Hintergrund
Neben Fachkenntnis wurde bereits mehrfach Selbstbewusstsein als Schlüsselfaktor für die klinische Entscheidungsfindung beschrieben [
1,
2]. Darüber hinaus beeinflusst das Selbstbewusstsein, synonym zum Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Urteile, auch die Motivation und den Arbeitserfolg [
3,
4]. Interessanterweise werden mit dem Begriff auch eine niedrigere/höhere Zufriedenheit mit der Weiterbildung und eine niedrigere/höhere Hemmschwelle bei der Bitte um Unterstützung in Verbindung gebracht [
5]. In einer Studie zum Selbstbewusstsein in Bezug auf palliativmedizinische Fragestellungen konnten Storarri et al. zeigen, dass Studierende der höheren Semester sich deutlich selbstbewusster über dieses Thema äußern als jüngere Kommilitonen [
6]. Diese Ergebnisse decken sich mit einer Analyse, die zeigen konnte, dass eine zusätzliche Zertifizierung (Zusatzbezeichnung Palliativmedizin) das Selbstbewusstsein in diesem Bereich steigert [
7]. Im Hinblick auf die Verordnung von Antibiotika wurde gezeigt, dass das Vorhandensein der Zusatzbezeichnung Intensivmedizin positiv mit einem diesbezüglichen Selbstbewusstsein assoziiert war [
8].
Die unsachgemäße Verordnung von Breitspektrumantibiotika ist ein wichtiger Faktor, der zur rasanten Resistenzausbreitung beiträgt [
9]. Die Gründe hierfür sind vielschichtig; in ihrer Übersichtsarbeit zum unangemessenen Antibiotikaeinsatz in Europa nennen Machowska und Lundborg neben dem Wissensmangel in der Bevölkerung auch die problematische Selbstsicherheit von Allgemeinärzten, die die zunehmenden Antibiotikaresistenzen zwar wahrnehmen, sie jedoch nicht als sie selbst betreffendes Problem einordnen [
10]. Von infektiologischer Seite wird auch das Fehlen eines designierten Facharzttitels für Infektiologie und der daraus resultierende Mangel an ausreichender konsiliarischer Beratung der klinischen Fachabteilungen als weitere Ursache für problematische Antibiotikaverwendung genannt, denn gerade im Kontext von Infektionen mit multiresistenten Erregern können innovative Therapieansätze von entsprechend qualifiziertem Personal zur Steigerung der Therapieeffizienz führen [
11]. Eine Infektionsbehandlung ausschließlich durch designierte internistische Infektiologen, wie sie von den entsprechenden Fachgesellschaften diskutiert wird, sollte jedoch kritisch betrachtet werden [
12,
13].
Während die Selbstwahrnehmung der Allgemeinärzte in Bezug auf den Antibiotikaeinsatz und die hausärztliche Wahrnehmung von Problemen, bedingt durch die zunehmenden Resistenzen, bereits gut untersucht wurde, ist wenig über die Krankenhausärzte sowie die Charakteristika verschiedener Facharztgruppen bekannt [
14].
Im Jahr 2015 wurden 1061 Ärztinnen und Ärzte der Fachrichtungen innere Medizin, Allgemeinchirurgie, Gynäkologie und Urologie mithilfe des
Multiinstitutional
Reconnaissance of practice with
Multi
Resistant bacteria (MR2) Survey über ihre Einstellung und ihr Wissen zu Antibiotika und multiresistenten Erregern befragt [
15‐
22]. Ein ähnlicher Fragebogen wurde 2017 an 1268 Fach- und Assistenzärzte der Anästhesiologie versendet [
15‐
22]. Ziel der vorliegenden, explorativen Arbeit war die erstmalige gemeinsame Analyse von beiden MR2-Studien, um dadurch potenzielle fachspezifische Unterschiede der Selbstsicherheit im Umgang mit Antibiotika und auch der Selbstwahrnehmung des eigenen Wissens über Multiresistenzen sowie die rationale antimikrobielle Therapie zu untersuchen.
