Erschienen in:
01.06.2014 | Schwerpunkt
Neurobiologie viszeraler Schmerzen
verfasst von:
Prof. Dr. W. Jänig
Erschienen in:
Der Schmerz
|
Ausgabe 3/2014
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Zusammenfassung
Viszerale Schmerzen werden diffus lokalisiert und in andere Gewebe übertragen, sind häufig nicht mit aktuellen viszeralen Entzündungen korreliert, werden bevorzugt von vegetativen und motorischen Reflexen begleitet und zeichnen sich durch starke negative Affekte aus. Sie gehören zusammen mit anderen Schmerzen und Körperempfindungen in den Bereich der Interozeption. 1) Viszerale Schmerzen sind mit der Erregung spinaler (thorakolumbaler, sakraler) viszeraler Afferenzen korreliert und (mit einigen Ausnahmen) nicht mit der Erregung vagaler Afferenzen. Spinale viszerale Afferenzen sind polymodal und werden adäquat durch mechanische sowie chemische Reize aktiviert. Alle Gruppen spinaler viszeraler Afferenzen können sensibilisiert werden (z. B. durch Entzündungen). Stumme (mechanisch nichterregbare) spinale viszerale Afferenzen werden bei Entzündungen rekrutiert. 2) Spinale viszerale afferente Neurone projizieren in die Laminae I, II (äußere Schicht IIo) und V des Hinterhorns über mehrere Segmente, mediolateral über die gesamte Breite des Hinterhorns und nach kontralateral. Ihre Aktivität wird in die Laminae I, IIo und tieferen Laminae auf viszerosomatische Konvergenzneurone übertragen, die ebenso afferente synaptische (meist nozizeptive) Eingänge von der Haut und von tiefen somatischen Geweben der entsprechenden Dermatome, Myotome und Sklerotome erhalten. 3) Die Sekundärneurone bestehen aus erregenden und hemmenden Interneuronen (etwa 90 % aller Hinterhornneurone) und Traktneuronen, die in Lamina I monosynaptisch von viszeralen afferenten Neuronen und in tieferen Laminae di- oder polysynaptisch aktiviert werden. 4) An der Sensibilisierung viszerosomatischer Konvergenzneurone (zentrale Sensibilisierung) sind die Sensibilisierung spinaler viszeraler afferenter Neurone, lokale spinale erregende und hemmende Interneurone und supraspinale endogene Kontrollsysteme beteiligt. Die Mechanismen dieser zentralen Sensibilisierung sind wenig erforscht. 5) Viszerosomatische Traktneurone projizieren über den kontralateralen ventrolateralen spinalen Trakt und vermutlich andere aszendierende Trakte zum unteren und oberen Hirnstamm, zum Hypothalamus und über den Thalamus zu verschiedenen Kortexarealen. 6) Viszeraler Schmerz ist vermutlich (zusammen mit anderen viszeralen Empfindungen und nozizeptiven sowie nichtnozizeptiven somatischen Körperempfindungen) primär im posterioren dorsalen Inselkortex („primärer interozeptiver Kortex“) repräsentiert. Dieses Kortexareal erhält bei Primaten seine spinalen synaptischen Eingänge hauptsächlich von den Lamina-I-Traktneuronen über den Nucleus ventromedialis posterior des Thalamus. 7) Die Impulsübertragung viszeraler Afferenzen im Rückenmark wird hemmend und erregend durch endogene anti- und pronozizeptiv wirkende Kontrollsysteme im oberen und unteren Hirnstamm moduliert. Diese Kontrollsysteme stehen unter kortikaler Kontrolle. 8) Viszerale Schmerzen werden in tiefe somatische Gewebe, in die Haut und in andere viszerale Organe übertragen. Diese Übertragung besteht aus Spontanschmerz und mechanischer Hyperalgesie. Die Mechanismen der Übertragung und der sie begleitenden Gewebeveränderungen sind wenig erforscht worden.