Prognose und Lebensqualität
Regelmäßig wird auf der Intensivstation nicht nur die Frage nach dem Therapieziel sondern auch damit verknüpft die Frage nach der Prognose des Patienten gestellt. Die Prognosestellung soll helfen, die Therapieziele realistisch und für den Patienten sinnvoll zu setzen. Dabei muss zwischen der kurzfristigen und der langfristigen Prognose unterschieden werden.
Die Prognosebestimmung ist kein rein formalistischer Prozess, sondern setzt sich aus einer Vielzahl von Einflussfaktoren zusammen, die eine subjektive Einordnung und Gewichtung durch die auf der Intensivstation tätigen Ärzte und deren Erfahrungen erleben.
Die Abschätzung der Prognose ist eine der schwierigsten aber auch eine der zentralen Aufgaben der
Intensivmedizin. Um den Intensivmediziner bei seiner Prognoseeinschätzung zu unterstützen, wurden eine Reihe prognostischer Scoring-Systeme entwickelt. Prognostische Scores sind
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APACHE (Acute Physiology And Chronic Health Evaluation), APACHE II, APACHE III, APACHE IV
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SAPS (Simplyfied Acute Physiology Score), SAPS II, SAPS III
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MODS (Multiple Organ Dysfunction Score),
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SOFA (Sequential Organ Failure Assessment),
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MPM (Mortality Prediction Model), MPM II.
Die Hauptlimitation dieser prognostischen Scores besteht darin, dass eine Aussage bezüglich des Letalitätsrisiko s nur für eine ganze Patientengruppe, aber nicht für den einzelnen Patienten möglich ist (Pilz und Werdan
1998). Die hier ermittelte Risikoabschätzung liefert somit nur eine statistische Wahrscheinlichkeit und keine individuelle Prognose. Das Outcome und der Schweregrad der Erkrankung werden mit der Wahrscheinlichkeit, im Krankenhaus zu sterben, gleichgesetzt. Diese Reduktion auf nur einen Outcomeparameter wird aber dem einzelnen Patienten nicht gerecht, da die Prognose-Scores keinerlei Aussage über die
Lebensqualität nach dem Intensivaufenthalt ermöglichen. Somit können prognostische Scores für individuelle Überlebensprognosen oder Therapieentscheidungen nur Hilfsmittel, nicht aber ausschlaggebend sein.
Scoring-Systeme erlauben keine Aussage über das individuelle Letalitätsrisiko des einzelnen Patienten, sondern liefern nur eine statistische Wahrscheinlichkeit. Auch können sie keine Aussage über die
Lebensqualität treffen.
Obwohl das Alter und der Schweregrad der Erkrankungen intensivmedizinisch betreuter Patienten in den letzten Jahren stetig zugenommen hat, konnten große Populationsstudien einen Rückgang der Mortalität von bis zu 35 % im Beobachtungszeitraum von 1988–2012, zeigen (Zimmerman et al.
2013). Für die
Sepsis zeigt sich der gleiche Trend mit einem Rückgang der Mortalität über die Jahre (Bauer et al.
2020). Mit der stetigen Verbesserung des Überlebens rückt die Frage nach dem „wie geht es nach der Intensivtherapie weiter?“ zunehmend in den Focus. Die
Lebensqualität gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Zur Frage, wie
Lebensqualität definiert wird und welche Aspekte dabei eine Rolle spielen, gibt es verschiedene Ansichten. Lebensqualität wird z. B. von der WHO als „… die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen, in denen sie lebt, und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen“ definiert (World Health Organization
1948). So wird in Bezug auf die Gesundheit diese nicht allein als das Freisein von Krankheit definiert, sondern umfasst auch das geistige und soziale Wohlbefinden (World Health Organization
1948).
Im medizinischen Bereich wird häufig von der gesundheitsbezogenen
Lebensqualität als multimodales Konzept gesprochen. Diese beinhaltet körperliche, mentale, soziale und verhaltensbezogene Komponenten des Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit aus Sicht der Patienten und/oder der von Beobachtern.
