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Strafrecht und Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Verfasst von: Marc Allroggen
Die strafrechtliche Begutachtung von Jugendlichen und Heranwachsenden sowie die Behandlung von delinquenten Jugendlichen im Maßregelvollzug stellen besondere Anforderungen an Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeuten. Dargestellt werden in diesem Kapitel die Besonderheiten des Vorgehens bei der strafrechtlichen Begutachtung von Jugendlichen sowie grundlegende Aspekte der Beurteilung der Strafreife nach dem Jugendgerichtsgesetz, der Schuldfähigkeit sowie der Voraussetzungen der Unterbringung im Maßregelvollzug und der Sicherungsverwahrung. Ergänzend wird eingegangen auf die Prinzipien der Prognosebeurteilung sowie der Glaubhaftigkeitsbegutachtung.

Delinquenz und psychische Störungen

Auch wenn delinquentes Verhalten nur im Einzelfall unmittelbar auf das Vorliegen einer psychischen Störung zurückzuführen ist (Allroggen 2018) und nicht alle delinquenten Verhaltensweisen von strafrechtlicher Relevanz sind, sind Kinder- und Jugendpsychiater und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten häufig mit straffälligem Verhalten ihrer Patienten konfrontiert. Delinquentes Verhalten ist ein jugendtypisches Phänomen. Etwa 29 % aller Gewaltdelikte wurden im Jahr 2016 durch Personen unter 21 Jahren begangen, auch wenn über die letzten Jahre ein Rückgang der Kriminalität insgesamt bei Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen ist. Die häufigsten Delikte von Jugendlichen sind dabei Körperverletzungen (22 %), Rauschgiftdelikte (20,7 %) sowie Ladendiebstahl (19,3 %). Männliche Jugendliche sind dabei gegenüber Mädchen nicht nur häufiger Täter bei Gewaltdelikten, sondern haben auch ein erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalttaten zu werden (Bundeskriminalamt 2017).
Bei jugendlichen Strafgefangenen sind zudem psychische Störungen deutlich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung. So kann bei bis zu 70 % der inhaftierten Jugendlichen in internationalen Studien mindestens eine psychische Störung nachgewiesen werden (Colins et al. 2010). Die häufigsten Diagnosen sind dabei Störungen des Sozialverhaltens und Störungen in Zusammenhang mit Substanzmissbrauch (Colins et al. 2010; Fazel et al. 2008).
Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeuten sind dabei neben der Behandlung von delinquenten Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen in Strafverfahren v. a. mit gutachterlichen Fragestellungen zur Frage des Entwicklungsstandes, der Schuldfähigkeit, der Notwendigkeit der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt sowie zur Prognose konfrontiert. Hinzu kommen Fragestellungen zur Glaubhaftigkeit der Aussagen von Opferzeugen.
In den folgenden Abschnitten werden die wesentlichen kinder- und jugendpsychiatrischen und rechtlichen Aspekte der Begutachtung von straffälligen Jugendlichen dargestellt, wobei der Schwerpunkt auf der Beurteilung der Strafreife sowie der Schuldfähigkeit liegt.

Auftragserteilung und Arten von Gutachten

Eine Beauftragung zur Begutachtung kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Verfahrens erfolgen, sowohl im Ermittlungsverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft prüft, ob hinreichender Tatverdacht besteht, im Zwischenverfahren, in dem das Gericht prüft, ob die Anklage der Staatsanwaltschaft zugelassen wird, als auch im eigentlichen Hauptverfahren. In der Regel erfolgt die Beauftragung im Hauptverfahren, bevor die eigentliche Verhandlung beginnt. Hierbei ist zu beachten, dass die Begutachtung des Jugendlichen durch den Sachverständigen im Vorfeld der Hauptverhandlung lediglich der Vorbereitung auf die Erstattung des Sachverständigengutachtens im Rahmen der Verhandlung dient. Im Vollstreckungsverfahren beziehen sich Fragestellungen wesentlich auf die richtige Umsetzung des Urteils.
Beispiele für mögliche Aufträge zu den verschiedenen Verfahrensabschnitten finden sich in der Übersicht „Gutachten in den einzelnen Verfahrensabschnitten“ (Wolf 2012).
Gutachten in den einzelnen Verfahrensabschnitten
  • Gutachten im Ermittlungs- und Zwischenverfahren
    Gutachten zur Strafreife (Abschn. 4)
    Gutachten zur Anwendung des Jugendstrafrechts auf Erwachsene (Abschn. 5)
    Vorbereitende Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB (Abschn. 6)
    Gutachten zur Unterbringung nach § 126a StPO sowie § 81 StPO (Abschn. 7)
    Aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit (Abschn. 10)
  • Gutachten im Hauptverfahren
    Gutachten zur Strafreife (Abschn. 4)
    Gutachten zur Anwendung des Jugendstrafrechts auf Erwachsene (Abschn. 5)
    Endgültige Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB (Abschn. 6)
    Gutachten zur Frage der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder zu Fragen der Sicherungsverfahrung (§ 7 JGG) (Abschn. 8)
    Aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit (Abschn. 10)
  • Gutachten im Vollstreckungsverfahren
    Gutachten zur Frage der Umsetzung der Maßregel (§ 67, 67a, 67b, 67d StGB) (Abschn. 9)
    Gutachten zur Frage der Prognose (Abschn. 9)
Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht um eine abschließende Aufstellung. Auch bei Gutachten zur Strafreife nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) oder zur Schuldfähigkeit bei Jugendlichen stellt sich häufig, insbesondere beim Vorliegen von psychischen Erkrankungen, die Frage nach der Prognose, nach sog. schädlichen Neigungen und v. a. auch danach, welche Maßnahmen und Interventionen notwendig oder erfolgsversprechend sind, die positive Entwicklung eines Jugendlichen zu fördern bzw. eine weitere delinquente Entwicklung zu verhindern.
Entscheidend für den Sachverständigen ist dabei die Fragestellung des Gerichtes, die einerseits möglichst präzise sein soll, andererseits sich auch aus den bisherigen Ermittlungsergebnissen ableiten lassen sollte. Die Tendenz, bei schweren Straftaten routinemäßig einen kinder- und jugendpsychiatrischen Sachverständigen zu bestellen, ohne dass es einen Anhalt für das Vorliegen einer möglichen psychischen Störung oder Reifeverzögerungen gibt, ist daher durchaus kritisch zu diskutieren. Im Zweifelsfalle ist die Fragestellung des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft auf Rückfrage des Sachverständigen zu präzisieren.

