Skip to main content
Erschienen in: Rechtsmedizin 3/2022

Open Access 06.07.2021 | Kindesmisshandlung | Kasuistiken

Eine retrospektive Untersuchung zu differenzialdiagnostischen Überlegungen in vermeintlichen Kinderschutzfällen

Kindeswohlgefährdung, klarer Fall – oder?

verfasst von: Stefanie Röding, Aline Dittmann-Wolf, Denise Lackner, Christian Blume, Anette Hasse, Elisabeth Mützel, PD Dr. med. habil. Gerhard K. Wolf

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 3/2022

Zusammenfassung

Hintergrund

Die Diagnosestellung einer Kindesmisshandlung kann mit Irrtümern in beide Richtungen verbunden sein; einerseits können Misshandlungen unentdeckt bleiben oder aber Misshandlungen fälschlicherweise als Ursache für Verletzungen angenommen werden. Derartige diagnostische Irrtümer können dazu führen, dass Kinder dem misshandelnden Umfeld weiterhin ausgesetzt werden oder aber Kinder zu Unrecht in Obhut genommen und von ihrer Familie getrennt werden.

Methoden

Kinderschutzfälle aus den letzten 10 Jahren wurden retrospektiv anhand der elektronischen Krankenakte auf falsch-positive Fälle untersucht. Ein positives Ethikvotum der LMU München zur Publikation liegt vor.

Ergebnisse

Die als falsch-positiv identifizierten Fälle hatten als Ursache für vermeintliche nichtakzidentelle Verletzungsmuster eine genetisch gesicherte Osteogenesis imperfecta Typ 6, einen Lichen sclerosus und eine Hämophilie B. In allen Fällen wurde das Jugendamt miteinbezogen, in allen Fällen kam es zu einer Belastung für Eltern und Kinder, in einem Fall kam es zu einer, im Nachhinein ungerechtfertigten, temporären Inobhutnahme.

Diskussion

Eine interdisziplinär und multiprofessionell besetzte Kinderschutzgruppe an der Kinderklinik kann notwendige Differenzialdiagnosen ins Gespräch bringen und die Koordination mit dem Jugendamt und der Polizei erleichtern. Die Inobhutnahme durch das Jugendamt ist einerseits eine wichtige Maßnahme, um Kinder und Jugendliche vor weiteren Gefährdungen zu schützen, andererseits sollten ungerechtfertigte Inobhutnahmen vermieden werden, weil die daraus resultierende Trennung von Eltern und Kind zu erheblichen Belastungen führen kann. Die Konsultation der Rechtsmedizin ist hilfreich, um die Diagnose entsprechend einzugrenzen oder aber um alternative, medizinische Diagnosen anzubieten.