Die
Lebensqualität ist somit ein subjektives Merkmal, das im Individuum verankert, von der jeweiligen Lebenssituation abhängig und einem ständigen Wandel unterworfen ist. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität ist weniger ein medizinisch bestimmbarer Zustand oder Befund, sondern vielmehr ein subjektives Erleben und Empfinden. Nicht jeder, der vom medizinischen Standpunkt aus gesund ist, fühlt sich gut – und natürlich gilt das auch umgekehrt (Welpe
2008).
Die
Lebensqualität sowohl vor, während als auch nach der Intensivtherapie ist sehr schwierig zu beurteilen (Graf et al.
2003).
Viele Aspekte der
Lebensqualität können nicht direkt erfasst werden und müssen indirekt, z. B. mittels Fragen, bestimmt werden. Die Antworten werden in Punktwerte umgesetzt, deren Summe dann den Wert der jeweiligen Komponente ergibt. Die einzelnen Komponenten werden zu größeren Domänen zusammengefasst. Theoretisch sollte sich die so ermittelte Lebensqualität nicht von der tatsächlichen Lebensqualität unterscheiden (Testa und Simonson
1996).
Es existiert eine Vielzahl an Testinstrumenten zur Beurteilung der
Lebensqualität (Übersicht). Es kann methodisch zwischen allgemeinen, krankheitsspezifischen und primär psychologischen Instrumenten unterschieden werden. Die methodischen Anforderungen an solche Instrumente zur Erfassung der Lebensqualität sind hoch. Neben Zuverlässigkeit, Wiederholungsfähigkeit und
Validität der verschiedenen Bereiche muss das Testinstrument die Fähigkeit besitzen, Veränderungen wiederzugeben (Black et al.
2001; Wehler et al.
2003).
Der „Medical Outcomes Study Short-Form 36“-Fragebogen (SF-36) und der EQ-5d (EuroQol) werden am häufigsten in der
Intensivmedizin verwendet. Der Medical Outcome Survey Short Form-36 wurde – im Gegensatz zu den anderen Tests – sowohl sprachlich als auch kulturell anderen Ländern angepasst. Sowohl Zuverlässigkeit als auch
Validität für die Evaluation von Intensivpatienten wurden hoch bewertet (Hermans et al.
2008). Der Nachteil dieser Fragebögen ist aber, dass Symptome wie zum Beispiel Erschöpfung, Dyspnoe,
Schmerzen, die gerade nach einer Phase der
Beatmung von hohem Interesse sind, nicht berücksichtigt werden. So liegt es nahe, auf Intensivpatienten ausgerichtete Scores zu finden und zu evaluieren.
Um den Einfluss der Intensivtherapie und der ursächlichen Erkrankung zu ermitteln, wäre ein „Ausgangswert“ der
Lebensqualität vor der Intensivtherapie wünschenswert. Es kann versucht werden, den Patienten bei Aufnahme auf die Intensivstation dahingehend zu interviewen, was aber in den meisten Fällen nicht möglich ist. Alternativ kann eine Befragung von Angehörigen vorgenommen werden oder der Patient retrospektiv dazu befragt werden, sobald er dazu in der Lage ist (Graf und Janssens
2003).
Neueste Studien zur
Lebensqualität nach einer Covid-19 Erkrankung (Taboada et al.
2021) reihen sich ein in verschiedene Studien der letzten Jahre, die bei vielen Patienten sechs Monate nach der Intensivtherapie eine Verschlechterung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität nach ARDS,
Sepsis oder anderen kritischen Erkrankungen zeigt (Herridge et al.
2003; Bein et al.
2018; Thompson et al.
2018; Biehl et al.
2015; Yende et al.
2016; Herridge et al.
2011).
Als primäres Therapieziel und Studienziel werden häufig das Überleben der Intensivtherapie und das Krankenhausüberleben definiert. Das Erreichen dieser Ziele ist objektiv und leicht nachvollziehbar. Allein diese Ziele werden dem Patienten als Menschen aber nicht gerecht. Für das weitere Leben spielt der Allgemeinzustand des Patienten eine überragende Rolle. Daher ist man sich heute einig, dass das Erzielen einer für den Einzelnen ausreichende
Lebensqualität ebenfalls ein erklärtes Ziel medizinischen Handelns sein muss. Die Intensivtherapie an sich stellt ein belastendes, traumatisches Ereignis dar, das selbst auch Langzeitfolgen und erhebliche Beeinträchtigungen in jeglicher Hinsicht nach sich ziehen kann