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Erschienen in: Rechtsmedizin 6/2023

Open Access 19.09.2023 | Suizid | Originalien

Schusstodesfälle am Institut für Rechtsmedizin Gießen (2009–2018)

verfasst von: P. M. Wolf, R. B. Dettmeyer, F. Holz, PD Dr. med. C. G. Birngruber

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 6/2023

Zusammenfassung

Eine retrospektive Auswertung der im Zeitraum von 2009 bis 2018 am Institut für Rechtsmedizin Gießen durchgeführten 5400 Sektionen und Leichenschauen ergab 111 Todesfälle als Folge eines Schusswaffengebrauchs. Diese Fälle wurden hinsichtlich allgemeiner Daten, demografischer Merkmale der Verstorbenen, Schussverletzungen, Todesumstände und -orte, verwendeter Waffen, weiterführender Untersuchungen und etwaiger Täter analysiert.
Die Schusstodesfälle verteilten sich auf knapp ein Viertel Homizide, drei Viertel Suizide sowie einen Unfall. Etwa 9 von 10 Schusstoten waren männlich; nahezu drei Viertel der Schusstodesfälle betraf Menschen in der 2. Lebenshälfte. Der häufigste Todesort war sowohl bei Homiziden als auch bei Suiziden das häusliche Umfeld. Ganz überwiegend wiesen die Leichname nur eine einzige Schussverletzung auf; bei den Suiziden lagen nie mehr als 3 Schussverletzungen vor. Die maximale Anzahl von 17 Schussverletzungen fand sich bei 2 Homiziden. Kurzwaffen kamen in zwei Dritteln aller Fälle zum Einsatz, bei den Homiziden deutlich häufiger als bei den Suiziden. Aussagen zum Legalitätsstatus des Waffenbesitzes konnten in etwa zwei Drittel aller Fälle getroffen werden.
Aus dem Vergleich mit Datenerhebungen aus rechtsmedizinischen Instituten in Deutschland und anderen Ländern lassen sich teils deutliche regionale Besonderheiten ableiten.
Hinweise
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Einleitung

Weltweit sterben – ohne kriegsbedingte Tötungen – jährlich etwa 250.000 Menschen durch Schusswaffen. In 64 % der Fälle soll es sich dabei um Homizide, in 27 % um Suizide und in 9 % um Unfallgeschehen handeln. Mehr als die Hälfte der globalen Schusstodesfälle entfällt auf 6 Länder, in denen etwa 10 % der Weltbevölkerung leben: Brasilien, die Vereinigten Staaten von Amerika, Mexiko, Kolumbien, Venezuela und Guatemala [23]. In der Europäischen Union kommt es pro Jahr zu etwa 6700 Schusstodesfällen, die zu 75 % als Suizide, 15 % als Homizide und 10 % als unfallbedingt eingeordnet werden [34].
Zur Aufhellung der Todesumstände und der im Einzelfall folgenreichen Einordnung eines Schusstodesfalles als homizidal, suizidal oder unfallbedingt sollten rechtsmedizinische Untersuchungen erfolgen und ihre Ergebnisse in der Zusammenschau mit polizeilichen Ermittlungsergebnissen betrachtet werden [36, 11, 17, 24, 35]. Da Häufigkeiten und Arten von Schusstodesfällen starke regionale Unterschiede aufweisen [25, 26], kann die retrospektive Auswertung regionaler Schusstodesfälle [7, 21, 22, 28] wichtige Informationen für die rechtsmedizinische und (kriminal-)polizeiliche Arbeit liefern.

Ziel der Studie

Ziel der nachfolgend dargelegten Studie ist es, systematische Daten zu Epidemiologie und Phänomenologie von Schusstodesfällen im Einzugsgebiet des Instituts für Rechtsmedizin Gießen zu erheben, auszuwerten, mit andernorts erhobenen Daten zu vergleichen und zu einem Erkenntnisgewinn für die Fallarbeit beizutragen.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive Analyse aller Leichenschauen und Obduktionen, die am Institut für Rechtsmedizin in Gießen in dem 10-Jahres-Zeitraum von 2009 bis 2018 durchgeführt wurden. Einschlusskriterium für die weitergehende Auswertung waren Fälle, in denen der Tod unmittelbar oder mittelbar infolge einer oder mehrerer Schussverletzungen eintrat. Über die institutseigenen Unterlagen hinaus erfolgte, soweit möglich, Akteneinsicht gemäß § 476 StPO bei den zuständigen Staatsanwaltschaften.