Einleitung

Kinderschutz kann häufig nur interdisziplinär geregelt werden, indem multiple Fachdisziplinen miteinander kooperieren. An vielen deutschen Kinderkliniken bestehen inzwischen Kinderschutzgruppen, welche interdisziplinär besetzt und in der Regel mit dem Jugendamt, der Polizei, dem Familiengericht und der Rechtsmedizin vernetzt sind. Am beschriebenen Standort ist die Kinderschutzgruppe nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin multidisziplinär zusammengesetzt (Kinderheilkunde, Kinderchirurgie, Kinderneurologie, Radiologie, Psychotherapie, Sozialdienst und Pflege) und kooperiert mit dem Institut für Rechtsmedizin der LMU. Das Ziel des Zusammenwirkens dieser verschiedenen Fachdisziplinen ist es, Kindeswohlgefährdungen zu erkennen und ggf. adäquate Schutzmaßnahmen für das Kind einzuleiten. Die Bewertung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht, ist komplex, und die medizinische Diagnosestellung erfordert eine hohe fachliche Expertise. Dass kleine Kinder den Verletzungshergang oftmals nur begrenzt beschreiben können, teilweise Sprachbarrieren existieren und Eltern oder andere betreuende Personen eine Misshandlung in der Regel nicht offen ansprechen und einräumen, erschwert die Diagnosestellung zusätzlich.
Einerseits müssen Kinder, deren Wohl gefährdet ist, umgehend geschützt werden, andererseits bedeuten ungerechtfertigte Verdächtigungen und falsch-positive Einschätzungen von Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung einen schweren Schaden für Kinder und Eltern, den es ebenso zu vermeiden gilt. Vor diesem Hintergrund müssen neben medizinischen Diagnosen, die den Verdacht einer Misshandlung oder eines sexuellen Missbrauchs bestätigen oder auch widerlegen, auch stets alternative Erklärungen für scheinbare Misshandlungen in Erwägung gezogen werden. Steht die Verdachtsdiagnose „Kindesmisshandlung“ einmal im Raum, kommt es häufig zu einem gravierenden Vertrauensverlust zwischen Ärztinnen/Ärzten und Eltern.
Fatalerweise kommt es immer wieder zu folgenschweren Fehleinschätzungen: Einerseits bleiben Kindesmisshandlungen manchmal unentdeckt, weil die Diagnose aus verschiedenen Gründen nicht richtig gestellt werden konnte, das Kind kommt nach der klinischen Vorstellung in das familiäre Setting zurück, und die Misshandlungen setzen sich fort. Andererseits liegt in manchen Fällen gar keine Misshandlung oder ein Missbrauch eines Kindes vor, und Erkrankungen, die zu den entsprechenden „Verletzungsmustern“ führten, werden nicht erkannt. Diese Fälle werden aufgrund einer Fehlinterpretation der Befunde möglicherweise als Kindeswohlgefährdung dem Jugendamt mitgeteilt, was dazu führen kann, dass die Kinder von den Fachkräften des Jugendamtes (dann ungerechtfertigt) in Obhut genommen werden und sich eine notwendige Therapie der Grunderkrankung verzögert. Auch in diesem Fall wird das Wohl des Kindes gefährdet, jedoch ergibt sich die (sekundäre) Kindeswohlgefährdung [5] aus dem Handeln der professionellen Akteure und Akteurinnen.
Einige dieser medizinischen Befunde und differenzialdiagnostischen „Erkrankungen“, welche als Erklärung für Hämatome, Blutungen, Frakturen etc. dienen können, sollen vorgestellt und kritisch gewürdigt werden.

Methoden

Die Kinderschutzfälle der letzten 10 Jahre wurden revidiert. Kinderschutzfälle (n = 33), welche im Rahmen der klinischen Routine zur Vorstellung kamen, wurden identifiziert. In etwa der Hälfte der Fälle lag eine eindeutige Kindesmisshandlung vor, in 6 dieser Fälle kam es zur Inobhutnahme. In den anderen Fällen wurde zwar keine Kindesmisshandlung, aber zumindest eine Vernachlässigung festgestellt. Ein Kind war bereits vor der klinischen Vorstellung vom Jugendamt in Obhut genommen. Bei 2 Verdachtsfällen wurde die eindeutige Diagnose erst nach erneuter Vorstellung gestellt. Die Bayerische Kinderschutzambulanz der Rechtsmedizin der LMU München wurde bei Unklarheiten sekundär entweder telefonisch oder über ein Online-Portal („Remed-online“ [1]) konsultiert. Die Anamnesen und Darstellungen (z. B. Alter) wurden an bestimmten Stellen verfremdet, um eine nachträgliche Identifikation auszuschließen. Es besteht ein positives Ethikvotum der Ethikkommission der LMU München zur Publikation dieser Fälle.

