Multiprofessionelle gemeindepsychiatrische teambasierte Behandlung
Community Mental Health Teams (CMHT) bilden das Kernstück der gemeindenahen
psychiatrischen Versorgung in Großbritannien. Multiprofessionelle Teams bestehend aus Psychiatern, Fachkrankenschwestern, Sozialarbeitern, Psychologen und Ergotherapeuten stellen die gesamte Behandlungs- und Versorgungsbreite psychisch kranker Menschen in einem definierten Versorgungssektor sicher (Thornicroft et al.
1999). Die Behandlung durch ein solches Team resultiert in einer größeren Behandlungszufriedenheit der Patienten sowie in einer Reduktion stationärer Aufnahmeraten um 20 % verglichen mit herkömmlicher ambulanter nichtteambasierter Behandlung (Malone et al.
2007).
Innovative Behandlungsangebote für psychisch kranke Menschen in einer akuten krisenhaften Krankheitsphase sind mit einer
intensiven Behandlung im häuslichen Umfeld der Betroffenen durch ein multiprofessionelles aufsuchendes Team entwickelt worden und stellen eine Alternative zur stationären psychiatrischen Behandlung dar. Diese Teams tragen unterschiedliche Namen: „crisis resolution teams“, „home treatment teams“, „crisis interventions teams“ oder „mobile crisis services teams“. Alle diese Teams stellen eine intensive psychiatrische Behandlung während der Zeit der akuten Krise über 24 h täglich an 7 Tagen der Woche sicher und zielen auf eine Stabilisierung unter Einbezug der Angehörigen im häuslichem Umfeld (Johnson et al.
2008). Nach der Krise endet die Behandlung bzw. wird an andere Teams übergeben. Eine solche
Krisenintervention ohne Klinikaufenthalt stößt auf breite Akzeptanz bei den Betroffenen und deren Angehörigen. Es gibt eine starke Evidenz, dass durch eine solche Behandlung die Wahrscheinlichkeit stationärer Wiederaufnahmen und auch die Dauer stationärer Behandlungen reduziert werden, die Belastung der Angehörigen sinkt und die Behandlungszufriedenheit steigt (Murphy et al.
2012).
Assertive Community Treatment (ACT) ist ein Modell intensiver nachgehender gemeindepsychiatrischer Behandlung
, das den Teambehandlungsansatz betont und für die Behandlung schwer und chronisch psychisch kranker Menschen entwickelt wurde, die sonst schwer erreichbar sind und oft stationär behandelt werden. ACT-Teams unterstützen bei der Medikation, in den Bereichen Wohnen und Arbeiten sowie in allen Belangen des täglichen Lebens (Bond et al.
2001). Andere Bezeichnungen sind „assertive outreach teams“, „mobile treatment teams“ oder „continuous treatment teams“. Neben der Multidisziplinarität und dem Teamansatz mit geteilter Verantwortung der Mitarbeiter für alle Patienten, sind die Integration medizinischer und sozialer Versorgung, eine geringe Fallzahl pro Mitarbeiter, das aufsuchende Element sowie die individuell zugeschnittenen und am Bedarf ausgerichteten Angebote wichtige Merkmale (Bond et al.
2001). Eine neuere Arbeit fasst Ansätze von ACT und Case Management unter dem übergeordneten Begriff des Intensive Case Management (ICM) zusammen und verweist auf eine höhere Behandlungszufriedenheit, reduzierte Behandlungsabbrüche und eine Verkürzung stationärer Behandlungen gegenüber herkömmlicher Behandlung (Dieterich et al.
2010). Der Erfolg dieses Modells hängt jedoch entscheidend von bestimmten Kontextfaktoren ab (Abschn.
2.1.2).
