Skip to main content
Erschienen in: Der Nervenarzt 11/2022

13.01.2022 | Sucht | Übersichten

Selbstbestimmung und forensische Suchtbehandlung

Reflexionen zum Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und dem Präventionsauftrag des § 64 StGB aus psychiatrischer, ethischer und normativer Sicht

verfasst von: Dr. Jan Querengässer, David Janele, Christian Schlögl, Adelheid Bezzel

Erschienen in: Der Nervenarzt | Ausgabe 11/2022

Einloggen, um Zugang zu erhalten

Zusammenfassung

Hintergrund

Unter den aktuellen Vorschlägen für die anstehende Reform forensischer Suchtbehandlung gemäß § 64 Strafgesetzbuch (StGB) sticht jener der DGPPN als der weitreichendste hervor. Darin wird u. a. gefordert, die Anordnung der Maßregel von der Zustimmung des Angeklagten und der regelmäßigen und freiwilligen Demonstration seiner Behandlungsbereitschaft abhängig zu machen. Vor der Behandlung in einer „forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen“ solle der Betreffende verlässlich an suchtspezifischen Behandlungsangeboten im Haftsetting teilnehmen.

Ziel der Arbeit

Eine kritische Reflexion der zentralen Annahmen und Implikationen dieses Reformvorschlages hinsichtlich Therapiemotivation und Selbstbestimmungsrecht sowie -fähigkeit.

Material und Methoden

Aus psychiatrischer, medizinethischer und juristisch-normativer Perspektive werden diese analysiert und diskutiert.

Ergebnisse und Diskussion

Eine Haftanstalt erscheint weder hinsichtlich Setting noch Ressourcen als geeigneter Ort für die motivational kritischen Phasen einer (probatorischen) Suchtbehandlung. Der Ansatz, es solle nur derjenige in den „Vorteil“ einer forensischen Entwöhnungstherapie kommen, der seine Motivation zuvor in Wort und Tat demonstriert hat, würde der Komplexität der Substanzgebrauchsstörung nicht gerecht und zu einer Überbewertung des ohnehin schwer zu fassenden Begriffs der Therapiemotivation im Kontext dieser Störung führen. Auch aus ethischer Sicht erscheint Selbstbestimmungsfähigkeit bei forensischen Suchtpatienten konzeptuell wie empirisch zu wenig untersucht, um einen solch weitreichenden Ansatz zu rechtfertigen. Auf normativer Ebene würde durch die Neuregelung ein wirksames spezialpräventives Instrument aus der Hand gegeben und ein Ungleichgewicht im Sanktionengefüge geschaffen.
Fußnoten
1
Im Kontext forensischer Behandlungen ist zu beachten, dass das Konzept von Schuldfähigkeit gem. § 20 StGB, das gebunden ist an die Konzepte von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, keine Deckungsgleichheit aufweist mit dem Konzept von Selbstbestimmungs- bzw. Einwilligungsfähigkeit, auch wenn gewisse Überschneidungsbereiche erkennbar sind. Grundsätzlich lassen sich jedoch aus den Einschätzungen von gutachterlichen Sachverständigen zur (retrospektiven) Schuldfähigkeit bei Straftatbegehung keine direkten Rückschlüsse auf die (prospektive) Selbstbestimmungsfähigkeit hinsichtlich zukünftiger Behandlungen ziehen.
 
2
Das Argument, es handele sich überwiegend um voll schuldfähige Straftäter, was eine „Zwangsbehandlung“ delegitimiere, greift in diesem Kontext zu kurz. Denn dies trifft auf die Sicherungsverwahrung in gleichem Maße zu. Dass jemals die Forderung erhoben wurde, auch diese von der Zustimmung des Verurteilten abhängig zu machen, ist den Autoren nicht bekannt.
 
3
Ungeachtet dessen wäre eine grundlegen Neuausrichtung des strafrechtlichen Sanktionsgefüges einschließlich einer kritischen Revision der Schuldfähigkeitsregelungen mehr als wünschenswert.
 