Ergebnisse

Fall 1

Ein 15 Monate altes Kind wurde von seinen Eltern mit seit 2 Tagen bestehenden Schmerzen und Schwellung am linken Oberschenkel in der Notaufnahme vorgestellt. Radiologisch zeigte sich eine linksseitige Femurfraktur, die kinderchirurgisch mit Prévot-Nägeln versorgt wurde.
Die Familie war vor wenigen Jahren nach Deutschland geflüchtet. Auch im ausführlichen Gespräch mit dem Dolmetscher können die Eltern keine adäquate Erklärung für die Fraktur liefern. Das Kind laufe seit ca. 2 Monaten frei und sei vor 2 Tagen aus dem Stand auf den Po gefallen, als ihn seine Mutter gebeten habe, aus dem Weg zu gehen. Seither laufe es nicht mehr und sei insgesamt sehr weinerlich.
Bei der Durchsicht der Krankenakten (pädiatrisch, kinder- und unfallchirurgisch) fiel auf, dass das Kind bereits 2 Monate zuvor aufgrund einer Oberarmfraktur links in konservativer kinderchirurgischer Behandlung war. Ursache sei der Sturz von einem Hocker nach Schubsen durch ein Geschwisterkind gewesen. Vor 3 Wochen war eine unfallchirurgische Vorstellung aufgrund von Schmerzen im rechten Oberarm erfolgt. Hier kam es aber offensichtlich zu einem Missverständnis, und es wurde davon ausgegangen, dass die Schmerzen den zuvor frakturierten Arm betreffen würden, sodass lediglich dieser Arm geröntgt wurde. Hierbei zeigte sich eine adäquate Kallusbildung.
Aufgrund der erneuten Fraktur eines großen Röhrenknochens innerhalb weniger Monate und der nichtplausiblen Anamnese wurde der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung geäußert. Zusammen mit der Kinderschutzgruppe wurde das weitere Vorgehen festgelegt. In der Röntgenuntersuchung nach Leitlinie (Schädel, obere und untere Extremität, Wirbelsäule, Thorax- und Beckenübersicht, [3]) wurden zusätzlich zur Oberschenkelfraktur Frakturen beider Oberarme unterschiedlichen Alters sowie mehrere Rippenfrakturen festgestellt (Abb. 1a–d). Eine Schädel-MRT ebenso wie eine augenärztliche Untersuchung zum Ausschluss retinaler Blutungen waren unauffällig. Zusätzlich wurde ein genetisches Panel zur Diagnostik einer Osteogenesis imperfecta durchgeführt. Mit dem Ergebnis konnte jedoch erst eine bis 2 Wochen später gerechnet werden.
Es erfolgte die Kontaktaufnahme zum zuständigen Jugendamt und zur Rechtsmedizin München, und noch am gleichen Tag fand das erste von mehreren Helfergesprächen mit einem Dolmetscher statt. Den Eltern wurde der Verdacht der Kindesmisshandlung eingehend erläutert. Aufgrund des Gesamtbildes wurde vom Jugendamt die Indikation zur Inobhutnahme bis zur endgültigen Klärung des Sachverhaltes gestellt und das Kind 4 Tage nach Klinikaufnahme in eine Pflegefamilie entlassen. Die Geschwister blieben zunächst in der Familie; bei ihnen konnten keine eindeutig misshandlungsverdächtigen äußeren Verletzungen festgestellt werden.
Nach weiteren 20 Tagen traf der humangenetische Befund ein; beim Patienten konnte eine Mutation im SERPINF1-Gen, passend zu einer Osteogenesis imperfecta Typ 6, nachgewiesen werden. Dieser Befund wurde am gleichen Tag dem Jugendamt, der Pflegefamilie und den Eltern mitgeteilt, und das Kind konnte umgehend zurück in seine Familie verbracht werden. Im Verlauf wurde eine Konsanguinität der Eltern bekannt. Eine humangenetische Untersuchung zeigte bei beiden Eltern einen heterozygoten Nachweis der oben genannten Mutation.

Fall 2

Nach einer Vorstellung beim Kinderarzt wurde ein 8‑jähriges Mädchen zunächst zum niedergelassenen Gynäkologen und dann in die Ambulanz der Kinderklinik verwiesen. Grund für die Vorstellung war der V. a. eine genitale Verletzung. Seit etwa einer Woche hatte die Patientin Schmerzen im Genitalbereich angegeben, und bereits zuvor war der Mutter ein Harnträufeln aufgefallen. Am Vorabend der Vorstellung waren der Mutter eine Verletzung und eine Schwellung der Schamlippen aufgefallen. Ein Trauma war der Mutter zunächst nicht erinnerlich; auf Nachfragen wurde ein mögliches Trauma auf einer Wippe vor einigen Tagen angegeben. Es erfolgte die ausführliche Untersuchung durch eine Frauenärztin der Klinik im Beisein einer Kinderärztin aus dem Team der Kinderschutzgruppe. Es zeigte sich ein ausgeprägter Befund: Zu sehen waren eine Unterblutung der kleinen Labie rechts sowie eine punktförmige Unterblutung am Introitus zwischen 3 Uhr und 5 Uhr. Im Analbereich stellte sich bei 12 Uhr eine Fissur dar (Abb. 2). Das Hymen zeigte keine frischen Einrisse. Es wurden DNA-Abstriche vom Introitus entnommen. Im Gespräch mit der Psychologin zeigte sich eine harmonisch erscheinende Interaktion der Mutter mit dem Mädchen, und das Mädchen zeigte ein unauffälliges altersentsprechendes Verhalten. Die Mutter drängte auf Entlassung, es wurde bei unklarer Diagnose jedoch vor Entlassung das Jugendamt einvernehmlich involviert.
Aufgrund des Missbrauchsverdachtes erfolgte ein anonymisiertes Konsil durch die Rechtsmedizin München, inklusive Fotodokumentation. Hier bestätigte sich der V. a. einen ausgeprägten Lichen sclerosus et atrophicans. Durch die poröse Oberhaut konnte die Haut dabei bereits bei einem minimalen Trauma mit Blutungen einreißen. Ein sexueller Missbrauch konnte per se nicht ausgeschlossen werden, erschien in der Gesamtzusammenschau aber unwahrscheinlich. Es zeigten sich keine fremden DNA-Spuren.