Diskussion
Ziel der vorliegenden, explorativen Studie war es, die Assoziation der medizinischen Fachrichtung mit der Selbstsicherheit im Umgang mit Antibiotika sowie die Selbstwahrnehmung des eigenen Wissens über Multiresistenzen und die rationale antimikrobielle Therapie zu untersuchen. Bezüglich der im MR2-Fragebogen abgefragten Themenbereiche fühlten sich Anästhesisten deutlich unsicherer im Umgang mit Antibiotika als die Kollegen der anderen betrachteten Fachrichtungen (alle p <0,001). Ähnliche Ergebnisse zeigten sich im Mittelwertvergleich für die Selbsteinschätzung des eigenen Wissens; hier war jedoch der Einfluss der einzelnen Fachrichtungen im LRM geringer. Besonders der Facharztstatus und der Besuch von infektiologischen Fortbildungen beeinflussten die Selbstsicherheit der Teilnehmer positiv (p <0,001 für Mittelwertvergleich). Basierend auf der vorliegenden Analyse können keine Aussagen über Wissensunterschiede zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen getroffen werden.
Für das Ergebnis, dass Fach- und Assistenzärzte der Anästhesiologie bei den verwendeten Fragen eine geringere Selbstsicherheit im Umgang mit Antibiotika im Vergleich zu ärztlichen Kollegen anderer Fachabteilungen zeigen, gibt es mehrere mögliche Erklärungen. Da Anästhesisten einerseits häufig in verschiedenen operativen Bereichen eingesetzt werden, in denen die Antibiotikaprophylaxe bzw. -therapie eingriffsspezifisch standardisiert ist, erfolgt in der Regel keine eigenständige Wahl des Antibiotikums. Andererseits sind Anästhesisten bereits während der Weiterbildung mindestens ein Jahr auf der Intensivstation tätig und dort mit der Therapie von kritisch kranken Patienten und dem Umgang mit multiresistenten Erregern konfrontiert. Die mangelnde Erfahrung der im OP tätigen Anästhesisten mit der eigenständigen Auswahl von Antibiotika sowie die anspruchsvolle antimikrobielle Therapie bei komplexen Intensivpatienten könnten die möglichen Ursachen für eine weniger selbstsichere Haltung bei dem zielgerichteten, eigenständigen Einsatz von Antibiotika sein. Dies bedeutet aber keineswegs, dass eine geringere Selbstsicherheit auch mit einem geringeren objektiven Wissen assoziiert ist. In diesem Licht ist die geringere Selbstsicherheit sogar positiv zu bewerten, da sie, vom rein klinischen Hintergrund gelöst, auch eine größere Fähigkeit zur Selbstkritik impliziert und zu Reevaluation und Diskussion einlädt. So kann die antimikrobielle Therapie ggf. durch die Zuhilfenahme externer Expertise (z. B. durch infektiologische Konsile) sowohl gezielt für den Patienten optimiert als auch an die lokalen Erregerspektren und Risiken angepasst werden. Allerdings muss bei der Interpretation des Studienergebnisses auch Berücksichtigung finden, dass Fach- und Assistenzärzte der Anästhesiologie mit einem Mittelwert von 2,53 im Schnitt zwar unsicherer als ihre Kollegen aus den anderen Fachabteilungen sind, sich alle Ärzte aber dennoch mit Mittelwerten zwischen 2,53 und 3,15 auf der vorliegenden Likert-Skala insgesamt eher selbstsicher im Umgang mit Antibiotika fühlen (Interpretation: s. Abschn. „Material und Methoden“). Bisher wurden von verschiedenen Autorengruppen ähnliche Skalen verwendet, um die Selbstsicherheit und das Selbstvertrauen in Bezug auf medizinische Themenkomplexe zu erfassen [
4,
7,
22,
23]. Für stark verwandte Themen wie etwa die Selbsteinschätzung des infektiologischen Wissens von Krankenschwestern [
22] oder die Selbstsicherheit bei palliativmedizinischen Fragestellungen im intensivmedizinischen Umfeld [
7] waren diese ähnlich gering, während Geoffrion et al. deutlich größere Unterschiede in der Selbstwahrnehmung von gynäkologischen Assistenzärzten vor und nach einer Intervention zur vaginalen Hysterektomie fanden [
4]. Dennoch sind die von der vorliegenden Untersuchung nachgewiesenen Unterschiede in der Selbstsicherheit verschiedener Fachdisziplinen als gering einzustufen.