In Deutschland findet eine gemeindenahe teambasierte und multiprofessionelle Behandlung v. a. in psychiatrischen Institutsambulanzen, aber teilweise auch in Praxen für Psychiatrie und
Psychotherapie bzw. Nervenheilkunde sowie ansatzweise durch sozialpsychiatrische Dienste und Gesundheitsämter statt. Insbesondere der aufsuchende Ansatz ist allerdings kaum umgesetzt. Allerdings gibt es in einigen Regionen (z. B. Hamburg, Ulm/Günzburg) Modellprojekte, die zeigen, dass eine solche Behandlung trotz starker Fragmentierung der Versorgung möglich ist (Lambert et al.
2014; Karow et al.
2014; Munz et al.
2011).
Case Management
Mit den Psychiatriereformen haben sich in vielen Ländern die Behandlungsmöglichkeiten durch eine Vielzahl stationärer, ambulanter und komplementärer gemeindepsychiatrischer Angebote erweitert. Daraus ergab sich die Notwendigkeit der Behandlungskoordination. Gegen Ende der 1970er-Jahre wurde in den USA das Konzept des Case Management (CM) entwickelt (Intagliata
1982). CM in seiner elementarsten Form zielt in erster Linie auf die Koordination verschiedener Versorgungsangebote und die Steuerung ihrer Inanspruchnahme. Mittlerweile existieren verschiedene Formen von CM (Tab.
2), die sich mitunter schwer voneinander abgrenzen lassen, aber dennoch unterschiedliche Schwerpunkte setzen (Mueser et al.
1998). Insbesondere das Konzept von ICM hat viele Gemeinsamkeiten mit ACT (Fokus im gemeindepsychiatrischen Setting auf Klienten mit hohem Unterstützungsbedarf, starker Alltagsbezug) (Schaedle et al.
2002). Unterschiede finden sich hingegen in der geringeren Bedeutung von Teamarbeit und geteilter Verantwortung für den Patienten (Weinmann et al.
2012).
Tab. 2
Merkmale verschiedener gemeindenaher Versorgungsmodelle. (Mod. nach Mueser et al.
1998)
Betreuungsschlüssel | 1:50a
| 1:30+ | 1:20–30 | 1:20–30 | 1:10 | 1:10 |
Aufsuchend | Selten | Selten | Gelegentlich | Gelegentlich | Oft | Oft |
Geteilte Verantwortung | Nein | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein |
24-h Verfügbarkeit | Nein | Nein | Nein | Nein | Oft | Oft |
Betonung des Fertigkeitenerwerbs | Nein | Niedrig | Mittelmäßig | Hoch | Mittelmäßiga
| Mittelmäßiga
|
Frequenz der Kontakte | Niedrig | Mittelmäßig | Mittelmäßig | Mittelmäßig | Hoch | Hoch |
Integration der Interventionen | Niedrig | Mittelmäßig | Niedriga
| Niedriga
| Hoch | Hocha
|
Direkte Versorgungsleistungen | Niedrig | Mittelmäßig | Mittelmäßig | Mittelmäßig | Hoch | Hoch |
Zielpopulation | SMI | SMI | SMI | SMI | SMI/„high service users“ | SMI/„high service users“ |
In vielen Ländern ist der Case Management
Ansatz, insbesondere in der Form von ICM in der Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen, weit verbreitet (Marshall
2008). Auch in Deutschland bildet CM eine gewachsene Form sozialpsychiatrischer Praxis und ein wichtiges Element der gemeindepsychiatrischen Versorgung ab. Allerdings wurde diese in Deutschland praktizierte Form nicht im erforderlichen Maße in klinischen Studien untersucht. Wie oben erwähnt, fasste eine neuere Arbeit Ansätze des CM und ACT unter dem übergeordneten Begriff des ICM zusammen (Dieterich et al.
2010). Der Erfolg dieses Modells hängt jedoch entscheidend von Kontextfaktoren ab. So konnte gezeigt werden, dass die Effekte einer Reduktion stationärer Behandlungen bzw. Behandlungstage dann am größten sind, wenn Klienten mit extrem hoher Inanspruchnahme stationärer Behandlungen im Vorjahr eingeschlossen werden (Burns et al.
