Einleitung
Eine Kernkompetenz eines überregionalen Traumazentrums (ÜTZ) ist die Versorgung von schwer verletzten und polytraumatisierten PatientInnen. Die Versorgung Schwerverletzter setzt eine interdisziplinäre Zusammenarbeit voraus und ist mit hohen Personal‑, Material- und Vorhaltekosten verbunden. Notaufnahme, OP und Intensivstation eines ÜTZ müssen rund um die Uhr bereit sein, 2 Schwerverletzte zeitgleich bestmöglich zu versorgen, dafür sollte beispielsweise das Schockraumteam folgende Personen beinhalten: Basisteam (sofort anwesend): 2*UnfallchirurgInnen, 1*AnästhesistIn, 3*Pflegekräfte, 1*Medizin-technische Radiologieassistenz (MTRA); erweitertes Team (zusätzlich innerhalb von 30 min): OberärztInnen für spezielle Unfallchirurgie, Anästhesie, Neurochirurgie und Radiologie sowie 2*OP-Pflegekräfte; Spezialisten aus 12 weiteren Fachdisziplinen sollten vor Ort vorgehalten werden [
24].
Diese Ressourcen werden für die Versorgung von Schwerverletzten bereitgehalten, dabei stehen Traumazentren vor der Herausforderung, Fälle unterschiedlicher Behandlungs- und Kostenintensität miteinander zu vereinbaren. Durch die Umstellung auf das German-Diagnosis-Related-Groups(G-DRG)-System in Deutschland im Jahr 2003 wurde ein Fallkostenpauschalsystem für die Abrechnung der stationären PatientInnen eingeführt. Dies führte dazu, dass unterschiedliche Behandlungsfälle bei der Abrechnung mit den Krankenkassen in Gruppen gleicher Diagnosen zusammengefasst werden. Mit Einführung der aG-DRG im Jahr 2020 werden die Pflegepersonalkosten in den DRG-Fallpauschalen ausgegliedert und über ein krankenhausindividuelles Pflegebudget nach dem Selbstkostendeckungsprinzip finanziert.
In der klinischen Versorgung wurde ein Polytrauma ursprünglich definiert als das gleichzeitige Vorhandensein von Verletzungen verschiedener Körperregionen, von denen mindestens eine Verletzung oder aber die Kombination mehrerer Verletzungen als lebensbedrohlich einzuschätzen ist [
1]. Wissenschaftlich existieren weitere Definitionen wie ein Injury Severity Score (ISS) ≥ 16 oder die Berlin-Definition [
2].
Im G‑DRG-System wird die Diagnose Polytrauma zusammengefasst unter der „major diagnostic category“ (MDC) 21A und in 3 Basis-DRG unterteilt (Zusatzmaterial online: Tab. 1) [
3‐
7].
Durch die Unterschiede in den Definitionen kommt es zu einer „Fehlgruppierung“ von bis zu 30 % der polytraumatisierten Patienten in andere Hauptdiagnosen [
8].
Bereits vor der Einführung der Fallkostenpauschalen wurden die ökonomischen Aspekte der Schwerverletztenversorgung national und international diskutiert [
9,
10]. Qvick et al. zeigten, dass die Umstellung von der tagessatzbasierten Abrechnung auf die fallkostenbasierte Abrechnung einer um 34 % verringerten Vergütung der jeweiligen Versorgungsfälle gleichkommt [
11].
In den bisher zu diesem Thema publizierten Studien wurden Verluste von −2565 bis zu −12.893 € je Fall aufgezeigt [
12‐
17]. Dabei wurde zur Berechnung der tatsächlichen Behandlungskosten polytraumatisierter PatientInnen entweder eine Einzelkostenabrechnung entsprechend den Vorgaben des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) durchgeführt, oder die Kosten wurden auf Behandlungszeiten in den einzelnen Zwischenschritten der Therapie heruntergerechnet. In keiner der bisherigen Veröffentlichungen wurden allerdings die Kosten der Organisation von Verlegungen externer PolytraumapatientInnen, die Zusatzkosten durch „Übertriagierung“ und der Mehraufwand durch Dokumentationspflichten und Zertifizierungskosten hinreichend berücksichtigt.