Rolle und praktisches Vorgehen des Sachverständigen im Strafverfahren

Im Sinne der Strafprozessordnung (StPO) ist ein Sachverständiger ein Beweismittel, dessen Aufgabe es ist, dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft Sachkenntnis zu vermitteln. Dies geschieht durch Referierung allgemeiner Erkenntnisse des Fachgebiets, die Feststellung von Befundtatsachen, d. h. die vom Sachverständigen aufgrund eigener Sachkunde erhobenen Befunde (z. B. testpsychologische Befunde, Ergebnis der Anamnese) sowie die Beurteilung der Bedeutung der sachkundig festgestellten Tatsachen für die Beweisfrage (Schlussfolgerungen). Hingegen erfolgt durch den Sachverständigen keine juristische Würdigung. Aufgabe des Sachverständigen ist es gerade nicht, eine Entscheidung zu treffen, sondern den Richter in die Lage zu versetzen, eine eigene sachgerechte Entscheidung zu treffen.
Die Erstattung des Sachverständigengutachtens hat unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen zu erfolgen. Unparteiisch bedeutet, dass Unabhängigkeit gegenüber Erwartungshaltungen der Prozessbeteiligten besteht und eine Funktionalisierung des Sachverständigen ausbleibt, bestes Wissen, dass Kompetenz im eigenen und angrenzenden juristischen Fachgebiet besteht und methodische Standards eingehalten werden. Der Begriff bestes Gewissen bezieht sich auf die persönliche Integrität und Vertrauenswürdigkeit des Sachverständigen. Prinzipiell besteht gemäß § 75 StPO für Ärzte und Therapeuten, sofern sie ihren Beruf öffentlich ausüben, eine Verpflichtung zur Sachverständigentätigkeit, solange diese zumutbar ist. Als Gründe für eine Ablehnung eines Gutachters können Arbeitsüberlastung, aber auch Befangenheitsgründe gelten sowie auch Gründe, die für Zeugen ein Zeugnisverweigerungsrecht begründen (z. B. Verwandtschaft mit dem Beschuldigten). Sachverständige können aber auch durch Prozessbeteiligte (Staatsanwaltschaft, Beschuldigter bzw. dessen gesetzliche Vertreter) wegen Befangenheit (§ 74 StPO) abgelehnt werden, wenn beispielsweise eine Beziehung zu der Tat oder dem Beschuldigten besteht, begründete Zweifel an der Unparteilichkeit vorliegen oder durch unsachliche Bemerkungen der Eindruck der Voreingenommenheit besteht.
Bei der Wahl der Methoden ist der Sachverständige prinzipiell frei, allerdings müssen diese Methoden allgemein wissenschaftlich anerkannt sein. Auch die soweit erforderliche Diagnosestellung muss sich an einem wissenschaftlich begründeten Klassifikationsschema (ICD, DSM) orientieren. Das eigentliche Vorgehen der Begutachtung hängt von der konkreten Fragestellung ab. Bei Fragen der Strafreife, zur Schuldfähigkeit sowie zur Prognose wird neben einer Exploration und kinder- und jugendpsychiatrischen Untersuchung des Beschuldigten oder Angeklagten auch u. U. eine testpsychologische Untersuchung (z. B. strukturiertes Interview zur Erfassung einer Persönlichkeitsstörung, Intelligenzdiagnostik) notwendig sein. Für den Bereich der Schuldfähigkeitsbegutachtung und Prognosebegutachtung sind zudem Mindestanforderungen formuliert worden, an denen man sich orientieren sollte (Boetticher et al. 2007a, b) (Kap. „Begutachtung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“). Bei der Durchführung von Untersuchungen hat sich der Sachverständige dabei auf ein notwendiges Maß an Untersuchungen zu beschränken. Auch Befunde von bisherigen Behandlungen sollten berücksichtigt werden, sofern der zu Begutachtende damit einverstanden ist und die bisher behandelnden Ärzte oder Therapeuten von ihrer Schweigepflicht entbindet.
Prinzipiell ist der zu Begutachtende vor dem Beginn der Begutachtung auch von dem Sachverständigen noch einmal darüber aufzuklären, dass die im Rahmen der Begutachtung erhobenen Befunde und Informationen nicht der Schweigepflicht unterliegen, sondern gerichtsöffentlich werden, dass der zu Begutachtende im Rahmen der Begutachtung nicht mitwirken muss und dass er sich oder Angehörige nicht bezüglich möglicher Straftaten belasten muss.
Auch die sorgeberechtigten Eltern sind über die o. g. Aspekte aufzuklären, falls eine Exploration von diesen für die Beantwortung der Fragestellung notwendig ist. Werden vom Sachverständigen weitere Informationen von Zeugen benötigt (z. B. die Befragung von Lehrern), kann dies über das Gericht veranlasst werden, ebenso kann der Sachverständige der Vernehmung von Zeugen beiwohnen und diesen auch Fragen stellen (§ 80 StPO). Während die Befragung von Zeugen sachlich eine Beweiserhebung darstellt, sind die Anforderung und das Auswerten von Befundberichten und ggf. auch Befragung von Ärzten, die den zu Begutachtenden behandelt haben, eine Befunderhebung, die der Sachverständige im Rahmen der Begutachtung durchführen kann (Wolf 2012).
Nicht eingeschlossen in die Beauftragung zur Erstellung eines kinder- und jugendpsychiatrischen oder -psychologischen Gutachtens ist die Erlaubnis zur körperlichen Untersuchung, diese sollte ebenso wie apparative Untersuchungen gesondert beauftragt werden. Zudem muss der Beschuldigte der Untersuchung zustimmen, worüber der Sachverständige auch aufklären muss und dies dementsprechend auch dokumentieren sollte, soweit nicht eine entsprechende richterliche Anordnung vorliegt (§ 81a StPO).
Das schriftlich zu erstellende Sachverständigengutachten (Kap. „Begutachtung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“) dient dabei, sofern die Anklage zugelassen wird oder bereits zugelassen ist, lediglich der Vorbereitung. Das eigentliche Sachverständigengutachten ist mündlich und frei im Rahmen der Hauptverhandlung zu erstatten. In der Regel nimmt der Sachverständige an der gesamten Hauptverhandlung teil und erstattet sein Gutachten im Rahmen der Beweiserhebung nach der Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen. Auch der Sachverständige kann dabei während der Hauptverhandlung Fragen an den Angeklagten oder Zeugen stellen. Das vorab erstellte schriftliche Gutachten ist dabei in keiner Weise für den Sachverständigen bindend. Vielmehr hat er neue Erkenntnisse, die sich im Rahmen der Hauptverhandlung ergeben haben, zu berücksichtigen und kann dann auch durchaus zu einer abweichenden Einschätzung kommen. Nach der Erstattung des Gutachtens sind eventuelle Fragen der Prozessbeteiligten zu erörtern. Wichtig ist, dass auch Lücken oder Unsicherheiten, die sich nicht beantworten ließen, im Gutachten eingeräumt werden.

