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Pädiatrie
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Publiziert am: 02.05.2019

Suchttherapie bei Kindern und Jugendlichen

Verfasst von: Rainer Thomasius
Bei der Diagnostik substanzbezogener Störungen ist das Vertrauen des Jugendlichen in die Person des Untersuchers von großer Bedeutung. Selbstauskünfte über den Substanzkonsum sind in diesem Fall meistens zuverlässig zu erhalten. Sie werden durch Auskünfte der Eltern und weitere Bezugspersonen ergänzt. Eine toxikologische Urinuntersuchung gehört zur Standarddiagnostik. Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer substanzbezogenen Störung erfordert ein hohes Maß an störungs- und altersspezifischer Orientierung. Vier verschiedene Ebenen müssen berücksichtigt werden: die körperlichen Auswirkungen des Substanzmissbrauchs, psychische Funktionsstörungen, Entwicklungsstörungen und komorbide psychische Störungen.
Diagnose
Bei der Diagnostik substanzbezogener Störungen ist das Vertrauen des Jugendlichen in die Person des Untersuchers von großer Bedeutung. Selbstauskünfte über den Substanzkonsum sind in diesem Fall meistens zuverlässig zu erhalten. Sie werden durch Auskünfte der Eltern und weitere Bezugspersonen ergänzt. Eine toxikologische Urinuntersuchung gehört zur Standarddiagnostik.
Strukturierte Interviewinstrumente zur Diagnosestellung einer substanzbezogenen Störung liegen für Kinder und Jugendliche im deutschsprachigen Raum nicht vor. Ein hilfreicher Screeningtest ist der aus den USA stammende, für 12- bis 18-Jährige normierte RAFFT, der Hinweise auf riskante Konsummuster gibt.
RAFFT-Drogen
RAFFT ist als Akronym aus relevanten Konsumkontexten gebildet: Relax, Alone, Friends, Family, Trouble. Bei 2 und mehr Zustimmungen liegen bei 12- bis 18-Jährigen Hinweise auf eine mögliche Entwicklung einer substanzbezogenen Störung vor. Analog zu illegalen Drogen kann Alkohol – und Tabakkonsum abgefragt werden.
  • Nimmst du manchmal illegale Drogen, weil du dich entspannen oder du dich besser fühlen möchtest?
  • Nimmst du manchmal illegale Drogen, weil du dich dazugehörig fühlen möchtest?
  • Nimmt jemand aus deinem Freundeskreis regelmäßig (mindestens 1-mal die Woche) illegale Drogen?
  • Nimmst du manchmal illegale Drogen, wenn du alleine bist?
  • Hat jemand aus deinem Familienkreis ein Problem mit illegalen Drogen?
  • Hattest du schon mal ernsthaft Schwierigkeiten wegen deines Konsums illegaler Drogen (z. B. schlechte Zensuren, Ärger mit dem Gesetz oder den Eltern)?
In der folgenden Übersicht werden diagnostische Hinweise auf das Vorliegen einer substanzbezogenen Störung im Kindes- und Jugendalter zusammengefasst.
Diagnostisch zu berücksichtigende Indikatoren für eine substanzbezogene Störung im Kindes- und Jugendalter
  • Familienanamnese: Substanzkonsum vor allem bei Eltern und Geschwistern, Dissozialität in der Familie, gestörte Eltern-Kind-Beziehungen, psychische Erkrankungen in der Familie
  • Komorbide psychische Störungen: z. B. Störung des Sozialverhaltens, affektive Störung, Angststörungen, Suizidalität
  • Erlebte negative Folgen (Entzugssymptome, „Craving“) und erhoffte positive Folgen (Statusgewinn, Problemreduktion) des Substanzgebrauchs, früher Tabakkonsum
  • Psychische Traumatisierung, Missbrauchserfahrung (auch in Zeugenschaft), frühe Sexualkontakte, frühe Schwangerschaft
  • Nachlassende Schulleistung, sozialer Rückzug, Schulabbruch
  • Dissoziales Verhalten (Erwachsene belügen, Eltern bestehlen), Delinquenz
  • Substanzkonsum und Delinquenz bei den Peers
  • Ökonomisch-soziale Benachteiligung, Zugehörigkeit zu „Randgruppen“, depriviertes Wohnumfeld und hohe Kriminalitätsrate
Therapie
Die Art der Behandlung richtet sich nach der Störung, dem Patientenalter und greift auf verschiedene Formen des Settings zurück.
