten Distraktionsgeschwindigkeiten unter 2/3 bis 1 mm pro Tag sowie zur Verteilung der täglichen Gesamtverlängerungen auf mehrere Zeitpunkte geraten (Green
2017). Eine kürzlich publizierte türkische Vergleichsstudie konnte jedoch keine Beeinträchtigung der Knochenheilung nach akuten Korrekturen und Kallusdistraktionen mit modernen Verlängerungsmarknägeln finden (Karakoyun et al.
2015).
Sollten multifokale Osteotomien zur Einbringung eines Verlängerungsmarknagels bei multiapikalen und/oder mehrdimensionalen Fehlstellungen erforderlich sein, können alle Osteotomien, die nicht nagelgesteuert zur Kallusdistraktion genutzt werden sollen, plattenosteosynthetisch überbrückt werden (Lenze und Krieg
2016; Vogt et al.
2020b).
Auch sequenzielle Deformitätenkorrekturen
unter ausschließlicher Verwendung interner Fixationsmethoden werden zunehmend alternativ zu einzeitigen fixateurgesteuerten Gesamtrekonstruktionen in mehreren Dimensionen durchgeführt. Im gleichen Eingriff oder in aufeinanderfolgenden Operationen erfolgen dabei in der Regel zunächst akute Achskorrekturen, die je nach Art und Lokalisation der Fehlstellung in auf- oder auch in zuklappender Technik durchgeführt und meist plattenosteosynthetisch stabilisiert werden. Anschließend werden dann Verlängerungsmarknägel zum graduellen Längenausgleich implantiert (Jardaly et Gilbert
2021).
Akute
Torsionskorrekturen sind dabei prinzipiell im Zuge beider Eingriffe möglich (s. Abb.
18). Diese sukzessiven Rekonstruktionen sind insbesondere in Situationen sinnvoll, in denen der Ort der Achskorrektur und der geplanten Kallusdistraktion aus anatomischen (z. B. juxtaartikuläre Fehlstellungen) und/oder biologischen Gründen (z. B. lokal beeinträchtigte Knochenqualität mit Gefahr insuffizienter Regeneratbildung) nicht übereinstimmen können oder akute monofokale Korrekturen über Marknägel technisch nicht umsetzbar sind. Bereits bei Planung und Durchführung frontaler Achskorrekturen sollte auch bei diesem Vorgehen am Femur die resultierende Valgisierung der Gesamtbeinachse durch anschließende Verlängerung entlang der anatomischen Schaftachse bedacht werden (s. unten).
Die Entwicklung moderner Verlängerungsmarknägel hat dazu geführt, dass sekundäre (iatrogene) Verkürzungen als Zwischenergebnis in der rekonstruktiven orthopädischen Chirurgie zumindest akzeptiert werden. So wurde bei knöchernen Defekten (z. B. nach Tumorresektion, Infekt oder komplexen Frakturen) traditionell versucht, mit aufwendigen einzeitigen Rekonstruktionen die ursprüngliche Knochenlänge zwingend zu halten (z. B. Segmenttransport, Spongiosaplastik, Masquelet-Technik). Die Komplikations- und Versagensraten dieser in der Regel langwierigen und unkomfortablen fixateurkontrollierten Methoden gelten jedoch als vergleichsweise hoch. Alternative Konzepte mit dem primären Ziel einer Defektrekonstruktion mit stabilem kontinuierlichen Knochen akzeptieren eine zwischenzeitliche Verkürzung des Knochens (Mahaluxmivala et al.
2005; Tetsworth et al.
2017). Zur Stabilisierung dieses ersten Rekonstruktionsschritts kommen sowohl externe Fixateure als auch interne Osteosyntheseverfahren (Platten und Marknägel) in Betracht. Die Limitierungen und das Komplikationsprofil akuter Knochenverkürzungen wurden bereits voranstehend detailliert beschrieben (s. oben). Auch graduelle Verkürzungen über externe Fixateure, aber auch im komprimierenden Modus des Precice®-Nagels (Precice Unyte®, NuVasive, San Diego, USA) können bei langstreckigen Defekten sinnvoll sein. Nach vollständiger Sanierung und Konsolidierung des ossären Defekts kann die ursprüngliche Länge des zunächst verkürzten Knochens dann sekundär mit einer meist extrafokal in gesunden Abschnitten angelegten, marknagelgesteuerten Kallusdistraktion rekonstruiert werden.