Fall 3

Ein 4 Monate altes Kind wurde von den Eltern aufgrund eines unklaren Hämatoms am linken Handrücken vorgestellt. Eine Ursache für das Hämatom in Form eines Traumas war nicht erinnerlich. Im Rahmen der ansonsten unauffälligen Untersuchung fiel zudem auf, dass das Kind beim Hochheben unter den Achseln links empfindlich war. Im Röntgen wurde der Verdacht auf eine Fraktur gestellt. Bei dem schon länger zurückliegenden Fall wurde zu diesem Zeitpunkt zur Suche von älteren Frakturen anstelle eines Röntgenskelettscreenings noch eine Skelettszintigraphie durchgeführt. Hier zeigten sich keine Auffälligkeiten. Im Rahmen der möglichen Differenzialdiagnosen wurde auch der Verdacht auf eine Kindesmisshandlung mit den Eltern diskutiert.
Im Rahmen einer ausführlicheren Labordiagnostik zeigte sich die PTT mit 89 s deutlich verlängert, der Quick-Wert war 68 %, und der INR-Wert lag bei 1,3. Im weiteren Verlauf konnte eine schwere Hämophilie B mit Restaktivität von Faktor IX <1 % nachgewiesen werden. Die Familienanamnese war bezüglich hämatologischer Erkrankungen unauffällig.
Im weiteren Verlauf wurde das Kind immer wieder zur akuten Substituierung von Blutgerinnungsfaktor IX nach Trauma (Sturz aus Babyschale, Sturz vom Wickeltisch) vorgestellt.

Diskussion

Abgestuftes Vorgehen bei Kinderschutzfällen und mögliche „pitfalls“

Werden den Ärzten und Ärztinnen in der Kinderklinik gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes bekannt, schreibt § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) ein abgestuftes Verfahren vor, an dessen Ende unter bestimmten Voraussetzungen eine Mitteilung an das Jugendamt steht. Im Vorfeld soll die Situation mit dem Kind und den Personensorgeberechtigten erörtert und auf die Inanspruchnahme von Hilfen hingewirkt werden (§ 4 Abs. 1 KKG). Zur Einschätzung einer möglicherweise bestehenden Kindeswohlgefährdung haben Kinderärzte und Kinderärztinnen die Möglichkeit, sich durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“ beraten zu lassen, sofern die übermittelten Daten pseudonymisiert werden (§ 4 Abs. 2 KKG). In diesem Zusammenhang können sie sich auch an eine rechtsmedizinische Stelle [1] wenden.
Irrtümer in beide Richtungen, nämlich entweder die Misshandlung oder den Missbrauch eines Kindes oder Jugendlichen zu übersehen oder aber diese fälschlicherweise zu diagnostizieren und hierdurch eine Intervention durch das Jugendamt zu initiieren, können Folgen für die gesamte Familie haben. Im Besonderen ist die Inobhutnahme durch das Jugendamt eine Intervention, die mit einer abrupten Trennung des Kindes von seinen engsten Bezugs- bzw. Bindungspersonen und somit, v. a. bei Kleinkindern, mit psychischen Belastungen einhergeht [4]. Speziell bei jüngeren Kindern dauerten Inobhutnahmen im Mittel um die 30 Tage [10]. Angesichts der plötzlichen Trennung des Kindes von seinen Bezugspersonen und der Tatsache, dass ihm in dieser Situation keine andere, vertraute, Bezugsperson zur Verfügung steht, sind die mit dieser Situation verbundenen physiologischen (erhöhte Cortisolausschüttung) und emotionalen Belastungen (depressive Reaktionen) für kleine Kinder signifikant [10]. Ist die Inobhutnahme also einerseits eine wichtige Maßnahme, um Kinder und Jugendliche vor weiteren Gefährdungen zu schützen, sollten andererseits ungerechtfertigte Inobhutnahmen unbedingt vermieden werden. Dieser Sachverhalt weist auf die Diffizilität der Kinderschutzarbeit und die auch für Ärzte und Ärztinnen in diesem Tätigkeitsfeld bestehenden Herausforderungen hin.