Störungs- und altersspezifische Behandlung
Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer substanzbezogenen Störung erfordert ein hohes Maß an störungs- und altersspezifischer Orientierung. Sie muss die speziellen Auswirkungen des Missbrauchs psychoaktiver Substanzen ebenso berücksichtigen wie die entwicklungspsychologischen und -psychopathologischen Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters. Einschlägige Behandlungskonzepte für süchtige Erwachsene können nicht ohne Weiteres auf betroffene Kinder und Jugendliche übertragen werden:
  • Im Jugendalter wird der Behandlungswunsch sehr viel häufiger durch die Angehörigen vorgetragen als durch die Betroffenen selbst.
  • Zu Behandlungsbeginn weisen Kinder und Jugendliche mit substanzbezogenen Störungen häufig familiäre Konflikte auf, die im Behandlungsprozess geklärt werden müssen.
  • Die Anforderungen an pädagogische, schulische und berufsorientierende Förderung sind in dieser Altersgruppe ungleich höher als bei erwachsenen Patienten.
Bei der Behandlung der substanzbezogenen Störungen müssen 4 verschiedene Ebenen berücksichtigt werden: die körperlichen Auswirkungen des Substanzmissbrauchs, psychische Funktionsstörungen, Entwicklungsstörungen und komorbide psychische Störungen.
Behandlungssetting
Es werden ambulante, stationäre und selten teilstationäre Behandlungsformen für Kinder und Jugendliche mit Suchtstörungen vorgehalten.
1.
Ambulante Behandlung. Folgende Indikatoren sprechen für die Wahl einer ambulanten Behandlung:
  • gute soziale Integration (Tagesstruktur vorhanden, soziale Beziehungen sind nicht überwiegend durch Substanzgebrauch definiert),
  • Absprachefähigkeit und Mitwirkungsbereitschaft,
  • Fähigkeit zur Abstinenz,
  • wenig Vorbehandlungen,
  • keine oder gering ausgeprägte komorbide psychische Störungen,
  • Rückfall im Anschluss an eine vorausgegangene Behandlung.
 
2.
Stationäre Behandlung. Die Suchtbehandlung sollte stationär durchgeführt werden, wenn folgende Kriterien erfüllt werden:
  • starker und regelmäßiger Substanzgebrauch,
  • vorausgegangene, gescheiterte ambulante Entzugsbehandlungen,
  • ausgeprägte komorbide psychische Störungen,
  • stationär behandlungsbedürftige somatische Erkrankungen,
  • dysfunktionales familiäres bzw. soziales Umfeld,
  • Verlust von Tagesstruktur,
  • akute Selbst- oder Fremdgefährdung.
 
Während der stationären Behandlung steht in der initialen Behandlungsphase neben der medizinischen Behandlung des „Drogennotfalls“ (Intoxikationen mit Alkohol, Cannabis, anderen illegalen Drogen sowie Inhalanzien) die qualifizierte Entzugsbehandlung im Vordergrund (körperliche Entgiftung, medizinische und psychosoziale Diagnostik, Motivation zur Inanspruchnahme weiterführender Therapie). Im weiteren Behandlungsverlauf sind die Festigung von Abstinenz inklusive Rückfallprävention sowie die Behandlung komorbider psychischer Störungen wichtige Behandlungsziele. Die Akutbehandlung dauert etwa 8–16 Wochen (z. B. in Suchtbehandlungsschwerpunkten der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie). Für einen Teil der Patienten schließt sich eine Rehabilitationsbehandlung an (6–18 Monate). Letztere wird gegebenenfalls auch im Anschluss an eine kurze Akutbehandlung eingeleitet.
Behandlungsdurchführung
Die kinder- und jugendpsychiatrische Suchttherapie ist hoch strukturiert und einsichtsfördernd. Vor dem Hintergrund einer biopsychosozialen und entwicklungsorientierten Perspektive wird ein multimodales interdisziplinäres Behandlungskonzept vorgehalten. Psychotherapeutische Verfahren (Einzel- und Gruppentherapien, Familientherapie, Rückfallpräventionstraining, soziales Kompetenztraining, Stärkung der Achtsamkeit und Emotionsregulation) werden mit komplementären Therapieformen kombiniert (Bewegungs-, Körper-, Ergo- und Musiktherapie). Pädagogische Förderung sowie schulische und berufsvorbereitende Maßnahmen sind wesentlicher Bestandteil des Behandlungsangebots. Das Behandlungsteam benötigt fundierte Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit suchtspezifischen Kommunikationsmustern und typischen Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen. Es muss belastbar sein und erhält zwecks Burn-out-Prophylaxe regelmäßig externe Supervision. In der folgenden Übersicht werden einzelne für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit substanzbezogenen Störungen relevante Therapieelemente zusammengefasst.
