Struktur der Klassifikation
Die Klassifikationsgrafik ist zwar in Säulen angeordnet, sie ist aber nicht hierarchisch (d. h. Stufen können übersprungen werden), weswegen Pfeile bewusst weggelassen wurden. Die Anfallsklassifikation beginnt mit der Feststellung, ob die initialen Anfallsmanifestationen fokal oder generalisiert sind. Wenn der Beginn verpasst wurde oder nicht erkennbar war, hat der Anfall einen unbekannten Beginn. Die Wörter „fokal“ oder „generalisiert“ am Beginn einer Anfallsbezeichnung sind dazu gedacht, einen fokalen oder generalisierten Beginn zu bezeichnen.
Bei fokalen Anfällen kann der Grad an Bewusstheit bzw. das bewusste oder nicht bewusste Erleben bei der Anfallsform berücksichtigt werden. Bewusstheit ist lediglich eine, potenziell wichtige Eigenschaft eines Anfalls, aber sie ist von ausreichend praktischer Bedeutung, um sie bei der Anfallsklassifikation zu berücksichtigen. Erhaltene Bewusstheit bedeutet, dass die Person sich über sich selbst und ihre Umgebung während des Anfalls bewusst ist, selbst wenn sie bewegungslos sein sollte. Ein bewusst erlebter fokaler Anfall (mit oder ohne nachfolgende Klassifikatoren) entspricht dem Begriff „einfach-partieller Anfall“, ein nicht bewusst erlebter fokaler Anfall dem früheren Begriff „komplex-partieller Anfall“. Sobald das Bewusstsein während irgendeines Teils des Anfalls beeinträchtigt ist, macht ihn das zu einem nicht bewusst erlebten fokalen Anfall. Zusätzlich werden fokale Anfälle nach motorischen und nichtmotorischen Zeichen und Symptomen beim Anfallsbeginn unterteilt. Wenn beim Anfallsbeginn sowohl motorische als auch nichtmotorische Zeichen vorhanden sind, dominieren meist die motorischen Zeichen, es sei denn nichtmotorische (z. B. sensible bzw. sensorische) Symptome und Zeichen sind prominent.
Sowohl bewusst erlebte als auch nicht bewusst erlebte fokale Anfälle können darüber hinaus optional mit einem der aufgeführten motorischen oder nichtmotorischen Symptome bei ihrem Beginn charakterisiert werden, die das erste prominente Zeichen oder Symptom des Anfalls darstellen, z. B. „nicht bewusst erlebter fokaler Anfall mit Automatismen“. Anfälle sollten nach dem ersten, prominenten motorischen oder nichtmotorischen Merkmal zu Beginn klassifiziert werden, außer bei einem fokalen Anfall, bei dem Innehalten die dominierende Eigenschaft ist. Jedwede signifikante Beeinträchtigung des Bewusstseins während eines Anfalls bewirkt, dass ein fokaler Anfall als nicht bewusst erlebt klassifiziert wird. Eine Klassifikation nach den Merkmalen zu Beginn des Anfalls hat eine anatomische Basis, während eine Klassifikation in Abhängigkeit vom Bewusstsein eine verhaltensbezogene Basis hat, was durch die praktische Relevanz einer Bewusstseinsstörung gerechtfertigt wird. Beide Methoden der Anfallsklassifizierung stehen zur Verfügung und können gemeinsam genutzt werden. Ein kurzes Innehalten zu Beginn eines Anfalls ist häufig unmerklich und wird dementsprechend nicht als Klassifikator genutzt, solange es nicht während des gesamten Anfalls dominiert. Der früheste (anatomische) Klassifikator ist nicht zwangsläufig die signifikanteste Verhaltenseigenschaft eines Anfalls. Zum Beispiel kann ein Anfall mit Angst beginnen und in heftige fokale klonische Aktivität übergehen, die dann zu einem Sturz führt. Dieser Anfall wäre dennoch ein fokaler emotionaler Anfall (mit oder ohne Beeinträchtigung des bewussten Erlebens), aber eine Freitextbeschreibung der Merkmale im weiteren Verlauf wäre sehr nützlich.
Die Bezeichnung eines fokalen Anfalls kann auf die Erwähnung der Bewusstheit verzichten, wenn dies nicht relevant oder unbekannt ist, wodurch der Anfall direkt nach motorischen oder nichtmotorischen Charakteristika klassifiziert wird. Die Begriffe motorischer Beginn und nichtmotorischer Beginn können weggelassen werden, wenn ein nachfolgender Begriff eine eindeutige Anfallsform generiert.
Die Klassifizierung eines individuellen Anfalls kann auf jeder Stufe aufhören: ein „fokal beginnender“ oder „generalisiert beginnender“ Anfall ohne weitere Ausführungen oder ein „fokaler sensibler/sensorischer Anfall“, „fokaler motorischer Anfall“, „fokaler tonischer Anfall“ oder ein „fokaler Automatismusanfall“ usw. Zusätzliche Klassifikatoren werden befürwortet, und ihr Gebrauch kann von der Erfahrung und den Beweggründen der klassifizierenden Person abhängen. Die Begriffe fokaler Beginn und generalisierter Beginn ermöglichen die entsprechende Gruppierung von Patienten. Es wird nicht gefolgert, dass jede Anfallsform in beiden Gruppen existiert; das Einschließen von Absencen in die Anfallskategorie mit generalisiertem Beginn impliziert nicht zwangsläufig die Existenz „fokaler“ Absencen.
