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Erschienen in: Die Orthopädie 10/2020

Open Access 06.07.2020 | Hämatom | Kasuistiken

Akute Appendizitis nach Knochenentnahme am rechten Beckenkamm – erschwerte Differenzialdiagnostik

verfasst von: S. Förch, B. Ritter, E. Mayr

Erschienen in: Die Orthopädie | Ausgabe 10/2020

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Zusammenfassung

Zur knöchernen Defektauffüllung wird regelhaft Knochen vom vorderen Beckenkamm entnommen. Typische Komplikationen sind postoperatives Hämatom, Nervenverletzungen, Infektionen oder Schmerzen an der Entnahmestelle. Wir beschreiben einen Fall, in dem es nach Knochenentnahme am rechten Beckenkamm bei einem jungen Patienten als Koinzidenz zu einer akuten Appendizitis kam. Durch die durchgeführte Knochenentnahme kam es zu einer erschwerten Diagnosestellung, die nur durch eine differenzierte klinische Untersuchung und daraufhin eingeleitete laborchemische und apparative Diagnostik möglich war.
Abkürzungen
CRP
C‑reaktives Protein
VKB
Vorderes Kreuzband

Einleitung

Zur knöchernen Defektfüllung werden im Rahmen von Pseudarthrosen oder Revisionskreuzbandchirurgie regelhaft Spongiosa oder kortikospongiöse Späne vom Beckenkamm entnommen. Dies ist wie jeder operative Eingriff mit spezifischen Risiken und Komplikationsmöglichkeiten vergesellschaftet, die der Anwender kennen und postoperativ überprüfen muss. Typischerweise treten zum Beispiel Schmerzen an der Entnahmestelle auf. Wie der folgende Fallbericht zeigt, kann eine entsprechende Klinik jedoch auch andere Ursachen kaschieren und die korrekte Diagnosefindung erschweren.

Anamnese

Im Mai 2013 erlitt ein damals 16-jähriger Patient im Rahmen eines Verdrehtraumas beim Fußballspielen eine Ruptur des rechten vorderen Kreuzbandes. Im April 2014 wurde eine Ersatzplastik des vorderen Kreuzbands (VKB-Plastik) mit ipsilateraler autologer Semitendinosussehne durchgeführt. Nach Wiederaufnahme des Fußballspielens auf vorherigem Niveau kam es in der Folge zu rezidivierenden Stürzen und Distorsionen und schließlich im Dezember 2015 zu einer Ruptur der VBK-Plastik. Im Januar 2016 erfolgte die erneute VKB-Plastik mit autologer Semitendinosus- und Grazilissehne der Gegenseite. Acht Monate später kam es zu einer VKB-Ruptur auf der Gegenseite, die mittels VKB-Plastik mit ipsilateraler Quadrizepssehne operiert wurden.
Im Dezember 2019 zog sich der inzwischen 22-jährige Patient beim Fußballspielen ein erneutes Verdrehtrauma mit Instabilitätsgefühl des rechten Kniegelenks zu und stellte sich daraufhin in unserer Sprechstunde vor.

Befund und Diagnose

Bei der klinischen Untersuchung zeigten sich reizlose Narbenverhältnisse, kein wesentlicher intraartikulärer Erguss und eine Beweglichkeit von E/F 0/0/130. Der vordere Schubladentest und der Lachmann-Test waren zweifach positiv ohne festen Anschlag. Zudem zeigte sich ein positiver Pivot-Shift-Test. Die Stabilität des hinteren Kreuzbandes und der Kollateralbänder war suffizient.
Die MRT-Diagnostik ergab trotz eingeschränkter Beurteilbarkeit durch Metallartefakte den hochgradigen Verdacht auf eine Ruptur der VKB-Re-Plastik. In der Computertomographie konnte die korrekte Position der Bohrkanäle und eine Erweiterung des tibialen Bohrkanals auf 12 mm nachgewiesen werden (Abb. 1).
Daher wurde eine Arthroskopie zur Diagnosesicherung und Auffüllung der Bohrkanäle mit Knochen vom ipsilateralen Beckenkamm geplant und am 17.02.2020 komplikationsfrei durchgeführt. Intraoperativ bestätigte sich die Ruptur der VKB-Re-Plastik. Die Bohrkanäle wurden debridiert und mit kortikospongiösen Spänen vom ipsilateralen Beckenkamm aufgefüllt.
Am ersten postoperativen Tag klagte der Patient über zunehmende Schmerzen im Bereich der Operationswunde am rechten Beckenkamm. In der körperlichen Untersuchung war die Operationswunde trocken und reizlos. Bei der Auskultation wurde eine regelrechte Peristaltik dokumentiert. Palpatorisch stellte sich das Abdomen weich, ohne Abwehrspannung und mit negativen Appendizitiszeichen (Blumberg-Zeichen, Rovsing-Zeichen) dar. In der postoperativen Laborkontrolle wurden minimal erhöhte Infektparameter (CRP 1,31 mg/dl, Leukozyten 9,05/nl) evident. Sonographisch konnte kein Schmerzkorrelat im Unterbauch identifiziert werden. Die Beschwerden wurden daher zunächst auf die Knochenentnahme am rechten Beckenkamm zurückgeführt und symptomatisch therapiert.
Am zweiten postoperativen Tag präsentierte sich der Patient nach erfolgreichen abführenden Maßnahmen zunächst beschwerdefrei. Am Nachmittag traten erneut starke abdominelle Schmerzen auf, die sich trotz intravenöser Analgesie nicht lindern ließen.
Bei der klinischen Reevaluation konnten die Schmerzen nun differenzierter im Unterbauch ohne Bezug zur Entnahmestelle lokalisiert werden. Das McBurney- und Psoaszeichen waren positiv. Laborchemisch bestand ein mäßiger Anstieg des CRP bei fallender Leukozytenzahl (CRP 4,67 mg/dl, Leukozyten 7,95/nl), sonographisch zeigte sich freie Flüssigkeit am Zoekalpol, die Appendix war nicht darstellbar.