Therapieelemente in der Suchttherapie und ihre Evidenzgrade
(A) für Metaanalysen, randomisierte klinische Studien; (B) für kontrollierte klinische Studien, Fallkontroll- oder Kohortenstudien, systematische Reviews; (C) für Beobachtungsstudien, Lehrbuch
  • Kontaktphase: angemessen vertrauensvolle Atmosphäre (A); Motivational Interviewing zur Förderung von Krankheitseinsicht (A)
  • Entgiftung ambulant mit gegebenenfalls adjuvanter Pharmakotherapie (C), neurologische Abklärung oder qualifizierte Entzugsbehandlung stationär, wenn ein stützendes soziales Umfeld fehlt (A) mit gegebenenfalls temporärer Medikation zur Milderung von Entzugssymptomen (C)
  • Akutbehandlung komorbider psychischer Störungen (teil-/stationär): Psychotherapie, Familientherapie (A) und Psychoedukation (C); Training sozialer Fertigkeiten (B); Erlernen von Selbstkontrolltechniken (Verhaltenstherapie) vor allem in Gruppen (B); Rückfallprävention (C); Akupunktur
  • Klinikschule, Sportprogramme, Bewegung, Ergotherapie, Arbeitstherapie (C)
  • Rehabilitation: supportive Verfahren zur psychosozialen (C) und schulisch-beruflichen Verbesserung (B); Psychoedukation zu „harm reduction“ (C)
  • Nachsorge: Weiterbehandlung, Soziotherapie (B)
  • Kooperation von Eltern, Therapeuten, Beratungsstellen und Jugendhilfe (C)
  • Keine aversiven Verfahren (C)
Behandlungserfolg und Prognose
Der Behandlungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit substanzbezogenen Störungen wird im Wesentlichen über 3 Parameter bestimmt: Verbleiben in Therapie bis zum regulären Behandlungsende, Erreichen der Therapieziele (Abstinenz) und Rückfallquote. Die reguläre Therapiebeendigung gilt als bester Indikator für langfristigen Erfolg.
Die Haltequoten in Therapie liegen bei Kindern und Jugendlichen über alle Behandlungsformen hinweg zwischen 60 und 65 %. In Familientherapien sind sie am höchsten (70–90 %). In ambulanter Therapie sind bei regulärer Therapiebeendigung fast 60 % der Kinder und Jugendlichen abstinent. Bei etwa der Hälfte aller regulären Therapiebeendigungen wird nach Ablauf eines Jahres keine Missbrauchs- oder Abhängigkeitsdiagnose mehr gestellt (Kap. „Substanzmissbrauch im Kindes- und Jugendalter“).
Das höchste Rückfallrisiko besteht im 1. Monat nach Behandlungsbeendigung. Das Rückfallrisiko steigt bei Jugendlichen typischerweise stark an, wenn Peers (insbesondere frühere Freunde aus der Drogenszene) sozialen Druck ausüben, Substanzen leicht verfügbar sind bzw. von Eltern, Geschwistern oder Peers konsumiert werden und die Jugendlichen kein Nachsorgeprogramm besuchen.
Weiterführende Literatur
Laging M (2005) Assessment und Diagnostik in der sekundären Suchtprävention bei Jugendlichen. Prävention 1:9–12
Thomasius R, Schulte-Markwort M, Küstner UJ, Riedesser P (Hrsg) (2009) Suchtstörungen im Kindes- und Jugendalter. Das Handbuch: Grundlagen und Praxis. Schattauer, Stuttgart
Thomasius R, Bilke-Hentsch O, Geyer D, Lieb B, Reis O, Sack PM, Scherbaum N, Stappenbeck J, Vogt I, Winkler K, Wolter D, Mann K, Hoch E (2016) Alters- und geschlechtsspezifische Populationen. In: Mann K, Hoch E, Batra A (Hrsg) S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen. Springer, Berlin, S 128–129