Ziel dieser Arbeit ist daher eine Kosten-Erlös-Analyse der Behandlung Schwerverletzter, basierend auf einem nachvollziehbaren, detaillierteren und umfassenderen Modell. Für Krankenhäuser ohne Einzelkostenabrechnung ist eine modellbasierte Berechnung eine sinnvolle und umsetzbare Lösung zur Erfassung der Behandlungskosten. Vergleichend erfolgt die Berechnung entsprechend dem Kostenschätzer des TraumaRegister DGU® [
12].
Diskussion
Ziel dieser Studie war eine aktuelle Kosten-Erlös-Analyse der Behandlung schwer verletzter PatientInnen, basierend auf einem erweiterten Model nach Pape et al., welches auch Kosten der Organisation von Verlegungen, Zusatzkosten durch „Übertriagierung“ und den Mehraufwand durch Dokumentationspflichten und Zertifizierungskosten berücksichtigt sowie die Erlösstruktur des neu eingeführten aG-DRG-Systems [
18].
Am UKL wird für das Jahr 2020 ein Defizit von 1.511.488 € durch die Versorgung von schwer verletzter PatientInnen kalkuliert. Allerdings bestehen deutliche Unterschiede in den Subgruppen; es entstehen Gewinne von 9187 €/PatientIn der Gruppe „ISS 9–15 + ITS“ und Defizite von 11.683 € bzw. 1981 € in den Gruppen „ISS ≥ 16“ bzw. „DRG-Polytrauma“. Eine Subgruppenanalyse der Polytrauma-DRG finden Sie im Zusatzmaterial online: Tab. 9.
Ab dem Jahr 2020 wird der Fallpauschalenkatalog um den Pflegeerlöskatalog erweitert und die Bezeichnung auf „aG-DRG-Katalog“ geändert. Die Höhe des Pflegeentgeltes pro Tag berechnet sich auf Basis eines krankenhausindividuellen Pflegeentgeltwertes. Diese Änderung ist in den Erlösen 2020 bereits berücksichtigt. Ein Erlösanteil von fast 25 % entfällt dabei auf die ausgegliederten Pflegepersonalkosten.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Versorgung von Schwerverletzten 17 Jahre nach Einführung des G‑DRG-Systems weiterhin deutlich defizitär erfolgt. Damit bestätigt sich der positive Trend in der Vergütung von Polytraumata der vorhergegangenen Untersuchungen nicht [
12‐
17]. Die jährliche Kostensteigerung 2017–2020 beträgt 4,4 %, hingegen wachsen die Erlöse nur um 1,1 % pro Jahr (vgl. 2,9 % Kostensteigerung in deutschen Krankenhäusern pro Behandlungsfall (Zusatzmaterial online: Tab. 2)) [
19‐
22]. Hierdurch droht sich das Defizit weiter zu vergrößern.
Alleine durch den Personalaufwand bei der Versorgung übertriagierter PatientInnen sind im Modul Schockraum Kosten in Höhe von 220.284 € entstanden, was einem Anteil von 3,3 % der Gesamtbehandlungskosten entspricht. Dies liegt an den weitgefassten Kriterien zur Aktivierung des Schockraumalarms [
23]. Hierdurch wird zwar eine große Sensitivität, aber keine gute Spezifität erreicht, sodass 69 % aller über den Schockraum aufgenommenen Patienten kein Polytrauma im definierenden Sinne darstellen. Ausstehend bleibt dabei die Möglichkeit zur Personalkostenreduktion durch eine gestaffelte Schockraumaktivierung, wie in der 3. erweiterten Auflage des Weißbuch der DGU für überregionale Traumazentren gefordert und am UKL zwischenzeitlich umgesetzt („gelber Alarm“ für wache und kreislaufstabile PatientInnen mit einem reduzierten Kernteam und „roter Alarm“ für bewusstlose oder kreislaufinstabile PatientInnen mit allen Teammitgliedern) [
24].