Literatur
2.
Zurück zum Zitat Koller M, Müller J (2021) Ein Vorschlag zur Reform des § 64 StGB. Strafverteidiger 41(4):265–274 Koller M, Müller J (2021) Ein Vorschlag zur Reform des § 64 StGB. Strafverteidiger 41(4):265–274
3.
Zurück zum Zitat Baker TB, Brandon TH, Chassin L (2004) Motivational influences on cigarette smoking. Annu Rev Psychol 55(1):463–491CrossRefPubMed Baker TB, Brandon TH, Chassin L (2004) Motivational influences on cigarette smoking. Annu Rev Psychol 55(1):463–491CrossRefPubMed
5.
Zurück zum Zitat Schnell T (2019) Verhaltenstherapie der Sucht. Kohlhammer, Stuttgart Schnell T (2019) Verhaltenstherapie der Sucht. Kohlhammer, Stuttgart
6.
Zurück zum Zitat Miller WR, Rollnick S (1991) Motivational Interviewing. Guilford, New York Miller WR, Rollnick S (1991) Motivational Interviewing. Guilford, New York
7.
Zurück zum Zitat Körkel J (2012) 30 Jahre Motivational Interviewing: Eine Übersicht und Standortbestimmung. Suchttherapie 13(03):108–118CrossRef Körkel J (2012) 30 Jahre Motivational Interviewing: Eine Übersicht und Standortbestimmung. Suchttherapie 13(03):108–118CrossRef
9.
Zurück zum Zitat Pelletier LG, Tuson KM, Haddad NK (1997) Client motivation for therapy scale: a measure of intrinsic motivation, extrinsic motivation, and amotivation for therapy. J of Personality Assessment 68(2):414–435CrossRef Pelletier LG, Tuson KM, Haddad NK (1997) Client motivation for therapy scale: a measure of intrinsic motivation, extrinsic motivation, and amotivation for therapy. J of Personality Assessment 68(2):414–435CrossRef
10.
Zurück zum Zitat Dahle KP (1995) Therapiemotivation hinter Gittern: Zielgruppenorientierte Entwicklung und Erprobung eines Motivationskonstrukts für die therapeutische Arbeit im Strafvollzug. S. Roderer, Regensburg Dahle KP (1995) Therapiemotivation hinter Gittern: Zielgruppenorientierte Entwicklung und Erprobung eines Motivationskonstrukts für die therapeutische Arbeit im Strafvollzug. S. Roderer, Regensburg
11.
Zurück zum Zitat Schalast N (2000) Therapiemotivation im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB: Patientenmerkmale, Rahmenbedingungen, Behandlungsverläufe. Wilhelm Fink, München Schalast N (2000) Therapiemotivation im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB: Patientenmerkmale, Rahmenbedingungen, Behandlungsverläufe. Wilhelm Fink, München
13.
Zurück zum Zitat Querengässer J, Ross T, Bulla J, Hoffmann K (2016) Neue Wege in die Entziehungsanstalt – Reformvorschläge für den § 64 StGB. NStZ 36:508–510 Querengässer J, Ross T, Bulla J, Hoffmann K (2016) Neue Wege in die Entziehungsanstalt – Reformvorschläge für den § 64 StGB. NStZ 36:508–510
21.
Zurück zum Zitat Prüter-Schwarte C (2012) Autonomie und Fürsorge im Maßregelvollzug. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 6(3):201–207CrossRef Prüter-Schwarte C (2012) Autonomie und Fürsorge im Maßregelvollzug. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 6(3):201–207CrossRef
22.
Zurück zum Zitat Pratt TC, Cullen FT, Blevins KR, Daigle LE, Madensen TD (2017) The empirical status of deterrence theory: a meta-analysis. In: Taking stock. Routledge, London, S 367–395CrossRef Pratt TC, Cullen FT, Blevins KR, Daigle LE, Madensen TD (2017) The empirical status of deterrence theory: a meta-analysis. In: Taking stock. Routledge, London, S 367–395CrossRef
23.
Zurück zum Zitat Sitren AH, Applegate BK (2012) Testing deterrence theory with offenders: the empirical validity of Stafford and Warr’s model. Deviant Behav 33(6):492–506CrossRef Sitren AH, Applegate BK (2012) Testing deterrence theory with offenders: the empirical validity of Stafford and Warr’s model. Deviant Behav 33(6):492–506CrossRef
24.
Zurück zum Zitat Fischer T (2020) Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen. C. H. Beck, München Fischer T (2020) Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen. C. H. Beck, München
25.
Zurück zum Zitat Schalast N (2019) Straffällige mit Suchtproblemen – Fakten, Erfahrungen und Ergebnisse der Essener Evaluationsstudie. Pabst Science Publishers Schalast N (2019) Straffällige mit Suchtproblemen – Fakten, Erfahrungen und Ergebnisse der Essener Evaluationsstudie. Pabst Science Publishers
Metadaten
Titel
Selbstbestimmung und forensische Suchtbehandlung
Reflexionen zum Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und dem Präventionsauftrag des § 64 StGB aus psychiatrischer, ethischer und normativer Sicht
verfasst von
Dr. Jan Querengässer
David Janele
Christian Schlögl
Adelheid Bezzel
Publikationsdatum
13.01.2022
Verlag
Springer Medizin
Schlagwörter
Sucht
Sucht
Erschienen in
Der Nervenarzt / Ausgabe 11/2022
Print ISSN: 0028-2804
Elektronische ISSN: 1433-0407
DOI
https://doi.org/10.1007/s00115-021-01254-2

Weitere Artikel der Ausgabe 11/2022

Der Nervenarzt 11/2022 Zur Ausgabe

Neu in den Fachgebieten Neurologie und Psychiatrie

Niedriger diastolischer Blutdruck erhöht Risiko für schwere kardiovaskuläre Komplikationen

25.04.2024 Hypotonie Nachrichten

Wenn unter einer medikamentösen Hochdrucktherapie der diastolische Blutdruck in den Keller geht, steigt das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse: Darauf deutet eine Sekundäranalyse der SPRINT-Studie hin.

Frühe Alzheimertherapie lohnt sich

25.04.2024 AAN-Jahrestagung 2024 Nachrichten

Ist die Tau-Last noch gering, scheint der Vorteil von Lecanemab besonders groß zu sein. Und beginnen Erkrankte verzögert mit der Behandlung, erreichen sie nicht mehr die kognitive Leistung wie bei einem früheren Start. Darauf deuten neue Analysen der Phase-3-Studie Clarity AD.

Viel Bewegung in der Parkinsonforschung

25.04.2024 Parkinson-Krankheit Nachrichten

Neue arznei- und zellbasierte Ansätze, Frühdiagnose mit Bewegungssensoren, Rückenmarkstimulation gegen Gehblockaden – in der Parkinsonforschung tut sich einiges. Auf dem Deutschen Parkinsonkongress ging es auch viel um technische Innovationen.

Demenzkranke durch Antipsychotika vielfach gefährdet

23.04.2024 Demenz Nachrichten

Wenn Demenzkranke aufgrund von Symptomen wie Agitation oder Aggressivität mit Antipsychotika behandelt werden, sind damit offenbar noch mehr Risiken verbunden als bislang angenommen.