Erschienen in:
01.07.2014 | Historisches
„Auch die Electricität leistet keine Wunder!“
Die vergessenen Beiträge deutscher Psychiater um 1880 zur Therapie von Depressionen und Psychosen
verfasst von:
PD Dr. H. Steinberg
Erschienen in:
Der Nervenarzt
|
Ausgabe 7/2014
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Zusammenfassung
Einhergehend mit ihrer erneuten Neurobiologisierung halten in der Psychiatrie wieder verstärkte elektrische und elektromagnetische Therapieverfahren Einzug. Dies war bereits um 1880 gerade in Deutschland der Fall. Dieser Sachverhalt blieb jedoch in herkömmlichen historischen Betrachtungen unberücksichtigt, da die gegenwärtig praktizierten Verfahren, v. a. die tiefe Hirnstimulation (THS), in der Tradition hirnoperativer Methoden gesehen wurden. Der vorliegende Aufsatz erinnert an diese vergessenen Vorläufer, identifiziert die ersten Studien zur nichtoperativ-elektrischen Hirnstimulation bei Depressionen und Psychosen und wertet diese aus. Fokussiert wird ein zweiteiliger Aufsatz von Wilhelm Tigges. Er, Rudolph Gottfried Arndt und Wilhelm Erb rangen um erste Erkenntnisse und Regeln hinsichtlich heilwirksamer Applikationen. Es ist bemerkenswert, dass Tigges, der erstmals Fälle mit ähnlicher Krankheitsform in einzelne Gruppen einteilte, die Elektrotherapie erfolgreich bei schweren, zur Chronifizierung neigenden Depressionen einsetzte, also bei der Patientengruppe, für die heute Hirnstimulationsverfahren als letzte Option vorgehalten werden und für am erfolgversprechendsten gelten. Bei wahnsinnig-verrückten Patienten hingegen erzielte er kaum positive Wirkungen, was dem heutigen Zurückbleiben der THS bei diesen Erkrankungen entspricht. Nach 1890 geriet die Elektrotherapie aus psychiatrischer Indikation ins Abseits, da wesentliche Fragen hinsichtlich verlässlich regelhafter Applikationsmethoden und des biologischen Wirkmechanismus unbeantwortet blieben und sich die Erfolge als schwer verifizierbar erwiesen. Insofern scheiterte die Elektrotherapie als psychiatrische Behandlungsmethode um 1880 auch an ihren zeitgegebenen Limitationen: 1. die sich erst konstituierende medizinisch-apparative Elektrophysik, 2. die sich erst entfaltende Elektrophysiologie, 3. sie blieb beschränkt auf kaum evaluierbare Erfahrungstatsachen (Eklektizismus). Probleme, die erst die heutigen Verfahren, vor allem die THS, nach und nach lösen können.