Falsch-positive Fälle und mögliche Differenzialdiagnosen

In einer Untersuchung des Projektes Kinderschutz der Rechtsmedizin Hannover wurden im Zeitraum von 2010 bis 2013 30,3 % der Verdachtsfälle seitens der erstbehandelnden Ärzte entkräftet, weil entweder ein Trauma, eine Normvariante oder eine medizinische Erkrankung in Betracht kam [9]. In einem rezenten publizierten Fall wurde in Ontario, Kanada, ein lebenslängliches Urteil gegen den Onkel eines 4‑jährigen Kindes aufgehoben. Das Kind wurde leblos im Bett aufgefunden, der Onkel fungierte zu dieser Zeit als „Babysitter“. Postmortale Artefakte, wie eine postmortal aufgetretene Blutung im Halsbereich sowie eine postmortal aufgetretene anale Dilatation, wurden im ursprünglichen Prozess als anale Vergewaltigung mit Würgen und Tod durch Asphyxie gewertet [7]. Die eigentliche Todesursache des Kindes konnte nicht festgestellt werden, aber natürliche Ursachen wie Long-QT-Syndrom, Epilepsie oder Anaphylaxie wurden in Betracht gezogen. Der Onkel war bis zur Aufhebung des Urteils 12 Jahre inhaftiert.
Differenzialdiagnosen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung sind mitunter sehr seltene Erkrankungen. So können z. B. Erweiterungen des Subarachnoidalraums und subdurale Blutungen eine Glutaracidurie Typ I (u. U. mit Retinablutungen), eine Störung des Kupfertransportes (Menkes-Syndrom) oder einen Cobalamin-C-Mangel als Ursache haben [8]. Als Ursache für Frakturen kommen eine Osteogenesis imperfecta oder ein alimentär bedingter Vitamin-D-Mangel in Betracht [6]. Longitudinale Streifen am Rücken, welche u. U. auch vernarben, können eine harmlose Bindegewebsveränderung in der Pubertät als Ursache haben (Striae distensae). Mongolenflecke, welche üblicherweise im Kleinkindalter abblassen, können mit Hämatomen verwechselt werden [8]. Genitale Verletzungen (Einrisse) und Blutungen können durch hypotrophe Hautveränderungen im Rahmen eines Lichen sclerosus wie im beschriebenen Fall bedingt sein. Hämatome wiederum können durch eine Gerinnungsstörung hervorgerufen werden, welche nicht in der Routinediagnostik erkennbar ist, z. B. ein Willebrand-Syndrom oder seltenere Thrombozytenfunktionsstörungen (M. Glanzmann) [2]. Siehe hierzu auch die entsprechende S3-Leitlinie Kinderschutz [3].

Kindeswohlgefährdung und Situation der Eltern im Zusammenhang mit medizinischen Fehleinschätzungen