Der Vollständigkeit halber sollen auch moderne Verfahren zum Segmenttransport ohne Verwendung externer Fixateure genannt werden. Motorisierte Verlängerungsmarknägel werden zur Bewegung des mobilen Transportfragments genutzt, während Osteosyntheseplatten die statischen Fragmente unter Erhaltung der Gesamtlänge stabilisieren („plate-assisted bone segment transport“, PABST) (Kahler Olesen
2018). In Ausnahmefällen kann auch eine intakte Fibula in Kombination mit orthetischer Versorgung eine ausreichende Stabilsierung während eines nagelkontrollierten tibialen Segmenttransportes gewährleisten („fibula-assisted segment transport“, FAST) (Rachbauer et al.
2021). Noch eleganter ist die Verwendung eines speziellen vollimplantierbaren Marknagels, der einerseits die statischen Fragmente stabilisieren und andererseits das mobile Transportfragment mithilfe der voranstehend erläuterten Magnettechnik bewegen kann. Dieses Precice® Bone Transport System (NuVasive, San Diego, USA) wurde erst kürzlich sowohl auf dem US- als auch auf dem europäischen Markt als Medizinprodukt zugelassen und bisher nur anhand von Fallberichten wissenschaftlich betrachtet (Zeckey et al.
2020).
Die Einführung kleiner Nageldimensionen (minimaler Durchmesser 8,5 mm und minimale Länge 15 cm) und geeigneter Nagelkonfigurationen für verschiedene Zugänge und Knochen (z. B. antegrad femoral [s. Abb.
14 und
18], retrograd femoral [s. Abb.
15–
17], antegrad tibial [s. Abb.
13], universal) mit dem Precice®-System erweiterte den Anwendungsbereich intramedullärer Verlängerungsverfahren auf noch im Wachstumsalter befindliche Patienten (Radler et al.
2016). Die sichere Anwendung des minimal 10 mm durchmessenden Fitbone® wurde bisher ausschließlich im Adoleszentenalter kurz vor Wachstumsabschluss evaluiert (Al-Sayyad
2012; Krieg et al.
2008). Hingegen erlaubt der Precice® über einen antegraden Trochanterzugang eine marknagelgesteuerte Femurverlängerung bereits ab einem Alter von etwa 8,5 Jahren bei Mädchen und 10 Jahren bei Jungen eine nagelkontrollierte Verlängerung ohne apophysäre
Wachstumsstörungen oder Beeinträchtigungen der koxalen Durchblutung (s. Abb.
18) (Frommer et al.
2018; Hammouda et al.
2017; Radler et al.
2016). Zur Schonung der kniegelenksnahen Wachstumsfugen und damit zur Vermeidung eines iatrogenen Minder- oder Fehlwachstums sollten femoral retrograde und tibial antegrade Implantationen frühestens ab einem Alter von 12 Jahren bei Mädchen und 14 Jahren erfolgen. Frühere Anwendungen sind in Einzelfällen bei bereits irreversibel geschädigten oder prämatur geschlossenen Wachstumsfugen möglich, bedürfen jedoch präoperativ einer kritischen Risikoanalyse (s. Abb.
15 und
16) (Frommer et al.
2018; Vogt et al.
2020b).
Bei partiellen Fugenschäden sollte die nagelkontrollierte Rekonstruktion der resultierenden Verkürzung und Fehlstellung unbedingt durch eine permanente ED der noch aktiven Fugenanteile ergänzt werden, um ein Rezidiv der Deformität zu verhindern (s. Abb.
15) (Frommer et al.
2018). Im Wachstumsalter lassen sich Längenrekonstruktionen über Marknägel außerdem elegant mit kniegelenksnahen wachstumslenkenden Eingriffen kombinieren (s. oben) (Stevens
2016). So führen die Autoren als letzten Schritt der Rekonstruktion fibularer Hemmungsfehlbildungen häufig nagelkontrollierte Femurverlängerungen und bedarfsweise Retrotorsionskorrekturen über einen antegraden Trochanterzugang in Kombination mit temporären Hemi-ED kniegelenksnah medial zur Valguskorrektur durch (s. Abb.
18).