Therapie und Verlauf

In Zusammenschau der Befunde wurde die Indikation zur Laparoskopie gestellt und noch am selben Tag eine Appendektomie durchgeführt. Histologisch bestätigte sich eine akute, phlegmonöse Appendizitis.
Postoperativ waren die Beschwerden sofort rückläufig. Der weitere Verlauf gestaltete sich komplikationslos, vier Tage nach der zweiten Operation konnte der Patient nach Hause entlassen werden.

Diskussion

Die Entnahme von autologen Knochen vom Beckenkamm wird nicht nur in der Revision von Kreuzbändern sondern zum Beispiel auch in der Behandlung von Pseudarthrosen oder Rekonstruktionen von Knochendefekten regelhaft und routinemäßig durchgeführt. Vorteile im Vergleich zu Kunst- oder Leichenknochen sind die gute Verfügbarkeit und die osteoinduktive Potenz [4, 5]. Als Nachteile sind die operativen Risiken und Komplikationen wie Hämatom, Infektion, Fraktur oder Verletzung des N. cutaneus femoris lateralis zu nennen ([1, 6]; Tab. 1). Schmerzen an der Entnahmestelle treten regelhaft auf und sind teilweise stärker als die Schmerzen der eigentlichen Operation [3] und können sogar chronifizieren [2].
Tab. 1
Komplikationen nach Knochenentnahme vom anterioren Beckenkamm (systematischer Review von Dimitriou et al. [1])
Komplikation
Häufigkeit (n von 3180)
Häufigkeit (%)
Insgesamt
603
18,96
Chronische Schmerzen
204
6,42
Sensibilitätsstörung
165
5,19
Infektion
57
1,79
Hämatom
49
1,54
Verletzung N. cutaneus femoris lateralis
35
1,10
Fraktur
9
0,28
Wunddehiszenz
9
0,28
In dem geschilderten Fall wurde die Knochenentnahme am rechten Beckenkamm durchgeführt und die rechtsseitigen Unterbauchschmerzen bei postoperativ nur leicht erhöhten Infektparametern und unauffälligem sonographischem Befund zunächst auf die Entnahme zurückgeführt. Bei der klinischen Reevaluation am Folgetag konnten die Untersuchungsbefunde differenzierter erhoben werden. Die positiven McBurney- und Psoastest erhärteten den Verdacht auf eine Appendizitis. In Zusammenschau mit steigenden laborchemischen Infektparametern und sonographisch nachgewiesenem Flüssigkeitsverhalt am Zoekalpol wurde die korrekte Diagnose einer akuten Appendizitis gestellt und eine laparoskopische Appendektomie durchgeführt. Der weitere Verlauf gestaltete sich komplikationslos, die verzögerte Diagnostik hatte keine langfristigen negativen Konsequenzen für den Patienten.
Eine Appendizitis als Folge einer Knochenentnahme am Beckenkamm ist in der Literatur nicht beschrieben und aufgrund der anatomischen Distanz bei korrekter Entnahmetechnik nicht anzunehmen. Wir gehen in dem geschilderten Fall daher von einer Koinzidenz aus, die korrekte Diagnosestellung wurde jedoch durch die vorangegangene Knochenentnahme erschwert und verzögert. Wegweisend war die differenzierte klinische Untersuchung, die durch weiterführende laborchemische und apparative Diagnostik ergänzt wurde. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Spezialisierung zeigt sich, dass grundlegendes medizinisches Wissen und Untersuchungstechniken von Ärzten jeglicher Fachrichtung beherrscht werden muss.

Fazit für die Praxis

  • Nach einer Knochenentnahme am Beckenkamm treten häufig lokale Schmerzen auf, ein koinzidentes Auftreten einer akuten Appendizitis oder zum Beispiel auch einer akuten Sigmadivertikulitis sind jedoch möglich und differenzialdiagnostisch zu erwägen.
  • Der Schlüssel zur korrekten Diagnose ist die differenzierte und wiederholte klinische Untersuchung, die dann gegebenenfalls um laborchemische und apparative Untersuchungen ergänzt werden sollte.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. Förch, B. Ritter und E. Mayr geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
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Zurück zum Zitat Dimitriou R, Mataliotakis GI, Angoules AG et al (2011) Complications following autologous bone graft harvesting from the iliac crest and using the RIA: a systematic review. Injury 42(Suppl 2):S3–S15CrossRef Dimitriou R, Mataliotakis GI, Angoules AG et al (2011) Complications following autologous bone graft harvesting from the iliac crest and using the RIA: a systematic review. Injury 42(Suppl 2):S3–S15CrossRef
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Metadaten
Titel
Akute Appendizitis nach Knochenentnahme am rechten Beckenkamm – erschwerte Differenzialdiagnostik
verfasst von
S. Förch
B. Ritter
E. Mayr
Publikationsdatum
06.07.2020
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Orthopädie / Ausgabe 10/2020
Print ISSN: 2731-7145
Elektronische ISSN: 2731-7153
DOI
https://doi.org/10.1007/s00132-020-03943-3

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