In den hier beschriebenen Fällen konnte eine Kindesmisshandlung letztendlich ausgeschlossen werden, dennoch sprach in den beschriebenen Fällen die initiale Konstellation für eine Kindeswohlgefährdung. Der klinische Verlauf mit initialem Verdachtsmoment sowie dem anschließenden Einbezug des Jugendamtes und des Familiengerichtes führten jedoch zu Belastungen für Eltern und Kinder [5].
Die Mutter des Kindes mit Osteogenesis imperfecta, selbst durch Flucht traumatisiert und ohne Deutschkenntnisse, war plötzlich damit konfrontiert, dass ihr Kind durch das Jugendamt in Obhut genommen und in einer Pflegefamilie untergebracht wurde. Das Kind war insgesamt 2 ½ Wochen nicht bei der Familie. Anfängliche Überlegungen, auch die anderen Kinder zum Schutz aus der Familie zu nehmen, wurden nicht umgesetzt. Im Anschluss beschrieben die Eltern dies als eine extrem traumatisch empfundene Situation. Die Familie wurde für die Therapie an die Klinik angebunden.
Die Diagnosestellung Lichen sclerosus erfolgt in der Regel anhand des klinischen Erscheinungsbildes mit pergamentpapierartigen Veränderungen der Haut im Anogenitalbereich. Im beschriebenen Fall war aufgrund der akuten vaginalen Verletzungen eine eindeutige Zuordnung zunächst erschwert. Auf dringenden Wunsch der Mutter wurde das Kind dennoch vor Klärung der endgültigen Diagnose nach Hause entlassen, jedoch wurde vor der Entlassung das Jugendamt mit dem Einverständnis der Mutter involviert. Dieses abgestufte Vorgehen erscheint auch im Nachhinein gerechtfertigt. Man wollte von Klinikseite mit der Involvierung des Jugendamtes sicherstellen, dass das Kind vor erneutem sexuellen Missbrauch geschützt wird. Nach der Diagnosestellung Lichen sclerosus, dem Erhalt aller Befunde und der Rückmeldung der Rechtsmedizin erfolgte ein erneutes Gespräch mit der Mutter, in dem die Diagnose sowie mögliche Therapien erläutert und eine kindergynäkologische Anbindung empfohlen wurden. Die Mutter zeigte sich in dem Gespräch emotional sehr belastet. Der Befund des Kindes heilte unter topischer Steroidtherapie ab.

Fazit für die Praxis

Die vorgestellten Fälle hatten als Ursache für vermeintliche nichtakzidentelle Verletzungsmuster eine genetisch gesicherte Osteogenesis imperfecta Typ 6, einen Lichen sclerosus und eine Hämophilie B. Die Dunkelziffer der nichtdiagnostizierten Fälle von Kindesmisshandlung ist vermutlich um ein vielfaches höher als die Fälle, welche falsch-positiv diagnostiziert wurden. Dennoch müssen medizinische Diagnosen als Differenzialdiagnose unbedingt ausgeschlossen werden. Hierfür ist die Zusammenarbeit der jeweiligen Fachdisziplinen unabdingbar. Falls die klinische oder genetische Diagnostik länger dauert als der stationäre Aufenthalt, sollte das zuständige Jugendamt in Rücksprache mit der Kinderschutzgruppe der Klinik festlegen, mit welchen Maßnahmen der Schutz des Kindes bis zum Abschluss der Diagnostik gewährleistet werden kann. In der Regel kann ein Kind nicht über Wochen bis zum Erhalt der genetischen Diagnostik stationär in der Klinik bleiben, u. U. wäre aber auch ein abgestuftes Vorgehen des Jugendamtes denkbar, um eine Inobhutnahme zu vermeiden.
Um die eingangs beschriebenen Irrtümer in beide Richtungen – das Kind verbleibt im misshandelnden Umfeld oder wird ungerechtfertigt in Obhut genommen – bestmöglich zu vermeiden, sollte die Diskussion eines Falles in interdisziplinär und interprofessionell besetzten Kinderschutzgruppen obligatorisch sein und die Gründung von Kinderschutzgruppen an Kinderkliniken weiter vorangetrieben werden. Notwendige Differenzialdiagnosen können auf diesem Weg ins Gespräch gebracht werden; auch erleichtert eine Kinderschutzgruppe die oftmals notwendige Kooperation mit dem Jugendamt und der Polizei. Die Konsultation der Rechtsmedizin ist in vielen Fällen hilfreich, um die Diagnose entsprechend einzugrenzen oder aber um alternative medizinische Diagnosen anzubieten.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. Röding, A. Dittmann-Wolf, D. Lackner, C. Blume, A. Hasse, E. Mützel und G.K. Wolf geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Auf eine Einwilligung der Patienten zur Bilddokumentation wurden im LMU-Ethikvotum unter Anonymisierung der Patienten verzichtet.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

Rechtsmedizin

Print-Titel

• Einzige deutschsprachige Zeitschrift für Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmediziner

• Ausgewählte Übersichtsbeiträge zu aktuellen Themenschwerpunkten

e.Med Interdisziplinär

Kombi-Abonnement

Für Ihren Erfolg in Klinik und Praxis - Die beste Hilfe in Ihrem Arbeitsalltag

Mit e.Med Interdisziplinär erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Fachzeitschriften auf SpringerMedizin.de.