Strafreife und Jugendgerichtsgesetz

Kinder sind bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs nicht schuldfähig, d. h., sie können unabhängig davon, welche Straftat begangen wurde, nicht strafrechtlich verurteilt werden (§ 19 StGB Schuldunfähigkeit des Kindes). Bis zu diesem Alter obliegt damit die Sanktionierung von delinquenten Verhaltensweisen im Wesentlichen den Sorgeberechtigten, wobei diese selbstverständlich Anspruch auf Unterstützung im Rahmen des Jugendhilferechts haben (SGB VIII) bzw. es auch zu Eingriffen in das Sorgerecht kommen kann, wenn die Sorgeberechtigten mit dem Erziehungsauftrag überfordert sind und es zu Gefährdungen des Kindes kommt.
Eine enge Verbindung des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) und des Jugendhilferechts wird aber auch dadurch deutlich, dass im JGG der Erziehungsgedanke gegenüber dem Sanktionierungsgedanken überwiegt. Im Mittelpunkt stehen sog. Erziehungsmaßregeln, die Weisungen oder auch die Installation von Jugendhilfemaßnahmen beinhalten (§§ 9–12 JGG) sowie sog. Zuchtmittel (§§ 13–16 JGG), worunter Verwarnungen oder auch ein Jugendarrest verstanden werden. Jugendstrafe wird hingegen nur dann in Betracht gezogen werden können, wenn „wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist“ (§ 17 JGG).
Eine prinzipielle strafrechtliche Verantwortlichkeit besteht ab dem Alter von 14 Jahren. Während man jedoch bei einem Volljährigen davon ausgeht, dass die Strafreife vorliegt, muss diese bei Jugendlichen positiv nachgewiesen werden. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass stets ein Sachverständiger hinzugezogen werden muss, aber gemäß § 43 Abs. 2 JGG ist „soweit erforderlich, (…) eine Untersuchung des Beschuldigten, namentlich zur Feststellung seines Entwicklungsstandes oder anderer für das Verfahren wesentlicher Eigenschaften, herbeizuführen. Nach Möglichkeit soll ein zur Untersuchung von Jugendlichen befähigter Sachverständiger mit der Durchführung der Anordnung beauftragt werden“.
In der Praxis scheint es allerdings so zu sein, dass eine tatsächliche aktive Überprüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch Gerichte und Staatsanwaltschaft eher floskelhaft erfolgt und sich kaum auf geeignete Quellen stützt, vielmehr v. a. das Verhalten in der Verhandlung zur Beurteilung herangezogen wird. Dementsprechend häufig kommt es auch zu einer überwiegenden Bejahung der Strafreife, ohne dass eine dezidierte Prüfung oder das Hinzuziehen von geeigneten Informationen erfolgt (Köhnken et al. 2012). Der Aspekt, dass auf die Strafreife zum Tatzeitpunkt aufgrund des Verhaltens in der Verhandlung oder zum Untersuchungszeitpunkt im Rahmen einer Begutachtung geschlossen wird, ist insoweit problematisch, da zwischen Tat und Verhandlung bzw. Begutachtung häufig Monate liegen können und es zu entsprechenden Nachreifungsprozessen auch in der Auseinandersetzung mit der entsprechenden Tat kommen kann.
Hinzu kommt, dass ein Sachverständiger in der Regel dann hinzugezogen wird, wenn es Hinweise auf das Vorliegen einer psychischen Störung gibt (Köhnken et al. 2012). Allerdings ist die strafrechtliche Verantwortung gemäß JGG prinzipiell zunächst unabhängig von dem Vorliegen einer psychischen Erkrankung zu beurteilen. Strafrechtlich verantwortlich ist nämlich ein Jugendlicher dann, wenn er „zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht“ (§ 3 JGG). Bei der Beurteilung der Strafreife kommt es also nicht primär darauf an, inwieweit eine psychische Erkrankung vorliegt, sondern auf die Beurteilung des Entwicklungsstandes eines Jugendlichen. Es muss also immer davon ausgegangen werden, dass es sich um eine quantitative Abweichung (Verzögerung) der Reifeentwicklung handelt, nicht um eine qualitative Abweichung, also die bestehenden Entwicklungsdefizite durch einen Nachreifungsprozess aufgeholt werden.
Unter dem Begriff der geistigen Reife versteht man dabei eine Fähigkeit zur rationalen, kognitiven Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht (Unrechtsbewusstsein). Unter sittlicher Reife wird hingegen die Fähigkeit verstanden, bestimmte Handlungen als sozial unangemessen bewerten zu können (Unrechtsgefühl) (Ostendorf 2003).
Ein Affekt der Scham in Zusammenhang mit delinquenten Handlungen kann daher ein Hinweis sein für das Vorhandensein der sittlichen Reife, ein Gefühl der Schuld für das Vorliegen der geistigen Reife. Allerdings kann im Umkehrschluss nicht von einem Fehlen der Unrechtseinsicht ausgegangen werden, wenn entsprechende Affekte nicht vorliegen. Letztlich muss also Einsichtsfähigkeit bestehen, dass eine Handlung sozial nicht akzeptabel ist und durch die Rechtsordnung nicht geduldet werden kann (Köhnken et al. 2012). Bei vorhandener Unrechtseinsicht muss dann in einem abschließenden Beurteilungsschritt geprüft werden, ob vor dem Hintergrund der bestehenden sittlichen und geistigen Reife der Jugendliche auch in der Lage war, sich dementsprechend zu verhalten oder entwicklungsbedingte Defizite in der Steuerungsfähigkeit vorlagen.
Die praktische Beurteilung der sittlichen und geistigen Reife ist dabei durchaus komplex, zumal evaluierte Kriterien fehlen, wie diese erfasst werden können. In der Vergangenheit empfohlene Methoden wie der Bezug zum Modell der moralischen Entwicklung von Kohlberg oder der Einsatz von projektiven Testverfahren zur Erfassung der sittlichen Reife sind weder wissenschaftlich validiert noch geeignet, da sie wenn überhaupt nur eine allgemeine, aber keine tatbezogene Einschätzung der Reife erlauben. Auch die zur Erfassung der geistigen Reife häufig empfohlene standardisierte Erfassung der Intelligenz kann lediglich eine Aussage über die allgemeinen, nicht tatbezogenen kognitiven Fähigkeiten machen. Insbesondere bei Jugendlichen mit Intelligenzminderung und Entwicklungsstörungen ist zudem auf eine geeignete Auswahl des zu verwendenden Verfahrens zu achten (Neumann et al. 2018).