Wenn der Vorrang von einem Schlüsselsymptom oder -zeichen gegenüber einem anderem unklar ist, kann der Anfall eine Stufe vor dem fraglich anwendbaren Begriff klassifiziert werden mit zusätzlichen Deskriptoren der für den individuellen Anfall relevanten Anfallssemiologie. Jegliche Anfallszeichen oder -symptome bzw. im Begleittext aufgeführte Beschreibungen können optional an die Beschreibung der Anfallsform angehängt werden, aber sie verändern die Klassifizierung der Anfallsform nicht.
Die Anfallsform „fokal zu bilateral tonisch-klonisch“ ist eine spezielle Anfallsform und entspricht der 1981er-Bezeichung „partieller Beginn mit sekundärer Generalisierung“. Fokal zu bilateral tonisch-klonisch reflektiert das Ausbreitungsmuster eines Anfalls und weniger eine eigene Anfallsform, aber es ist eine so häufige und wichtige Anfallspräsentation, dass eine separate Kategorie beibehalten wurde. Der Begriff „zu bilateral“ wurde anstelle „sekundär generalisiert“ benutzt, um diese fokal beginnende Anfallsform darüber hinaus von einem generalisiert beginnenden Anfall abzugrenzen. Der Begriff „bilateral“ wird für Ausbreitungsmuster benutzt und „generalisiert“ für Anfälle, die von Anfang an bilaterale Netzwerke beteiligen.
Anfallsaktivität breitet sich durch Netzwerke des Gehirns aus, was manchmal zu einer Unsicherheit führt, ob ein Vorkommnis ein einzelner Anfall oder eine Abfolge multipler Anfälle ist, die in unterschiedlichen Netzwerken beginnen („multifokal“). Ein einzelner unifokaler Anfall kann infolge der Ausbreitung mehrere klinische Manifestationsformen haben. Der behandelnde Arzt wird feststellen müssen (durch Beobachtung einer kontinuierlichen Entwicklung oder Stereotypie von Anfall zu Anfall), ob ein Vorkommnis ein einzelner Anfall oder eine Serie verschiedener Anfälle ist. Wenn ein einzelner fokaler Anfall aus einer Sequenz von Zeichen und Symptomen besteht, wird der Anfall nach dem initialen prominenten Zeichen oder Symptom benannt, was die übliche klinische Praxis reflektiert, den Fokus des Anfallsbeginns oder anfänglich beteiligten Netzwerks zu identifizieren. Zum Beispiel würde ein Anfall, der mit der plötzlichen Unfähigkeit beginnt, Sprache zu verstehen, gefolgt von beeinträchtigtem Bewusstsein und klonischen Zuckungen im linken Arm, als ein „nicht bewusst erlebter (nichtmotorisch beginnender) kognitiver Anfall“ (übergehend in klonisches Zucken des linken Arms) klassifiziert werden. Die in Klammern gesetzten Begriffe sind optional. Die formelle Bezeichnung der Anfallsform dieses Beispiels beruht auf dem kognitiven nichtmotorischen Beginn und dem Vorhandensein eines veränderten Bewusstseins zu irgendeinem Zeitpunkt des Anfalls.
Generalisierte Anfälle werden in motorische und nichtmotorische Anfälle (Absencen) unterteilt. Weitere Unterteilungen sind denen der 1981er-Klassifizierung ähnlich mit der Ergänzung von myoklonisch-atonischen Anfällen, die häufig bei der Epilepsie mit myoklonisch-atonischen Anfällen (Doose-Syndrom [
28]) vorkommen, von myoklonisch-tonisch-klonischen Anfällen, häufig bei juveniler myoklonischer Epilepsie [
29], von myoklonischen Absencen [
30] sowie von Absencen mit Lidmyoklonien, wie sie bei dem von Jeavons beschriebenen Syndrom [
31] und anderswo vorkommen. Generalisierte Anfallsmanifestationen können asymmetrisch sein, was die Unterscheidung von fokal beginnenden Anfällen erschweren kann. Das Wort „Absence“ hat eine weitverbreitete akzeptierte Bedeutung, aber ein „abwesendes Starren“ ist nicht synonym mit einer Absence, da das Innehalten auch bei anderen Anfallsformen auftritt.
Die 2017er-Klassifizierung erlaubt die Beschreibung von Anfällen mit unbekanntem Beginn durch eine begrenzte Zahl an angehängten qualifizierenden Begriffen, um den Anfall besser charakterisieren zu können. Anfälle mit unbekanntem Beginn werden entweder mit dem einzelnen Wort „unklassifiziert“ bezeichnet oder mit zusätzlichen Eigenschaften einschließlich motorisch, nichtmotorisch, tonisch-klonisch, epileptische Spasmen und Innehalten. Eine Anfallsform unbekannten Beginns könnte später als entweder fokal oder generalisiert beginnend klassifiziert werden, aber jegliches assoziiertes Verhalten (z. B. tonisch-klonisch) des vorher unklassifizierten Anfalls bleibt relevant. In dieser Hinsicht ist der Begriff „unbekannter Beginn“ ein Platzhalter – nicht eine Charakteristik des Anfalls, sondern des Unwissens.