Schon die sehr basale Frage, für was die Psychiatrie und Psychotherapie zuständig sind bzw. zuständig sein können, ist, wie die breite Diskussion bei Einführung des DSM‑5 gezeigt hat, auch eine gesellschaftliche (Maier et al.
2013). Die Forensische Psychiatrie und Forensische Psychotherapie wiederum arbeiten im Auftrag der Justiz, die wiederum eine der tragenden drei Säulen unserer freiheitlichen Gesellschaft ist. Somit sind weder die gutachterlichen noch die Behandlungsaufgaben des eigenen Fachgebietes unabhängig von gesellschaftlichen Fragen (de Tribolet-Hardy et al.
2015). Der Fall Mollath hat exemplarisch gezeigt, dass entstehende Debatten für das Fach unstrittig herausfordernd, andererseits aber auch anregend sein können. Schließlich hat dieser Fall dazu beigetragen, dass Reformprozesse mit dem Ziel der einheitlichen Gestaltung des psychiatrischen Maßregelvollzugs (Müller et al.
2017) angestoßen und eine Novellierung des Rechts der Unterbringung verabschiedet wurde, die nicht zuletzt auf die zeitliche Befristung der Maßregel nach § 63 StGB zielte (Pfister
2017). Es ist daher nicht nur unabdingbar, der gesellschaftlichen Bedeutung unseres Faches durch möglichst sorgfältige Arbeit Rechnung zu tragen, sondern auch wichtig, sich den gesellschaftlichen Diskussionen zu stellen, den zugehörigen Klärungsbedarf anzuerkennen und auf dieser Basis an Lösungsmöglichkeiten zu arbeiten, um das Fach, evtl. aber auch die Gesellschaft weiterzuentwickeln.
Im gutachterlichen Bereich geht es hinsichtlich der fachlichen Zuständigkeiten, spätestens seit Pinels Befreiung der Wahnsinnigen aus ihren Ketten, um die Frage: „Bad or mad?“. Die Antwort auf diese Frage ist mit dem gesellschaftlich hoch bedeutsamen Aufkommen von Verschwörungstheorien nicht einfacher geworden. Während manche herausfordernde Überzeugungen nachvollziehbar und mit durch situative Bedingungen angestoßen imponieren könne, verlassen andere deutlich den gesellschaftlichen Konsens und den Boden seriöser Argumentation. Ähnlich wie bei der Beurteilung religiöser Überzeugungen (Kampmann und Habermeyer
2020) ist in diesem Kontext eine Unterscheidung zwischen wenig rationalen, ggf. auch mit auffälligen Persönlichkeitsmerkmalen verbundenen Vorstellungen und die Realitätskontrolle aufhebenden Symptomen einer psychischen Störung dringend geboten. Daher ist es erfreulich, dass sich die Beiträge von
Thomas Fuchs aus Heidelberg und
Stefanie Mehl aus Marburg der Unterscheidung zwischen psychiatrisch-psychotherapeutisch behandlungsbedürftigen Wahnphänomenen und Verschwörungstheorien widmen. Die Lektüre beider Beiträge trägt dazu bei, diese Unterscheidung auf eine solide Basis zu stellen.
Bleibt diese Differenzierung aus, besteht die Gefahr einer Instrumentalisierung der Forensischen Psychiatrie bzw. einer Pathologisierung von gesellschaftlich unerwünschten Denkinhalten. Die Gleichsetzung von sozialer Abweichung und Krankheit würde zu einer Pathologisierung von Gesinnungen, zu einer Psychiatrisierung gesellschaftlich unerwünschter Personen führen bis hin zu ungerechtfertigten Einweisungen in den Maßregelvollzug (Habermeyer et al.