Insgesamt wird man bei der Beurteilung der sittlichen und geistigen Reife daher insbesondere fremd- und eigenanamnestisch den bisherigen Entwicklungsverlauf des Jugendlichen, seine sozialen Bezüge einschließlich der Integration in Gleichaltrigengruppen, seine Beziehung zu primären Bezugspersonen sowie die Bewältigung bisheriger Entwicklungsaufgaben erfassen. Eine standardisierte Intelligenztestung ist dabei unter Beachtung der o. g. Einschränkungen ebenso wie das Vorliegen möglicher psychischer Symptome und Belastungsfaktoren ergänzend notwendig. Entscheidend ist dabei letztlich die Beantwortung, ob die Entwicklung des Jugendlichen mit Blick auf die ihm zur Last gelegte Tat einem mindestens 14 Jahre alten Jugendlichen entspricht. Zwingend notwendig ist daher im Rahmen einer Begutachtung die Befragung des Jugendlichen zur Tat, soweit dieser sich dazu äußern möchte, bzw. die Beurteilung anhand der Aktenlage. Gerade das Verhalten vor bzw. nach der Tat kann dabei Hinweise darauf geben, inwieweit tatsächlich eine Unrechtseinsicht besteht. Einige Marker, die auf eine vorhandene Unrechtseinsicht hinweisen, sind in der Übersicht „Marker für eine vorhandene Unrechtseinsicht (nach Schepker et al. 2009)“ dargestellt.
Marker für eine vorhandene Unrechtseinsicht (nach Schepker et al. 2009)
  • Bereits vor der Tat erlebte Sanktionen für tatähnliche Verhaltensweisen
  • Bereits vor der Tat wahrgenommene Missbilligung durch Bezugspersonen für tatähnliche Verhaltensweisen Dritter
  • Erlebte Strafverfolgung oder Sanktionierung für tatähnliche Verhaltensweisen Dritter
  • Verdeckungshandlungen
  • Wiedergutmachungshandlungen
  • Stillschweigegebote gegenüber Opfern oder Zeugen
  • Leugnen der Tatvorwürfe
Auch bezüglich der Beurteilung der Steuerungsfähigkeit fehlen klar definierte und validierte Bewertungskriterien. Pragmatisch kann man die Steuerungsfähigkeit auch als Willenskraft des Jugendlichen bezeichnen, die entwicklungsbeding u. U. nicht ausreichend ausgebildet ist, um affektiv besetzten Wünschen und Motiven trotz vorhandener Unrechtseinsicht Widerstand zu leisten. Neben dieser infolge von Reifungsverzögerungen anhaltend übermäßig affektiv bestimmten Handlungssteuerung (Schütze und Schmitz 2003) sind v. a. auch gruppendynamische Faktoren zu berücksichtigen. Für entwicklungsbedingte Defizite der Steuerungsfähigkeit sprechen in diesem Zusammenhang Aspekte wie eine mangelnde persönliche Reife und eine geringe Selbstständigkeit, die mit einer starken Beeindruckbarkeit des Jugendlichen in Zusammenhang mit Gruppendelikten einhergeht, sowie eine mangelnde Abgrenzungsfähigkeit oder negative Erfahrungen in Bezug auf Konsequenzen bei Verweigerung in delinquenten Gruppen (Schepker et al. 2009). Auch zur Beurteilung der Steuerungsfähigkeit muss deshalb der gesamte Entwicklungsstand des Jugendlichen einschließlich kognitiver Entwicklung, jugendtypischer Gestaltung von Beziehungen zu Gleichaltrigen und primären Bezugspersonen, Autonomieentwicklung und Zukunftsorientierung berücksichtigt werden.
Die Begutachtung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund stellt dabei eine besondere Herausforderung dar, da kulturelle Aspekte zusätzlich berücksichtigt werden müssen. So besteht bei Familien mit Migrationshintergrund oft eine stärkere familiäre Kohäsion, und auch Zeichen der Autonomieentwicklung können sich weniger deutlich darstellen (Schepker und Frank 2015). Sowohl bei Kindern und Jugendlichen, die mit ihren Familien geflohen sind, als auch insbesondere bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen können die Fluchterfahrungen zudem zu einer verzögerten oder inhomogenen Reifeentwicklung beitragen (Kap. „Begutachtung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“). Emotionale Bedürfnisse und moralische Reife können noch auf einer sehr kindlichen Entwicklungsstufe sein. Gleichzeitig können andere Bereiche der Autonomieentwicklung durch das Sich-durchschlagen-Müssen auf der Flucht im Sinne von Überlebensstrategien sehr adult imponieren.
Neben der Unschärfe der Kriterien bezüglich der sittlichen und geistigen Reife sowie der Steuerungsfähigkeit ergibt sich bei dem gleichzeitigen Vorliegen einer psychischen Störung eine weitere Schwierigkeit in der nicht immer eindeutigen Abgrenzung zwischen entwicklungsbedingten und krankheitsbedingten Defiziten. Aus rechtlicher Sicht hat der § 3 JGG Vorrang vor der Überprüfung der Schuldfähigkeit gemäß den §§ 20, 21 StGB, da Rechtsfolgen nur über Personen verhängt werden können, die strafmündig sind. Obwohl die Beurteilung der Strafreife, wie oben dargestellt wurde, primär von dem Entwicklungsstand des Jugendlichen abhängt, kann das Vorliegen einer psychischen Störung aber einen erheblichen Einfluss auf die Bewertung der Strafreife haben. So kann das Vorliegen einer psychischen Störung auch den Sozialisationsprozess eines Kindes beeinträchtigen und dazu führen, dass Normen und Werte nur verzögert internalisiert werden können. Dies kann z. B. der Fall sein bei Kindern mit einer ausgeprägten hyperkinetischen Störung mit anhaltenden Konflikten mit den Eltern oder auch bei früh beginnenden Persönlichkeitsstörungen mit Defiziten in der Wahrnehmung sozialer Signale (Allroggen und Fegert 2018). Hinzu kommt, dass bei gleichzeitigem Vorliegen einer psychischen Störung u. U. nicht immer sicher unterschieden werden kann, ob festgestellte Defizite in der Unrechtseinsicht oder insbesondere in der Steuerungsfähigkeit Folge einer Reifungsverzögerung sind oder primär auf die vorliegende psychische Störung zurückzuführen sind. Sollten allerdings auch nur Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gemäß § 3 JGG bestehen, so gilt hier auch der Grundsatz „in dubio pro reo“ und das Vorliegen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wäre zu verneinen.

Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende

Auch auf einen Heranwachsenden, also einen jungen Erwachsenen, der das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, kann es zu einer Anwendung des Jugendstrafrechts kommen, wenn „die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass dieser zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt“ (§ 105 JGG). Die Entscheidung, ob Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt, beruht damit also entweder auf der Beurteilung der Persönlichkeit des Täters oder der Tatcharakteristika, wobei insbesondere der erste Aspekt durch einen Kinder- und Jugendpsychiater zu beurteilen sein wird.
Ebenso wie bei der Beurteilung der Strafreife sind die geistige und die sittliche Entwicklung sowie die Entwicklung moralischer Standards zu berücksichtigen (Günter 2008). Ungünstige frühkindliche Entwicklungsumstände können zu einer verzögerten Reife beitragen, aber auch negative Einflüsse in der Adoleszenz wie Zugehörigkeit zu einer delinquenten Gleichaltrigengruppe können eine Rolle spielen. Beurteilt wird dabei im Wesentlichen die Persönlichkeit des Täters, nicht der konkrete Tatvorwurf. Die von Esser (1999) formulierten Reifemerkmale (Übersicht „Reifemerkmale“) können dabei für die Beurteilung als Orientierung dienen. Allerdings muss auch hier kritisch angemerkt werden, dass die wissenschaftliche Validierung der Kriterien noch aussteht. Vor diesem Hintergrund kann man sich auch an der vom Bundesgerichtshof (BGH) festgestellten Prämisse orientieren, dass eine Unterordnung unter dem § 105 JGG dann erfolgen sollte, wenn davon auszugehen ist, dass noch Entwicklungskräfte in größerem Ausmaß wirksam sein können.
Reifemerkmale
  • Fähigkeit zur realistischen Lebensplanung (gegenüber Leben im Augenblick)
  • Eigenständigkeit gegenüber den Eltern (gegenüber starkem Anlehnungsbedürfnis)
  • Ernsthafte Einstellung gegenüber Arbeit und Schule
  • Erwachsener äußerer Eindruck (Gesamteindruck, Gesicht, Figur, Größe)
  • Fähigkeit zur realistischen Alltagsbewältigung
  • Alter der Freunde
  • Fähigkeit zu konstanten Bindungen
  • Fähigkeit zur Aufrechterhaltung intimer Beziehungen über längere Zeit
  • Stimmungsstabilität
Dabei ist zu beachten, dass die Entwicklung eines Jugendlichen oder Heranwachsenden weder homogen noch linear verläuft, d. h., wenn einzelne Merkmale eher erwachsenentypisch sind, bedeutet dies nicht, dass auch insgesamt der Heranwachsende nicht mehr mit einem Jugendlichen zu vergleichen ist. In der Praxis zeigt sich, dass bei Heranwachsenden überdurchschnittlich häufig das Jugendstrafrecht angewandt wird, wenn auch regional große Unterschiede bestehen. Dies entspricht im Wesentlichen der Rechtsprechung des BGH, dass es sich bei der Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht nicht um ein Verhältnis von Regel oder Ausnahme handelt, sondern das mildere Mittel anzuwenden ist und insbesondere das Mittel, das zur Verhinderung weiterer Straftaten geeignet ist (Laue 2017).