Aktuell sind in den Fallpauschalen des DRG-Systems die Versorgung der übertriagierten PatientInnen und die Kosten für Dokumentation, Zertifizierung und Organisation nicht hinreichend abgebildet. Auch wenn man den Versorgungsaufwand ohne diese Kosten betrachtet, ergibt sich ein Defizit von 1.135.632 € (4402 €/PatientIn).
Die Möglichkeiten zur Reduktion laufender Krankenhauskosten in der Versorgung von schwer verletzten PatientInnen sind begrenzt. Taheri et al. zeigten, dass Einsparungen im Bereich der intensivmedizinischen Versorgung von schwer verletzten PatientInnen im Bereich der variablen und damit direkt beeinflussbaren Kosten die geringste Summe der Ausgaben darstellen [
25,
26]. Jedoch konnten im Rahmen dieser Studien Einsparpotenziale von ca. 25–35 % im Rahmen der ärztlichen Behandlung erzielt werden. Der größte Einflussfaktor sind die intensivmedizinischen Kosten (3.011.891 € bzw. 44,5 % der Gesamtkosten). Hier sollten medizinisch sinnvolle Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung konsequent umgesetzt werden. Die aktuelle Entwicklung der intensivmedizinischen Versorgung schwer verletzter PatientInnen zeigt beispielsweise einen, medizinisch und wirtschaftlich begrüßenswerten, Rückgang der Beatmungsdauer auf Intensivstationen [
27]. Zusätzlich kommt es in den letzten Jahren zunehmend zu einer Reduktion der Gesamtverweildauer im Krankenhaus, was die Kosten für den Verlauf auf der Normalstation ebenfalls reduziert [
27].
Sollte sich keine Verbesserung der Kosten‑/Erlösstruktur bei der Polytraumaversorgung ergeben, bleibt zu befürchten, dass durch Selektionieren der angenommenen PatientInnen oder sogar durch Schließungen von Traumazentren versucht werden könnte, erlösoptimiert zu behandeln.
Die Entscheidung zur Versorgung schwer verletzter PatientInnen darf keine finanziell beeinflusste Überlegung sein. Sie ist Teil des Versorgungsauftrags aller lokalen, regionalen und überregionalen Traumazentren. Folglich bleibt es der Politik überlassen, durch eine adäquate Finanzierung von Traumazentren die Überlebensraten und das funktionelle Outcome der Patienten auf dem hohen Niveau zu halten, das wir in Deutschland erreicht haben [
28,
29] – nicht nur aufgrund ethischer Bedenken, sondern auch weil der volkswirtschaftliche Schaden durch Verlust von Arbeitskraftpotenzial und durch Aufwendungen der gesetzlichen Unfallversicherung wesentlich höher ist.
Die Errechnung der in dieser Studie genannten Kosten basiert auf Schätzungen anhand der den AutorInnen zur Verfügung stehenden Daten (ausführlicher Methodenteil im Zusatzmaterial online: ESM10: Detaillierte Methode, weitere Ergebnisse, weiterführende Literatur). Für einige Positionen mussten hier Annäherungen getroffen werden, die zudem spezifisch für das Universitätsklinikum Leipzig sind und regional unterschiedlich sein können (z. B. Miete). In der Gesamtheit ist der Ansatz zur Kostenschätzung jedoch detaillierter als die der vorangegangenen Studien [
12‐
17].
Für die betriebswirtschaftliche Betrachtung muss zwischen patientenunabhängigen Kosten (Fixkosten, z. B. Infrastrukturkosten des Schockraums) und patientenabhängigen Kosten (variablen Kosten, z. B. Implantatkosten bei Operationen) unterschieden werden. Um für erbrachte medizinische Behandlungen leistungsgerechte Erlöse mit Fallpauschalen zu vergüten, müsste man die Grenzkosten der Behandlung von schwer verletzten PatientInnen betrachten (Kosten, die durch die Versorgung zusätzlicher Fälle entstehen). Limitierend werden in dieser Studie aber kalkulierte Durchschnittskosten der behandelten PatientInnen untersucht. Diese Limitation relativiert sich, wenn man die ebenfalls retrospektive Datenerhebung des InEK zur Erhebung des Relativgewichts der einzelnen DRG aus den jährlichen Kostendaten der Kalkulationskrankenhäuser in die Überlegung miteinbezieht.
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