Auch bei nicht präexistenter femoraler Valgusfehlstellung kann mithilfe einer reversiblen Wachstumsblockade am distalen Femur medial der im Folgenden dargestellten biomechanische Problematik entgegengewirkt werden. So kann eine nagelgesteuerte Femurverlängerung im Gegensatz zur Anwendung externer Fixateursysteme immer nur entlang der anatomischen, nicht jedoch entlang der mechanischen Achse erfolgen. Aufgrund der geometrischen Gegebenheiten mit einem physiologischerweise bestehenden Winkel zwischen anatomischer und mechanischer Femurachse (AMA) von 7° kommt es zwangsläufig zu einer Medialisierung des Kniegelenks bzw. zu einer Valgisierung der mechanischen Gesamtbeinachse. Pro 1 cm Verlängerung resultiert näherungsweise eine Lateralisation der mechanischen Beinachse von etwa 1 mm. Bei zuvor neutraler frontaler Beinachse bleiben somit Verlängerungen entlang der Femurschaftachse bis 10 cm in den meisten Fällen ohne klinische Relevanz oder liegen im Bereich der Messungenauigkeit (s. Abb.
14 und
18) (Burghardt et al.
2012). Allerdings können Achs- und Längenrekonstruktionen ohne Berücksichtigung dieses Phänomens in Fällen mit präexistenten frontalen Deformitäten am distalen Femur zu signifikanten mechanischen Achsfehlstellungen bei Abschluss der Verlängerung führen. Bei retrograder Nagelapplikation können diese mechanischen Achsabweichungen durch kompensierende akute Schwenkung des distalen Fragments (insbesondere in Abhängigkeit von geplanter Verlängerungsstrecke, vorbestehender frontaler Fehlstellung und Nageldimensionen) verhindert werden (s. Abb.
15). Für die entsprechende präoperative Korrekturplanung hat sich insbesondere die von Baumgart vorgestellte „Reverse planning“-Methode durchgesetzt (Baumgart
2009).
Selbstverständlich können neben den besprochenen frontalen und transversalen Deformitäten auch sagittale Fehlstellungen in akuter Technik in Kombination mit anschließender gradueller Kallusdistraktion über Marknägel rekonstruiert werden (s. Abb.
16) (Frommer et al.
2018).
Auch die physiologische sagittale Knochenkonfiguration darf insbesondere am Femur bei Einsatz von Verlängerungsmarknägeln nicht außer Acht gelassen werden. Die im Gegensatz zu anatomisch präformierten Traumanägeln im Bereich ihres internen Verlängerungsmechanimus vollständig gerade konfigurierten Distraktionsnägel erfordern zur Implantation entweder einen Ausgleich der physiologischen femoralen Antekurvation durch Osteotomie im sagittalen Krümmungsscheitel oder die Auswahl besonders kurzer Nägel, um ein Auflaufen des Nagels auf die anteriore Kortikalis zu verhindern. Eine Markraumerweiterung durch sog. Overreaming (Nageldurchmesser + 2 mm) wirkt diesem Problem entgegen.
Als größter Nachteil aller genannten Verlängerungsmarknägel galt bisher die im Vergleich zu externen Fixateur-Systemen fehlende Belastungsstabilität mit entsprechendem Risiko- und Komplikationsprofil (z. B. Inaktivitätsatrophie/-osteopenie, Thrombosegefahr). Kürzlich wurde durch Materialwechsel von Titan auf Stahl mit dem Precice Stryde® (NuVasive, San Diego, USA) ein belastungsstabiles Pendant zum konventionellen Precice®-Nagel zugelassen. Der Nagel wurde jedoch mittlerweile aufgrund klinisch relevanter Biokompatibilitätsprobleme wieder vom Markt genommen (Frommer et al.
2021).
Aufgrund der guten Resultate konkurrieren die Verlängerungsmarknägel inzwischen bei moderaten BLD zwischen 2–5 cm auch im Wachstumsalter mit den Verfahren der ED (s. oben). Auch in der Literatur wird ein mit der ED äquivalentes Indikationsspektrum für eine intramedulläre Verlängerung ab einer prognostizierten BLD von 2 cm angegeben (Moraal et al.
2009; Vogt et al.
2020a).
Bei aller Euphorie muss jedoch beachtet werden, dass sich die grundlegenden Prinzipien der Deformitätenrekonstruktion auch mit den modernen intramedullären Distraktionsnägeln nicht verändert haben und unbedingt weiter Berücksichtigung finden müssen. Viele der schwerwiegenden Risiken und Komplikationen bei Deformitätenkorrekturen sind unabhängig von den zur Rekonstruktion genutzten Instrumenten. Sie beruhen vielmehr auf den pathoanatomischen Veränderungen der zu behandelnden Extremität. Eine prophylaktische Sicherung angrenzender Gelenke bei Knochenverlängerungen lässt sich mithilfe externer Fixateursysteme durch gelenkübergreifende Montage erreichen (s. Abb.