Ähnliche Ergebnisse finden sich in Bezug auf die Selbsteinschätzung des eigenen Wissens im Umgang mit Antibiotika. Interessanterweise verabreichten die Anästhesisten im vorliegenden Datensatz mit 43,8 % innerhalb der Gruppe zwar am häufigsten eigenständig Antibiotika bei mehr als 5 Patienten/Woche (Tab.
1), fühlten sich dabei jedoch am unsichersten (Tab.
2) und besuchten gleichzeitig seltener themenspezifische Fortbildungen (Tab.
1). Insofern kann die vorliegende Studie nicht abschließend klären, ob die Ergebnisse durch berechtigte (ehrliche) Unsicherheit der Anästhesisten im Kontext einer komplexen Thematik oder durch unberechtigte Sicherheit der Mitarbeiter anderer Fachabteilungen begründet sind. Da unterschiedliche Selbstsicherheiten nicht gleichbedeutend mit Unterschieden des objektiven Wissens der Teilnehmer sind, hätte der Vergleich der Fachkenntnis, also des objektiven Wissens, zur Klärung einen wesentlichen Beitrag leisten können, war in dieser Arbeit aber leider nicht möglich. Zudem würde die Frage nach einer angemessenen Fachkenntnis selbst in prospektiven Studien kaum zu beantworten sein, da in den operativen Fächern auch infektiologisch die Schwerpunkte in den jeweiligen Fachgebieten liegen, während die Anästhesiologie in der intrahospitalen Patientenversorgung die interdisziplinäre Schnittstelle zwischen allen operativen und nichtoperativen Fächern darstellt.
Eine Übersichtsarbeit von Machowska et al. aus dem Jahr 2018 weist auch auf eine inadäquate Erwartungshaltung und unzureichendes Wissen der Bevölkerung als Ursachen für Fehlnutzung und Fehlverschreibung von Antibiotika hin [
10]. Darüber hinaus identifizieren die Autoren allerdings auch die Furcht der behandelnden Ärzte vor Komplikationen sowie deren mangelnde ABS-Erfahrung als Probleme im Umgang mit antimikrobiellen Substanzen [
10,
24]. In diesem Kontext wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wiederholt auf die Bedeutung einer angemessenen studentischen Ausbildung zu Antibiotika und deren Verschreibung hingewiesen [
25]. Im Einklang mit diesen Empfehlungen stehen die Ergebnisse des General Medical Council in Großbritannien: 10 % der jungen Ärzte trauen sich die Verschreibung von Antibiotika nicht zu, obwohl sie täglich damit konfrontiert werden [
26]. Gleichwohl zeigt die vorliegende Analyse, dass nur von einem sehr kleinen Anteil der Ärzte aller Fachrichtungen 2 oder mehr Fortbildungen zum Thema besucht wurden, obgleich sie regelmäßig selbstständig Antibiotika verordneten (Tab.
1).
Wenig überraschend ist der Besuch von Fortbildungen zum Thema Multiresistenzen und rationale Antibiotikaverwendung mit höherer Selbstsicherheit sowie einer signifikant höheren Einschätzung des eigenen Wissens assoziiert (Tab.
3). Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Untersuchung von Phillips et al. [
26]. Sie fanden in ihrer Studie zum Selbstvertrauen von jungen Assistenzärzten im Umgang mit Vancomycin nach einer Fortbildung zwar ein vermindertes Selbstvertrauen in Bezug auf das initiale Monitoring, andere Unterpunkte des Selbstvertrauens konnten jedoch durch diese Maßnahme gestärkt werden [
25,
26,
26,
27]. In einer Analyse des Selbstvertrauens von Krankenschwestern im Umgang mit antimikrobiellen Substanzen konnte hingegen kein Unterschied zwischen den Werten vor und nach einer Fortbildung zum Thema ABS gefunden werden [
27]. Ferner deuten die Ergebnisse eines Cochrane-Übersichtsartikels darauf hin, dass Interventionen und Fortbildungen eine effektive Maßnahme sein können, um einen leitliniengerechten Umgang mit antimikrobiellen Substanzen zu erreichen [
28].
