Erschienen in:
01.08.2012 | Originalarbeit
Räume der Gewalt
verfasst von:
Prof. Dr. Jörg Baberowski
Erschienen in:
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie
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Ausgabe 3/2012
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Zusammenfassung
Die Gewalt ist überall, so wie auch die Liebe und das Bedürfnis sexueller Befriedigung allgegenwärtig sind, heute ebenso wie vor 1000 Jahren. Aber das eine gilt uns als Selbstverständlichkeit, als Teil menschlicher Grundausstattung, die nicht erklärungsbedürftig ist, während wir die Gewalt für eine Anomalie halten, die aus dem Leben verschwinden soll. Menschen, die im Frieden leben, sind irritiert, wenn sie von Massakern und Gewalttaten hören, die in ihrer Lebenswelt nicht vorkommen. Sie können nicht glauben, dass Menschen einander scheinbar grundlos töten, misshandeln oder vergewaltigen und dass manche dabei sogar Freude empfinden. Denn der Glaube, dass Gewalt unter allen Umständen abweichendes Verhalten ist, hilft ihnen, sich ihre Wirklichkeit als einen Raum vorzustellen, in dem das Argument über die Faust triumphiert.
Der Mensch aber wird nicht, was er ist; er ist immer schon komplett gewesen. Gewalt ist eine menschliche Möglichkeit; sie war es jederzeit und überall. Sie ist eine Handlungsressource, die nicht nur für jeden zugänglich ist, sondern auch von jedem genutzt werden kann. Selbst der Geringste kann durch den Einsatz seiner Faust einen Machtgewinn erzielen und sich Respekt verschaffen. Die Quelle der Gewalt liegt auf dem Grund der Vorstellungskraft. Wir können uns jede Grausamkeit vorstellen, und was sich einmal in das Gedächtnis eingegraben hat, das bekommt man aus ihm auch nicht wieder heraus. Wenn man verstanden hat, was die Gewalt mit Menschen macht und was Menschen mit der Gewalt machen, wird man sie nicht mehr nur als Ausdruck von Ideen, Absichten und Programmen verstehen, als Abweichung, die durch gutes Zureden behoben werden kann, sondern als Folge einer Entriegelung von Sicherungen, die Menschen davor bewahren, einander zu töten und zu verletzen. Auch in Zukunft wird die Gewalt ein Teil unseres Lebens sein. Der Glaube an die heilenden Kräfte der Zivilisation ist nichts als Schwärmerei. Es geht immer nur um Situationen und ihre Menschen. Eine deprimierende Einsicht, zweifellos, aber wenn man begriffen hat, das Gewalt nicht aus der Welt zu schaffen ist, wird man auch Vorkehrungen treffen können sie einzuhegen. Gewalt ist eine Erfahrung, die Ordnung stiftet, weil der Tod das Ende von allem bedeutet. Für den Träumer, der den ewigen Frieden will, ist diese Erkenntnis deprimierend, für den Realisten ist sie ein Trost.