Ergebnisse

Allgemeine Daten

Am Institut für Rechtsmedizin Gießen wurden Unterlagen von 5400 Obduktionen und Leichenschauen aus dem oben genannten Zeitraum gesichtet, wobei Fälle aus dem Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Kassel erst ab dem 01.01.2011 eingeschlossen werden konnten. Es ergaben sich 111 Todesfälle, bei denen eine Schussbeibringung maßgeblich für den Todeseintritt war. In 93 Fällen (84 %) erfolgte eine Obduktion, in 18 Fällen (16 %) lediglich eine rechtsmedizinische Leichenschau ohne nachfolgende Untersuchungen.
Die Verteilung auf die zuständigen Ermittlungsbehörden ergibt sich aus Tab. 1.
Tab. 1
Staatsanwaltschaftliche Zuständigkeiten
Staatsanwaltschaft
Fallzahl
Gießen
58
Kassel
31
Marburg
9
Fulda
8
Limburg (inkl. Zweigstelle Wetzlar)
5

Todesumstände, Alter und Geschlecht der Verstorbenen

Hinsichtlich der Todesumstände wurde unterschieden nach Tötung durch fremde Hand (Homizid) oder die eigene Hand (Suizid) sowie Unfallgeschehen (Tab. 2).
Tab. 2
Todesumstände, Alter und Geschlecht der Verstorbenen
Alter (Jahre)
Homizid
Suizid
Unfall
 
m
w
m
w
m
w
≤ 20
2
1
3
1
1
4
21–30
3
1
4
1
1
5
31–40
2
1
3
5
5
8
41–50
2
2
4
8
1
9
13
51–60
4
1
5
17
17
22
61–70
1
2
3
14
14
17
71–80
1
1
18
18
1
1
20
81–90
3
3
17
17
20
≥ 91
1
1
1
1
2
14
13
27
82
1
83
1
1
111
In knapp einem Viertel der Fälle (27 Fälle, 24 %) lag eine Tötung durch fremde Hand vor, miteinbezogen tödliche Schussabgaben durch die Polizei und Opfer eines Homizids mit nachfolgender Selbsttötung des Täters. Eine Selbsttötung der Verstorbenen ließ sich in drei Viertel der Fälle (83 Fälle, 75 %) ermitteln, darunter auch die Täter in Homizid-Suiziden bzw. erweiterten Suiziden. Ein Fall wurde als Jagdunfall eingestuft.
Nahezu drei Viertel der Schusstodesfälle (81 Fälle, 73 %) betraf Menschen in der 2. Lebenshälfte; Männer (97 Fälle, 87 %) waren insgesamt deutlich häufiger betroffen als Frauen (14 Fälle, 13 %).
Mehr als zwei Drittel der Schusstodesfälle (77 Fälle, 69 %) ereigneten sich im häuslichen Umfeld, ein Viertel (28 Fälle, 25 %) im öffentlichen Raum und 6 am Arbeitsplatz (Tab. 3).
Tab. 3
Ereignisort und Todesumstände
 
Homizid
Suizid
Unfall
m
w
m
w
m
w
Häuslichkeit
6
12
18
58
1
59
77
Öffentlichkeit
6
1
7
20
20
1
1
28
Arbeitsplatz
2
2
4
4
6
14
13
27
82
1
83
1
1
111

