Erschienen in:
11.04.2017 | Fall und Kommentare
Kommentar I zum Fall: „Welcher Wille zählt? Der im Voraus verfügte oder der aktuell gelebte?“
verfasst von:
Apl. Prof. Dr. med. Andreas Zieger
Erschienen in:
Ethik in der Medizin
|
Ausgabe 2/2017
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Auszug
Aus dem Fallbeispiel geht nicht eindeutig hervor, ob der Mann seine Aussagen, „dass er im Falle einer geringen Hilfsbedürftigkeit sein Leben nicht mehr weiterführen möchte“ nur für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit getroffen hat. Seine Willensäußerung ist sehr allgemein und lediglich darin konkretisiert, eine Lebensverlängerung durch eine Tumorbehandlung nicht akzeptieren zu wollen. Ein nur mündlich geäußerter Patientenwille läuft auf die umstrittene Rechtsfigur des mutmaßlichen Willens hinaus. Obwohl rechtlich anerkannt, ist ethisch zu hinterfragen, ob der „mutmaßliche“ Wille nicht doch nur eine Mutmaßung ist (Tolmein
2004). Die von den Schwestern als „dominant“ empfundenen Aussagen lassen erkennen, dass der Mann sich nicht umfassend und konkret mit seiner Werthaltung gegenüber seinem Leben „im Falle einer geringen Hilfsbedürftigkeit“ auseinandergesetzt und sich auch den Argumenten seiner Angehörigen gegenüber verschlossen hat. Denn Krankheitsfolgen mit geringer Hilfsbedürftigkeit lassen sich in der Regel durch zumutbare Therapie und Rehabilitationsmaßnahmen gut lindern, kompensieren oder sogar beseitigen. Eine Konkretisierung des Patientenwillens ist nach jüngster Rechtsprechung jedoch selbst für Patientenverfügungen erforderlich. In diesem Fall steht ein
eigenschaftsorientiertes Würdeverständnis vom Leben im Vordergrund, da Herr M. nicht einmal bei geringer Hilfsbedürftigkeit auf andere angewiesen sein will. Dies mag der Angstabwehr vor Kontrollverlust und vor Pflegeabhängigkeit dienen. Dem
universalistischen menschenrechtlichen Würdeverständnis, bei dem der Patient und seine Angehörigen inhärent in das Menschsein eingebunden sind (Bielefeldt
2017), hat sich der Mann selbstbestimmt isolativ entzogen. …