2007). Hierin liegt auch ein möglicher Erklärungsansatz, warum die Einführung einer solchen Versorgungsform in Regionen mit einer gut entwickelten und ausdifferenzierten gemeindepsychiatrischen Versorgungslandschaft und dementsprechend geringer stationärer Bettennutzung wenig zusätzliche Effekte hinsichtlich einer Reduktion stationärer Behandlungen zeigt (Weinmann et al.
2012).
Arbeitsrehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben
In der Arbeitsrehabilitation kommen zwei unterschiedliche methodische Ansätze zum Tragen: der Place-and-Train-Ansatz (direkte Platzierung in Arbeit mit kontinuierlicher Unterstützung vor Ort) einerseits und der Train-and-Place-Ansatz andererseits. Letzterer beinhaltet ein schrittweises Vorgehen mit den Bestandteilen: (1) Arbeit an krankheitsbezogenen Defiziten, (2) Training arbeitsbezogener Fertigkeiten in speziellen Einrichtungen, (3) berufliches Praktikum sowie erst im Anschluss die (4) Integration am Arbeitsmarkt.
Die Mehrzahl aller arbeitsrehabilitativen Ansätze, sowohl international als auch in Deutschland, verfolgt den traditionellen Train-and-Place-Ansatz. Das bedeutet, dass vor dem Versuch einer Arbeitsaufnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein vorbereitendes Training erfolgt. Der Place-and-Train-Ansatz, der den amerikanischen Supported-Employment- (SE-) oder Individual-Placement-and-Support- (IPS-)Programmen zugrunde liegt, verfolgt eine diametral andere Strategie (Becker und Drake
1993; Corrigan
2001). Die Platzierung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfolgt – die Motivation des Betroffenen und hinreichende psychopathologische Stabilität vorausgesetzt – ohne Vorbereitung im beschützenden Rahmen. Vielmehr werden evtl. erforderliche Trainings und die psychosoziale Betreuung durch ein Teammitglied ohne zeitliche Limitierung direkt am neuen Arbeitsplatz durchgeführt (s. nachfolgende Übersicht).
Die Ergebnisse einer systematischen Recherche im Rahmen der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ (DGPPN
2013) zeigte nahezu stringent die Effektivität bzw. Überlegenheit von
Supported Employment bezüglich arbeitsbezogener Zielgrößen auf. Insbesondere gilt dies, wenn SE in der manualisierten Form (Individual Placement and Support, IPS) durchgeführt wird. Patienten kommen durch SE mindestens doppelt so häufig in Beschäftigung als durch traditionelle berufliche Rehabilitationsansätze (DGPPN
2013). Auch aktuelle systematische Übersichtsarbeiten bestätigen die Überlegenheit von Ansätzen des SE (Kinoshita et al.
2013). Die Evidenz zur Wirksamkeit von SE bei erwachsenen Menschen mit psychischen Erkrankungen stützt sich mittlerweile auf 12 systematische Reviews und 17 randomisierte kontrollierte Studien (Marshall et al.
2014).
Eine aktuelle randomisierte kontrollierte Studie von Hoffmann et al. (
2012) aus der Schweiz ist von besonderem Interesse, da hier der SE-Ansatz gegenüber traditionellen arbeitsrehabilitativen Interventionen unter vergleichbaren Rahmenbedingungen, wie in Deutschland, untersucht wurde und sich als eindeutig überlegen erwies. Die positiven Effekte hinsichtlich der Arbeitssituation bei den Teilnehmern blieben auch nach 5 Jahren bestehen, wobei die Überlegenheit des SE gegenüber traditionellen Wiedereingliederungsmaßnahmen sogar noch deutlicher wurde (Hoffmann et al.
2014).