2020; Habermeyer
2021). Dies betont die Bedeutung dieser Fragen und Unterscheidungen und akzentuiert auch die ethischen Herausforderungen. Einige dieser Schwierigkeiten bzw. offenen Fragen, aber auch mögliche Alternativen lotet
Jürgen Müller in seinem Beitrag unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Psychiatrieverständnisses aus. Seine Arbeit erweitert die im Kontext der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB aufgeworfene Debatte (Müller
2019) auf den Bereich der Maßregel nach § 63 StGB. Diese ist auch Thema der beiden abschließenden Beiträge zum Themenschwerpunkt, die sich mit Fragen der medikamentösen Zwangsbehandlung befassen und damit ein Thema adressieren, dass nicht nur in der Forensischen Psychiatrie, sondern auch in der Allgemeinpsychiatrie (Pollmächer
2019) bedeutsam ist und regelhaft zu angeregten Diskussionen führt (beispielhaft illustriert durch den Beitrag von Pollmächer (
2015) und die Reaktion von Steinert (
2016)). Dabei beleuchtet der Beitrag von
Esther Braun et al. diese Thematik aus ethischer Perspektive, während
Jan Querengässer et al. die Effekte der Zwangsbehandlung anhand einer Erhebung im Maßregelvollzug prüfen.
Auch betreffs der bewährten Rubriken ergeben sich Schnittmengen zum Schwerpunktthema, denn im kriminologischen Beitrag von
Barbara Horten und Marleen Gräber geht es um die Kastration von Sexualstraftätern und um die unterschiedliche Sichtweise auf dieses Vorgehen in verschiedenen Ländern.
Jana Hillert und Stjepan Curic befassen sich im psychiatrischen Journal Club mit der Problematik von inhaftierten Transpersonen, wobei Transsexualität geradezu prototypisch illustriert, wie bestimmte Phänomene unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen neu bewertet und auch entpathologisiert werden können (Rauchfleisch
2018). Aus Sicht der für den Schwerpunkt zuständigen Herausgeber bieten die vorgenannten Beiträge eine hervorragende Möglichkeit, sich mit der gesellschaftlichen Bedeutung des Faches auseinanderzusetzen, ethisch relevante Fragestellungen in ihrer Komplexität auszuloten und über die eigene Rolle bei der Begutachtung und Behandlung nachzudenken.
Die Schwerpunktbeiträge werden ergänzt durch einen Beitrag von Kathrin Gaunersdorfer und Rainer Eher zur prädiktiven Validität der deutschsprachigen Version der Violence Risk Scale-Sexual Offender Version und einen Beitrag von Mario Staller und Swen Koerner zum Gefahrennarrativ in der Polizeiarbeit. Beide Beiträge verdeutlichen den Wert empirischer Forschung im Bereich der Forensischen Psychiatrie/Kriminologie, einerseits zur Optimierung der eingesetzten Methoden und Hilfsmittel, andererseits aber auch zur Korrektur vermeintlich gültiger Wahrheiten. Neurobiologische Befunde wiederum, wie sie im Beitrag von Laura Wild und Timm Poeppl für den Bereich der Psychopathie vorgestellt werden, erweitern die Perspektive auf bestimmte Störungsbilder bzw. Persönlichkeitseigenschaften und die mit ihnen verbundenen Handlungsbereitschaften.
Hans-Ludwig Kröbers Blitzlicht befasst sich mit tüchtigen Narzissten und beleuchtet die Tendenz, diese zu pathologisieren, kritisch. Auch sein Beitrag hat also durchaus Bezug zum Schwerpunktthema. Er soll an dieser Stelle aber vorwiegend Anlass dazu sein, auf einen kürzlich erschienenen Band (Lammel et al.
2022) zu Ehren dieses Gründungsherausgebers der
FPPK zu verweisen. Unter dem Titel „Forensische Psychiatrie – Erfahrungswissenschaft und Menschenkunde“ wird Hans Ludwig Kröber von unterschiedlichen Autoren gewürdigt. Der Jubiläumsband beleuchtet aber auch die Rolle der Forensischen Psychiatrie in der Gesellschaft bzw. die gesellschaftliche Bedeutung unserer Tätigkeit. Diese Reflexion anzuregen, war und ist ein Ziel dieser Zeitschrift, sich solchen Fragen zu stellen, ein wichtiger und unverzichtbarer Aspekt der forensisch-psychiatrischen Arbeit: Einerseits herausfordernd, andererseits aber auch enorm bereichernd. In diesem Sinne wünschen wir viel Freude, aber auch vielfältige Anregungen bei der Lektüre dieser Ausgabe.