In ihrer Untersuchung zum Management von Fieberkrämpfen konnten Bashiri et al. zeigen, dass es zwar große Unterschiede im Fachwissen der an der Versorgung beteiligten Ärztegruppen gibt, eine Subspezialisierung einzelner Facharztgruppen dies jedoch nicht weiter beeinflusst [
29]. Andere Studien untersuchten das Wissen bezüglich der transkraniellen Magnetstimulation und kamen zu ähnlichen Ergebnissen [
30]. Im Gegensatz zu diesen Ergebnissen konnten im anästhesiologischen Studienzweig der MR2-Studie starke Unterschiede zwischen Anästhesisten ohne und mit Zusatzweiterbildung Intensivmedizin gefunden werden [
8]. In der gegenwärtigen Analyse sind Facharzt- und Oberarztstatus durch alle Fachgruppen hindurch mit einer größeren Selbstsicherheit assoziiert; diese Assoziation fällt in der Auswertung der Items zur Selbsteinschätzung des eigenen Wissens geringer aus (Tab.
3).
Eine andere Arbeit der MR2-Studie zeigte, dass weibliche Anästhesisten zu deutlich geringerem Selbstbewusstsein als ihre männlichen Kollegen im Umgang mit Antibiotika neigen, wenngleich das objektive Wissen in beiden Gruppen gleich war [
18]. Ähnliches gilt für Ärzte an Universitätskliniken im Vergleich mit ihren nichtuniversitär tätigen Kollegen [
20]. Im Vergleich zwischen Fachärzten und Assistenzärzten der Anästhesie waren Letztere unsicherer und wiesen ein geringeres objektives Wissen auf [
19].
Bei der Interpretation der Studienergebnisse sind einige Limitationen zu beachten: Zunächst handelt es sich bei der Analyse um eine gepoolte Analyse von Fragebogen, die zu verschiedenen Zeitpunkten und mit lediglich ähnlichem, jedoch nicht gleichem Inhalt versendet wurden (Vergleich von Zusatzmaterial online ESM A und B). Einflüsse durch das unterschiedliche Design und Unterschiede in der Länge der Fragebogen auf die Antworten der Studienteilnehmer können nicht ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist die Auswahl der Fachabteilungen nicht repräsentativ, d. h., es wurden nicht alle Fachrichtungen und deren Selbstwahrnehmung zur Antibiotikaanwendung in die Befragung eingeschlossen, was die Generalisierbarkeit der Studienergebnisse einschränkt. Zudem können die gängigen Probleme in der Auswertung von Fragebogenstudien („social desirability response set“, „non-response bias“) auch für die vorliegende Studie bestehen.
In der Zusammenschau der Ergebnisse aus den MR2-Studien stellten sich die Unterschiede zwischen einzelnen medizinischen Fachrichtungen deutlicher dar als die Unterschiede innerhalb der Fachabteilungen zwischen Ärzten in verschiedenen akademischen und organisatorischen Positionen. Dies unterstreicht abermals die Bedeutung von Spezialisierungen im Bereich ABS sowie die Wichtigkeit des interdisziplinären Monitorings von Antibiotikaverbrauch und -anwendung. Ärzte, die Fortbildungen zum Thema besucht haben, fühlten sich sicherer. Die Wichtigkeit einer kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung zu Multiresistenzen und Antibiotikaanwendung scheint folglich evident und selbstverständlich. Die Ergebnisse zeigten allerdings auch, dass nur ein unzureichender Anteil der Ärzte solche Fortbildungen besucht; aus dieser Sicht muss eine Verankerung von ABS in den jeweiligen Weiterbildungsinhalten diskutiert werden.
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