Schuldfähigkeit

Ein wesentlicher Grundsatz des Strafrechts sieht vor, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden kann („nulla poena sine culpa“). Neben dem Alter oder Rechtfertigungsgründen (z. B. Notwehr) kann auch das Vorliegen einer psychischen Störung dazu führen, dass Straftaten ohne Schuld begangen werden.
Schuldfähigkeit
§ 20 StGB Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21 StGB Verminderte Schuldfähigkeit
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
Schuld und Schuldfähigkeit stellen damit die Grundvoraussetzung der Bestrafung dar, aber eine positive Definition von Schuld und Schuldfähigkeit im Strafrecht besteht nicht. Der Grundgedanke, an dem man sich orientieren kann, ist, dass der Täter sich auch anders hätte verhalten können. Schuldfähigkeit muss durch einen Sachverständigen immer dann geprüft werden, wenn Zweifel daran bestehen. Bleiben auch nach der Begutachtung Zweifel, so muss der Angeklagte wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen werden („in dubio pro reo“).
Das Vorgehen der Überprüfung der Schuldfähigkeit sieht dabei ein prinzipiell zweistufiges Vorgehen vor. Zum einen muss geprüft werden, ob bei dem Täter eine der im Gesetztestext genannten spezifischen Zustände „krankhafte seelische Störung“, „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“, „Schwachsinn“ oder „schwere andere seelische Abartigkeit“ zum Tatzeitpunkt vorlag. Im zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob diese Zustände einen Einfluss darauf hatten, das Unrecht der Tat einzusehen und gemäß dieser Einsicht zu handeln. Die im Gesetzestext genannten Begriffe sind dabei keine unmittelbaren Entsprechungen von psychiatrischen kategorialen Diagnosen, vielmehr ist es Aufgabe des Sachverständigen, festgestellte psychische Störungen diesen Begriffen zuzuordnen.
Der Begriff „krankhafte seelische Störung“ umfasst dabei ursprünglich alle psychischen Störungen, die somatisch-pathologisch (biologisch-begründet) bedingt sind. Im engeren Sinne werden darunter organische psychische Störungen des Kapitels F0 der ICD-10 verstanden, schizophrene und wahnhafte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) sowie Intoxikationen und Entzugssyndrome. In dieser Logik würden auch Störungen des autistischen Spektrums hier subsumiert werden. Zum Teil wird auch die ADHS hier aufgeführt, da es sich ja um eine genetisch stark determinierte (biologisch begründbare) Störung handelt. Letztlich muss jedoch bedacht werden, dass alle psychischen Störungen eine genetische Komponente haben, und in der Praxis ist es z. T. sinnvoller, hier v. a. Störungen von psychotischer Qualität, d. h. mit einer qualitativ abweichenden Beeinträchtigung des Erlebens zu erfassen.
Der krankhaften seelischen Störung gegenüber steht nämlich der Begriff der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“. Hierunter werden alle Normabweichungen verstanden, die nicht einem der anderen Kriterien zuzuordnen sind, also seelische Störungen und Fehlentwicklungen ohne körperliche Ursache. Hierzu gehören quantitativ abweichende psychische Störungen, bei denen eine dauerhafte Deviation feststellbar ist wie Persönlichkeitsstörungen, sexuelle Verhaltensabweichungen, Abhängigkeitserkrankungen und abnorme Gewohnheiten, aber auch u. U. posttraumatische Belastungsstörungen sowie Zwangs- oder Angststörungen. Die Störungen müssen dabei so gravierend sein, dass sie in ihrer Gesamtheit das Leben des Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen auch sozialen Folgen stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen. So gilt als Voraussetzung für die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit das Vorliegen von erheblichen Auffälligkeiten in der Affektregulation, einer Einengung der Lebensführung, einer durchgängigen Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und der psychosozialen Leistungsfähigkeit, einer durchgehenden Störung der Selbstwertregulation und einer deutlichen Schwäche der Abwehr- und Realitätsüberprüfungsmechanismen, wobei diese hinweisenden Kriterien auch außerhalb der Anlasstat vorhanden sein müssen (Boetticher et al. 2007b).
Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass eine Diskrepanz zwischen den juristischen Begriffen und ihrer Operationalisierung und aktuellen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie besteht.
Dies wird auch bei der Verwendung des heute als stigmatisierend empfundenen Begriffs „Schwachsinn“ im Gesetzestext deutlich. Hiermit gemeint sind Intelligenzminderungen, wobei von einer forensischen Relevanz bei dem Vorliegen einer mindestens leichten Intelligenzminderung gemäß ICD-10 ausgegangen wird. Für die Beurteilung, inwieweit eine forensisch relevante Intelligenzminderung vorliegt, ist dabei jedoch eine standardisierte Intelligenztestung alleine nicht ausschlaggebend, vielmehr geht es um die Beurteilung des gesamten Funktionsniveaus und der Teilhabe des Betroffenen sowie der sozial-emotionalen Entwicklung (Hoffmann 2014).
Der Begriff „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ schließlich beschreibt eine nicht primär krankheitsbedingte Störung der Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des eigenen Erlebens. Gemeint sind Zustände wie Schlaftrunkenheit, Erschöpfung, Schlafwandeln oder akute Belastungsreaktionen.
Aufgabe des Sachverständigen ist es, zu prüfen, ob und ggf. welche psychische Störung vorliegt, den Schweregrad der psychischen Störung zu beschreiben (z. B. anhand der Einschränkungen der Bewältigung des Alltages) und diese den o. g. juristischen Kategorien zuzuordnen. Ob durch das Vorliegen der psychischen Störung in der durch den Sachverständigen beschriebenen Schwere allerdings das sog. Eingangskriterium erfüllt ist, ist eine normative Entscheidung des Gerichts. Sollte kein entsprechender im Gesetzestext beschriebener Zustand vorliegen, wären die weiteren Schritte der Überprüfung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht mehr notwendig.
Sollte das Eingangskriterium allerdings erfüllt sein, ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob aufgrund der diagnostizierten Störung eine tatbezogene Einschränkung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt vorlag. Bei mehreren zu verhandelnden Straftaten muss dies für alle Strafen separat erfolgen.
Einsichtsfähigkeit meint das Vorliegen ausreichender kognitiver und rationaler Fähigkeiten, das Unrecht der Tat einzusehen. Steuerungsfähigkeit bedeutet das Vorliegen einer intakten Willensbildung, d. h. Handlungsalternativen stehen zur Verfügung.
Sowohl Einsichts- als auch Steuerungsfähigkeit hängen von dem zu beurteilenden Delikt ab. Bei schweren anderen seelischen Abartigkeiten ist die Einsichtsfähigkeit de facto nie beeinträchtigt, allerdings kann es bei Störungen mit Beeinträchtigung der Realitätswahrnehmung, demenziellen Störungen oder ausgeprägten Intelligenzminderungen zu Beeinträchtigungen der Einsichtsfähigkeit kommen. Steuerungsfähigkeit ist dann zu verneinen, wenn der Täter trotz bestehender Unrechtseinsicht unfähig war, Anreize und Hemmungen gegeneinander abzuwägen und danach seinen Entschluss zu bilden bzw. auch bei Aufbietung all seiner Willenskräfte seinen Willen nicht durch vernünftige Erwägungen bestimmen konnte. Die entscheidende Frage dabei ist, ob der Täter sich auch anders hätte verhalten können. Fehlen Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit, ist der Täter nicht schuldfähig gemäß § 20 StGB.
Eine verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) liegt hingegen dann vor, wenn die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, erheblich vermindert war. Bezüglich der Einsichtsfähigkeit führt nur fehlende Unrechtseinsicht bei verminderter Einsichtsfähigkeit zur Rechtsfolge des § 21 StGB. Bei der Steuerungsfähigkeit muss das Hemmungsvermögen des Täters so herabgesetzt sein, dass er den Tatreizen erheblich weniger Widerstand leisten kann als ein Durchschnittsbürger. Es muss dem Täter erheblich schwerer fallen als anderen Menschen, sich normgemäß zu verhalten.