Literatur
2.
Zurück zum Zitat Bidlingmaier C, Olivieri M, Kurnik K (2012) Hautblutungen bei Kindern. Monatsschr Kinderheilkd 6:538–544CrossRef Bidlingmaier C, Olivieri M, Kurnik K (2012) Hautblutungen bei Kindern. Monatsschr Kinderheilkd 6:538–544CrossRef
4.
Zurück zum Zitat Bowlby J (2006) Verlust, Trauer und Depression. Reinhardt, Bowlby J (2006) Verlust, Trauer und Depression. Reinhardt,
5.
Zurück zum Zitat Dettenborn H (2003) Die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung als Risikoentscheidung. FPR 06:293–299 Dettenborn H (2003) Die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung als Risikoentscheidung. FPR 06:293–299
6.
Zurück zum Zitat Pickhardt C, Urban R, Körber F et al (2016) Seltene Differentialdiagnosen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung. Monatsschr Kinderheilkd 11:1020–1024CrossRef Pickhardt C, Urban R, Körber F et al (2016) Seltene Differentialdiagnosen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung. Monatsschr Kinderheilkd 11:1020–1024CrossRef
7.
Zurück zum Zitat Pollanen MS (2012) Forensic pathology and the miscarriage of justice. Forensic Sci Med Pathol 8:285–289CrossRef Pollanen MS (2012) Forensic pathology and the miscarriage of justice. Forensic Sci Med Pathol 8:285–289CrossRef
8.
Zurück zum Zitat Scholl-Bürgi S, Kapelari K, Michel M et al (2016) Angeborene Stoffwechselstörungen in der Differenzialdiagnose von Kindesmisshandlung. Pädiatr Prax 86:273–283 Scholl-Bürgi S, Kapelari K, Michel M et al (2016) Angeborene Stoffwechselstörungen in der Differenzialdiagnose von Kindesmisshandlung. Pädiatr Prax 86:273–283
9.
Zurück zum Zitat Todt M, Maciuga A, Derbertin AS (2014) „Projekt Kinderschutz“ in Niedersachsen. Rechtsmedizin 24:399–404CrossRef Todt M, Maciuga A, Derbertin AS (2014) „Projekt Kinderschutz“ in Niedersachsen. Rechtsmedizin 24:399–404CrossRef
10.
Zurück zum Zitat Ziegenhain U, Fegert J, Petermann F et al (2014) Inobhutnahme und Bindung. Kindh Entwickl 23:248–259CrossRef Ziegenhain U, Fegert J, Petermann F et al (2014) Inobhutnahme und Bindung. Kindh Entwickl 23:248–259CrossRef
Metadaten
Titel
Eine retrospektive Untersuchung zu differenzialdiagnostischen Überlegungen in vermeintlichen Kinderschutzfällen
Kindeswohlgefährdung, klarer Fall – oder?
verfasst von
Stefanie Röding
Aline Dittmann-Wolf
Denise Lackner
Christian Blume
Anette Hasse
Elisabeth Mützel
PD Dr. med. habil. Gerhard K. Wolf
Publikationsdatum
06.07.2021
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 3/2022
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-021-00512-6

Weitere Artikel der Ausgabe 3/2022

Rechtsmedizin 3/2022 Zur Ausgabe

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin

Neu im Fachgebiet Rechtsmedizin

Open Access 15.04.2024 | Biomarker | Schwerpunkt: Next Generation Pathology

Molekularpathologische Untersuchungen im Wandel der Zeit

11.04.2024 | Pathologie | Schwerpunkt: Next Generation Pathology

Vergleichende Pathologie in der onkologischen Forschung

Open Access 08.04.2024 | GIST | CME

Gastrointestinale Stromatumoren

Wo stehen wir?

03.04.2024 | Zielgerichtete Therapie | Schwerpunkt: Next Generation Pathology

Personalisierte Medizin in der Onkologie