Schusswaffen

In 104 Fällen ließen sich die insgesamt 106 verwendeten Waffen ermitteln (Tab. 4). Bei den Homiziden wurden in 12 Fällen eine Pistole, in 7 Fällen ein Revolver und in einem Fall 2 verschiedene Kurzwaffen verwendet. In 3 Fällen erfolgten Schussabgaben aus einer Flinte und in einem Fall aus einer Büchse.
Tab. 4
Verwendete Waffen (Mehrfachnennungen möglich)
 
Homizid
Suizid
Unfall
Kurzwaffe
21
54
75
Langwaffe
4
21
1
26
Andere
5
5
Keine Angabe
3
4
7
28
84
1
113
Bei den Suiziden kamen die Schüsse in 35 Fällen aus einer Pistole, in 16 Fällen aus einem Revolver und in 2 Fällen aus einer nicht näher bezeichneten Kurzwaffe. In 3 Fällen wurde ein Bolzenschussgerät benutzt, in 2 Fällen ein selbstgebauter Schussapparat. Als Langwaffen wurden in 7 Fällen eine Flinte, in 2 Fällen eine Büchse und in 11 Fällen eine nicht näher benannte Langwaffe verwendet. Zusätzlich erfolgte ein Suizid unter Nutzung sowohl einer Handfeuerwaffe (Pistole) als auch einer Langwaffe (nicht näher bezeichnet).
Der eine tödliche Unfall ereignete sich mit einer doppelläufigen Flinte.
Angaben zum Legalitätsstatus der verwendeten Waffe fanden sich in gut zwei Dritteln der Fälle (Tab. 5).
Tab. 5
Legalitätsstatus der Schusswaffen
 
Homizid
Suizid
Unfall
Legal
11
28
1
40
Illegal
7
30
37
Keine Angabe
10
26
36
28
84
1
113

Schussverletzungen

Die Verstorbenen wiesen zwischen einer und 17 Schussverletzungen auf (Tab. 6). Suizide erfolgten zu 95 % durch die Beibringung eines einzelnen Schusses; mehr als 3 Schussverletzungen lagen nur in Fällen einer Fremdbeibringung vor.
Tab. 6
Anzahl der Schussverletzungen und Todesumstände
Anzahl
Homizid
Suizid
Unfall
1
13
79
1
93
2
4
3
7
3
2
1
3
4
4
4
7
2
2
17
2
2
27
83
1
111
Die Lokalisation der Einschussverletzungen am Körper der Getroffenen ergibt sich aus Tab. 7. Der „Zwischenbereich“ umfasst Einschussverletzungen, die sich in einer beide Ohren steigbügelartig verbindenden Linie fanden. Während Einschüsse bei den Tötungen durch fremde Hand alle Körperregionen betrafen, waren sie bei suizidalen Schussbeibringungen auf den Kopf (inklusive Mundboden) und die Rumpfvorderseite beschränkt. Suizidale Schüsse in den Hinterkopf oder Nacken fanden sich nicht. Die der Rückseite von Kopf/Hals zugeordneten 2 Einschüsse lagen zwar hinter den Ohren, jedoch an der Schädelseite.
Tab. 7
Todesumstände und Einschusslokalisationen (Mehrfachnennungen möglich)
Lokalisation
Homizid
Suizid
Unfall
Kopf/Hals, Vorderseite
12
55
Kopf/Hals, Zwischenbereich
3
15
Kopf/Hals, Rückseite
5
2
Rumpf, Vorderseite
11
11
1
Rumpf, Rückseite
6
Arme
7
Beine
4

Weitere Untersuchungen

Ein konventionelles Röntgen des Leichnams vor der Obduktion erfolgte in 32 Fällen (34 %), eine CT-Untersuchung in einem Fall. Forensisch-toxikologische Untersuchungen im Blut wurden etwa bei jedem Dritten obduzierten Verstorbenen (29 Fälle, 31 %) durch die Ermittlungsbehörden beauftragt.