Unterbringung zur Begutachtung

In Zusammenhang mit der strafrechtlichen Begutachtung ist auch eine Unterbringung von Beschuldigten möglich. Gemäß § 81 StPO kann „zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten (…) das Gericht nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, daß der Beschuldigte in ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus gebracht und dort beobachtet wird.“ Die Unterbringung in dem psychiatrischen Krankenhaus darf dabei 6 Wochen nicht überschreiten und dient der Vorbereitung eines Gutachtens. Der Beschuldigte darf dabei aber nur festgehalten und beobachtet werden, mitarbeiten muss er nicht. Auch eine Behandlung oder körperliche Untersuchung kann nur mit Zustimmung des Betroffenen erfolgen. Eine körperliche Untersuchung kann bei einer gesonderten richterlichen Anordnung nach § 81a StPO erfolgen. Für eine eventuell notwendige Behandlung des Beschuldigten gegen dessen Willen sind die entsprechenden Maßnahmen und Vorgaben im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Unterbringung zu beachten und in die Wege zu leiten (Kap. „Zwangsmaßnahmen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“).
In Verbindung mit § 81 StPO kann gemäß § 73 JGG auch die Unterbringung eines Jugendlichen erfolgen: „Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand des Beschuldigten kann der Richter nach Anhören eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, daß der Beschuldigte in eine zur Untersuchung Jugendlicher geeignete Anstalt gebracht und dort beobachtet wird.“ Dabei hat sich die Untersuchung auf den Entwicklungsstand zu beschränken; der Tathergang darf nur insoweit erörtert werden, als es für die Beurteilung notwendig ist.
Im Gegensatz zur Unterbringung gemäß § 81 StPO, die im Wesentlichen eine vorläufige Maßnahme der Verfahrenssicherung ist, indem sie eine Begutachtung ermöglicht, stellt die Unterbringung nach § 126a StPO eine vorläufige Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit dar: „Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 des Strafgesetzbuches) begangen hat und daß seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt angeordnet werden wird, so kann das Gericht durch Unterbringungsbefehl die einstweilige Unterbringung in einer dieser Anstalten anordnen, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert.“ Die Unterbringung erfolgt also, wenn eine Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB zu erwarten ist und die öffentliche Sicherheit dies erfordert.

Maßregelvollzug und Sicherungsverwahrung

Für den Fall, dass ein Täter eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder zumindest verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat, kann die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet werden:
„Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.“
Für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus müssen dementsprechend über die Feststellung eines Zustandes der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit hinaus einige relevante Bedingungen erfüllt sein. Dazu gehört, dass die Straftat zweifelsfrei im Zustand der Schuldunfähigkeit oder zumindest verminderter Schuldfähigkeit begangen worden sein muss. Eine Bewertung, dass eine „verminderte Schuldfähigkeit nicht ausgeschlossen“ werden kann, kann zwar zu einer Exkulpierung führen („in dubio pro reo“), nicht jedoch zu einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Zudem muss die Gesamtwürdigung des Täters und der Tat ergeben, dass von ihm aufgrund seines Zustandes weitere erhebliche Straftaten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Dies erfordert deshalb im Rahmen der Begutachtung auch eine Gefährlichkeitsprognose. Vorliegen muss zudem eine dauerhafte und nicht bloß vorübergehende psychische Störung, zudem muss die Anlasstat symptomatisch für die vorliegende Störung sein und die Unterbringung muss explizit bezüglich ihrer Verhältnismäßigkeit geprüft werden (§ 62 StGB).
Etwas abweichend stellt sich davon die Situation bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt dar (§ 64 StGB):
„Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.“
Ein wesentlicher Unterschied der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB gegenüber der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB liegt darin, dass der primäre Zweck der Unterbringung in der Besserung, nicht der Sicherung liegt. Allerdings soll natürlich auch die Besserung das Ziel haben, die Gefährlichkeit des Täters in Bezug auf künftige Straftaten zu beseitigen, die Unterbringung ist also ausgerichtet an den Belangen der öffentlichen Sicherheit, nicht dem Therapiewunsch oder Therapiebedarf des Täters. Dementsprechend kann die Unterbringung nur dann erfolgen, wenn sich der Sicherungszweck durch Besserung erreichen lässt. Die verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit ist anders als bei der Unterbringung nach § 63 StGB dabei keine Voraussetzung. Allerdings muss die Anlasstat im Rausch begangen worden sein oder auf den im Gesetz genannten Hang ursächlich zurückzuführen sein (z. B. Beschaffungskriminalität oder Delikte, die auf suchtbedingte Veränderungen der Persönlichkeit zurückzuführen sind). Hang meint dabei eine eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder erworbene, den Täter treibende und beherrschende Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Zudem muss sich der Hang auf das Übermaß richten, d. h., ein gelegentliches Übermaß oder ein Hang ohne Übermaß reichen nicht aus. Während Abhängigkeitssyndrome damit regelmäßig einen Hang zum Übermaß darstellen, tut dies ein Substanzmissbrauch im begründeten Einzelfall. Auch bezüglich der Gefährlichkeitsprognose ergeben sich Unterschiede zum § 63 StGB. So erfolgt einerseits keine Gesamtwürdigung des Täters und der Tat, es ist auch nicht das Vorliegen einer Gefährlichkeit für die Allgemeinheit gefordert und zudem reicht die Gefahr (im Gegensatz zur Erwartung) erheblicher rechtswidriger Taten aus, um die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu begründen. Andererseits ist die Unterbringung unzulässig bei Therapieunfähigkeit, wenn z. B. mehrere gescheiterte Therapieversuche bereits erfolgten. Zweifelhafte oder unwahrscheinliche Erfolgsaussichten stellen hingegen ebenso wie fehlende Motivation des Verurteilten keine Hinderungsgründe dar. Die Unterbringung ist zudem auch zu veranlassen, wenn weniger einschneidende Maßnahmen (z. B. freiwillige Behandlung) möglich sind.
Die Behandlung von Jugendlichen in jugendforensischen Einrichtungen stellt dabei besondere Bedingungen an diese. So sollte eine Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen erfolgen, einerseits zum Schutz der Jugendlichen, aber auch um ein altersgemäßes therapeutisches und pädagogisches Milieu zu schaffen. Das therapeutische Setting muss zudem einen Schulbesuch und berufliche Ausbildung ermöglichen sowie Erfahrungen auch außerhalb des geschützten Rahmens, ohne den Schutz der Öffentlichkeit zu gefährden. Hinzu kommt eine Einbindung der relevanten Bezugspersonen in die Behandlung. Deutliche Mängel bestehen noch in der wohnortnahen ambulanten Versorgung von Jugendlichen und Heranwachsenden im Anschluss an die stationäre Maßregel (Weissbeck und Hässler 2015).
Auch die Sicherungsverwahrung ist eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung (§ 61 StGB). Primäres Ziel ist dabei aber der Schutz der Allgemeinheit und nicht die Besserung (Behandlung) wie bei der Unterbringung nach § 63 StGB. Bei Jugendlichen kann die Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet oder vorbehalten werden (§ 7 Abs. 2 bis 4 JGG), nicht jedoch bereits im Urteil angeordnet werden. Voraussetzung für das Vorbehalten der Sicherungsverwahrung im Urteil ist, dass der Jugendliche zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren aufgrund einer Tat gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung, durch die das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, verurteilt wird und die Gesamtwürdigung des Jugendlichen und seiner Taten ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut o. g. Straftaten begehen wird.
Sicherungsverwahrung kann zudem nachträglich angeordnet werden, wenn eine angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden ist, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, zum Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, „wenn die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 des Strafgesetzbuches wegen mehrerer solcher Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 des Strafgesetzbuches führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in Absatz 2 bezeichneten Art begehen wird“ (§ 7 Abs. 4 JGG). Ein entscheidender Unterschied der Sicherungsverwahrung gegenüber der Strafhaft ist, dass sie sich nicht aus der Schuld des Untergebrachten ableitet, sondern aus dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit. Gleichzeitig soll prinzipiell Unterstützung erfolgen, um eine Integration in ein Leben in Freiheit wieder zu ermöglichen. Inwieweit dies aber tatsächlich im Rahmen der Sicherungsverwahrung gelingt, wird wiederholt bezweifelt (Habermeyer 2015).