Zudem wurden auch positive Effekte auf nichtarbeitsbezogene Zielvariablen beschrieben. So resultierte die Teilnahme an IPS in einer höheren
Lebensqualität und einer verringerten (teil-)stationären Behandlungsnotwendigkeit, mehr Empowerment sowie einer höheren Arbeitsmotivation (Areberg und Bejerholm
2013; Hoffmann et al.
2014).
Gegenüber der überwältigenden Evidenz von SE ist die wissenschaftliche Evidenz von
traditioneller Arbeitsrehabilitation äußerst begrenzt (Crowther et al.
2001). Zudem weisen die Ansätze des Train-and-Place einige Mängel auf: (1) die Maßnahmen sind sehr teuer, (2) sie weisen trotz hoher Eintrittsselektion geringe Integrationserfolge von meist unter 30 % auf, (3) sie finden mehrheitlich im geschützten Rahmen statt und (4) sind zeitlich befristet. Nicht selten kommt es nach Beendigung der Maßnahme „zu einer Überforderung aller Beteiligten, zu erneuten psychischen Krisen und früher oder später zum Stellenverlust“. Es ist davon auszugehen, dass letztlich lediglich ca. 15 % derer, denen zu Beginn des Trainings nach diagnostischer Abklärung eine realistische Chance auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt attestiert wurde, nachhaltig wiedereingegliedert werden können (vgl. Hoffmann
2013, S. 97).
In der Praxis verbleiben die Betroffenen häufig langfristig unter beschützenden Bedingungen in Werkstätten, Zuverdienstprojekten oder besonderen Firmen. Die Bezahlung und der soziale und arbeitsrechtliche Status sind dabei allerdings weit von der Normalität des Arbeitsmarktes entfernt (Reker
1998). Ca. 20 % der Betroffenen sind aktuell in Werkstätten für behinderte Menschen tätig (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS
2013). Für manche Betroffene stellt dies die einzige realistische Alternative zur Beschäftigungslosigkeit dar. Nicht mehr der Wechsel auf den Arbeitsmarkt, sondern sinnvolle Tätigkeiten, eine regelmäßige Aktivität und Tagesstrukturierung sowie soziale Kontakte außerhalb des Wohnbereiches stehen im Mittelpunkt. Wenngleich bei einigen chronisch Kranken dies auch den subjektiven Bedürfnissen entspricht, so ist der Wunsch nach einer bezahlten Beschäftigung bei vielen schwer psychisch Kranken recht hoch: der Anteil wird auf 70 % geschätzt (vgl. Marshall et al.
2014).
Supported Employment ist, vor diesem Hintergrund, traditionellen Ansätzen beruflicher Rehabilitation (Ansätze des vorbereitenden Trainings) als Methode der Wahl vorzuziehen. Generell sollte es darum gehen, so frühzeitig wie möglich und orientiert an den Voraussetzungen, Interessen und Bedürfnissen der Betroffenen zu unterstützen.
Ansätze des betreuten Wohnens
Obwohl die Bedeutung stabiler und adäquater Wohnverhältnisse enorm ist, existiert hier kaum wissenschaftliche Evidenz. Die Anzahl an Studien ist vergleichsweise gering, die gewonnenen Ergebnisse kaum vergleichbar. Es besteht kein Zweifel, dass eine adäquate und zeitlich nicht limitierte Unterstützung im Bereich Wohnen stationäre Behandlungstage verkürzen kann (Kyle und Dunn
2008). Die verfügbaren
Einzelbefunde konnten eine Reduktion von Negativsymptomen bei schizophrenen Erkrankungen und eine Erweiterung sozialer Kontakte zeigen (Kyle und Dunn
2008; Macpherson et al.
2009). Eine dauerhafte Institutionalisierung hingegen ist mit negativen Effekten verbunden (Kaiser et al.
2001; Kallert et al.
2007; Leisse und Kallert
2003). Derzeit lässt sich nicht verallgemeinern, welche Wohnform für welche Patientengruppe besonders zu empfehlen ist. Hier muss im Einzelfall der individuelle Hilfebedarf berücksichtigt werden.