13 und
17). Bei Anwendung von Verlängerungsmarknägeln besteht hingegen die Möglichkeit, die Gelenke eingeschränkt mit externen
Stabilisatoren (Gips, Orthesen) vor Kontrakturen und den gefürchteten Luxationen zu bewahren (s. oben) (Mindler et al.
2016; Schiedel und Rodl
2013). Zur Vermeidung von Equinusdeformitäten bei nagelkontrollierten Unterschenkelverlängerungen besteht zudem die Option, das Sprunggelenk temporär für den Zeitraum der Verlängerung mit einer extraartikulär eingebrachten kalkaneotibialen Schraube in Neutralposition zu halten (s. Abb.
13) (Belthur et al.
2008). Die Gefahr einer Spitzfußentwicklung bei tibialen Verlängerungen mit belastungsfähigen Nägeln ist aufgrund der ständigen Dehnung der Wadenmuskulatur während der Standphase unter Belastung geringer einzuschätzen.
Extramedulläre Distraktionsysteme
Bereits 1972 wurde von Schöllner eine Verlängerungsplatte vorgestellt, die eine fugenschonende extramedulläre Montage zur Distraktion
im Wachstumsalter erlaubte. Bei diesem „halboffenen“ System erfolgte die mechanische Verlängerung mittels Schraubendreher über einen perkutan ausgeleiten Kunststoffschlauch. Die Implantation dieser enorm auftragenden Distraktionseinheit erforderte sehr invasive Zugänge mit Kompromittierung von Weichteilen und Knochenbiologie. Entsprechend hoch war die Komplikationsrate des Verfahrens mit Infekt- und/oder Pseudarthrosebildung, sodass es nie zu einer breiten Anwendung bzw. Etablierung der Methode kam (Schollner
1972).
Die erst kürzlich publizierte zulassungsüberschreitende Anwendung des Precice®-Nagels zur Femurverlängerung am wachsenden Skelett mit extramedullärer Fixationstechnik (Iobst und Bafor
2021), verdeutlicht den sowohl patienten- als auch behandlerseitig bestehenden Wunsch nach vollständig implantierbaren Distraktionssystemen auch für das Kindesalter.
In den USA war kürzlich eine im Vergleich zum Schöllner-Distraktor deutlich schlanker gestaltete Verlängerungsplatte in verschiedenen Längen (minimaler interphysealer Abstand etwa 15 cm) zugelassen, die minimalinvasiv perkutan eingeschoben und winkelstabil fixiert werden konnte. Die Platte nutzte das magnetfeldkontrollierte Antriebsmodell des Precice®-Systems (s. oben) und bot mit maximalen Distraktionsstrecken von zunächst 3,5–4,5 cm eine vollständig implantierbare Möglichkeit zur Kallusdistraktion auch im noch jüngeren Kindesalter (<8,5 Jahre) (Precice® Plate, NuVasive, San Diego, USA). Da die aus Stahl gefertigte Platte jedoch in Analogie zum Precice Stryde® (s. oben) Biokompatibilitätsprobleme aufwies, erreichte sie in Europa bisher keine Marktreife und ist auch in den USA derzeit nicht verfügbar.
Bei physiologischem Wachstum ist eine interphyseale Länge von 15 cm geschlechtsindifferent bereits in einem Alter von 1,5 Jahren femoral bzw. 2,5 Jahren tibial vorhanden (Exner
1990). Selbstverständlich wird diese zur fugenschonenden Implantation der kürzesten Verlängerungsplatte erforderliche interphyseale Knochenlänge bei den meisten Beinverkürzungen mit reduziertem bzw. retardiertem Wachstum erst in späterem Lebensalter erreicht. Sollten sich die Probleme der Biokompatibilität durch Materialanpassung zukünftig lösen lassen, könnte dieses extramedulläre interne System gerade für große BLD über 10 cm (insbesondere für die kongenitalen Reduktionsdefekte) eine deutlich komfortablere und komplikationsärmere Möglichkeit für die in der Regel mehrfachen Verlängerungsprozeduren im Verlauf des Wachstums darstellen.