Prognose

Gutachten zur Prognose sollten von Kindern- und Jugendpsychiatern mit forensischen Vorerfahrungen erstellt werden, weshalb hier nur auf einige Grundsätze eingegangen werden soll. Aussagen zur Prognose sind einerseits wichtig für die Entscheidung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) sowie der Sicherungsverwahrung (§ 7 JGG), andererseits aber insbesondere zur Frage der Umsetzung oder Erledigung der Maßregel (§§ 67, 67a, 67b, 67d StGB) (Boetticher et al. 2007a), wobei in Abhängigkeit von der Fragestellung sehr unterschiedliche Wahrscheinlichkeits- und Gefährlichkeitsbegriffe zugrundeliegen können.
Bei der Prognose geht es letztlich um die Erfassung genereller und individueller Risikofaktoren delinquenten Verhaltens, auf deren Grundlage Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftige Entwicklungen für den Einzelfall getroffen werden sollen (Wendt 2015). Bei dem Erstellen eines Gutachtens zur Prognose sollte neben der klinischen Einschätzung auch auf ein statistisches Prognoseinstrument zurückgegriffen werden (für einen Überblick siehe auch Wendt und Stöver 2015). Den Vorteilen eines standardisierten Prognoseinstrumentes wie eine hohe Transparenz bei der Urteilsbildung, eine hohe Beurteilerobjektivität und eine ökonomische Anwendbarkeit stehen jedoch auch Nachteile gegenüber. In den meisten Prognoseinstrumenten werden überwiegend statische Risikofaktoren, die durch Therapie nicht beeinflussbar sind, berücksichtigt, zudem werden seltene Ereignisse überschätzt und es erfolgt eine Aussage über statistische Durchschnittserfahrung. Dynamische Faktoren wie die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung (z. B. Therapiemotivation, Besserung psychopathologischer Auffälligkeiten) sowie der soziale Empfangsraum (u. a. Arbeit, Compliance, Verfügbarkeit von Opfern), die wahrscheinlich eine deutlich stärkere Aussagekraft haben als statische Risikofaktoren, werden nur bei wenigen Verfahren hinreichend berücksichtigt. Hinzu kommt, dass nur wenige für die Prognose von Jugendlichen evaluierte Verfahren bestehen und deren Validität häufig auch überschätzt wird (Abbott 2017; Coid et al. 2013; Fazel et al. 2012).

Glaubhaftigkeitsbegutachtung

Für die Durchführung einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung sind detaillierte Kenntnisse zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage sowie hinreichende forensische Erfahrung notwendig, sodass an dieser Stelle nur die Grundzüge dargestellt werden sollen. Meist kommt es in Zusammenhang mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs zu einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Beurteilt wird dabei nicht die Glaubwürdigkeit des Opferzeugen, sondern die Glaubhaftigkeit der Aussage des Opferzeugen.
Durch die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen ist methodisch festgelegt worden, dass der zu überprüfende „Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren (ist), bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt“ (BGH 1 StR 618/98 – Urteil v. 30.07.1999).
Es wird also angenommen, dass die Aussage, Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden zu sein, nicht auf einer Erlebnisgrundlage basiert, sondern beispielsweise Folge einer intentionalen Falschaussage oder eines Suggestionsprozesses ist. Erst wenn diese Nullhypothese („Unwahrhypothese“) durch die Überprüfung von Qualitätsmerkmalen der Aussage (sog. Realkennzeichen), der Konstanz der Aussage, der Motivation sowie der Entstehungsbedingungen der Aussage widerlegt ist, kann angenommen werden, dass die Aussage auf einer Erlebnisgrundlage basiert. Für Opferzeugen ist dieses Vorgehen oft schwer nachvollziehbar, da das Gefühl entsteht, dass ihnen von vorneherein nicht geglaubt wird (Fegert et al. 2018). Hier ist auch Aufgabe von Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychotherapeuten, Patienten, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind, dieses Vorgehen zu erläutern und deutlich zu machen, dass es sich um ein methodisches Vorgehen handelt, dass vom BGH so vorgegeben ist, um ungerechtfertigte Verurteilungen möglichst zu vermeiden, ohne dass damit ein generelles Misstrauen gegen den Begutachteten verbunden ist.

Fazit

Die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und daran anschließend auch der Prognose stellt hohe Anforderungen an Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeuten. Wichtig sind die Berücksichtigung der Rahmenbedingungen der Untersuchung einschließlich Aufklärung über die fehlende Schweigepflicht gegenüber dem Gericht sowie über Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte. Eine Herausforderung stellt regelmäßig die Abgrenzung von möglichen Entwicklungsdefiziten und psychischen Störungen dar, die sich zudem oftmals gegenseitig bedingen. Im Zweifelsfalle ist bei dem Vorliegen von tatrelevanten Reifungsdefiziten die Strafreife gemäß § 3 JGG zu verneinen. Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit in Zusammenhang mit einer psychischen Störung ist zu beachten, dass die psychische Störung hinreichend schwer sein muss, um das Eingangskriterium der §§ 20, 21 StGB zu erfüllen, und von Seiten des Sachverständigen explizit darzustellen ist, welche Auswirkungen das Vorliegen der psychischen Störung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit hat. Das alleinige Vorliegen einer auch schweren psychischen Störung reicht für die Begründung einer Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit nicht aus. Beurteilungen zur Notwendigkeit der Unterbringung im Maßregelvollzug, in der Sicherungsverwahrung, zur Prognose sowie zur Glaubhaftigkeit sollten durch forensisch erfahrene Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeuten bearbeitet werden.
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