Tathintergründe

Informationen zu den Tathintergründen bzw. Tatmotiven ließen sich den Unterlagen für 74 % der Tötungen und 46 % der Selbsttötungen entnehmen.
Den Tötungen (ohne Schussabgaben durch die Polizei) lagen u. a. private Auseinandersetzungen oder berufliche Konflikte, finanzielle Interessen oder eine akute Psychose des Täters zugrunde. Bei den Suiziden dominierten intrafamiliäre Streitigkeiten und schwere Erkrankungen.
Die Altersverteilung der bei den Homiziden ausnahmslos männlichen Schussabgebenden (die 3 Fälle polizeilichen Schusswaffengebrauchs außer Acht lassend) ergibt sich aus Tab. 8.
Tab. 8
Alter der Schussabgebenden bei Homiziden (ohne polizeilichen Schusswaffengebrauch)
Alter (a)
21–30
31–40
41–50
51–60
61–70
71–80
81–90
91–100
k. A.
Anzahl
1
3
1
5
4
2
2
1
4
23

Diskussion

Todesumstände

Ähnliche Datenerhebungen mit jedoch länger zurückliegenden Beobachtungszeiträumen fanden bereits in anderen Regionen Deutschlands statt, so wurden aus den Jahren 2000 bis 2009 aus 21.271 Obduktionsberichten in Berlin 332 Fälle untersucht, bei denen Schussverletzungen den Tod herbeiführten [1, 7]. Im Untersuchungszeitraum 1989–2008 wurden aus 22.492 Sektionen, die am Hamburger Institut für Rechtsmedizin stattfanden, 458 Fälle von Verstorbenen durch Schussverletzungen identifiziert [28]. Die Fallzahlen aus Berlin, Hamburg und Gießen passen zu den Angaben von Karger, wonach die Untersuchung von Verletzungen durch Schusswaffen einen Anteil von ca. 2–4 % der rechtsmedizinischen Arbeit in Deutschland einnehmen [14].
Die Berliner Schusstodesfälle verteilten sich auf 260 Suizide (78,3 %), 68 Tötungsdelikte (20,5 %), einen Unfalltod (0,3 %) und 3 unklare Fälle (0,9 %) [1, 7]. In Hamburg fanden sich unter den Schusstodesfällen 218 Suizide (47 %), 220 Tötungsdelikte (48 %), 16 Unfälle (4 %) und 4 unklare Fälle (1 %) [28]. Im Vergleich mit den Gießener Daten (75 % Suizide, 24 % Tötungsdelikte, 0,9 % Unfälle) fällt auf, dass der Anteil an Tötungsdelikten in der Hamburger Studie mehr als doppelt so hoch ist wie in Berlin und doppelt so hoch ist wie in Gießen. Beschränkt man die Hamburger Daten auf die Jahre 2000–2008 (etwa der Berliner Untersuchung entsprechend), dann lagen in diesem Zeitraum 176 Schusstodesfälle vor, davon 111 Suizide (63,1 %), 60 Tötungsdelikte (34,1 %) und 5 Unfälle (2,8 %). Es zeigt sich zwar eine relative Verschiebung in Richtung der Suizide, der Anteil der Tötungsdelikte bleibt in Hamburg jedoch nach wie vor höher als in Gießen oder Berlin.

Alter und Geschlecht

Unter den Suizidenten überwog sehr deutlich das männliche Geschlecht; ausschließlich eine Frau nahm sich im Untersuchungszeitraum mit einer Schusswaffe das Leben. Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen anderer Studien [1, 7, 28] und der Statistik, wonach Frauen in Deutschland nur selten zu einer Schusswaffe als Suizidwerkzeug greifen [31]. Bei den durch fremde Hand Getöteten lag im Gießener Kollektiv ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis der Verstorbenen vor, wohingegen die Auswertungen aus Hamburg und Berlin ein Verhältnis männlich:weiblich von etwa 2–2,5:1 angeben [1, 7, 28]. Dass insgesamt deutlich mehr Männer als Frauen durch Schusswaffengebrauch ums Leben kamen, deckt sich mit den Vergleichsdaten aus Deutschland [1, 7, 28].
Die Tatsache, dass mehr als 80 % der Suizidenten im untersuchten Kollektiv älter als 50 Jahre waren, passt zu den Ergebnissen einer schwedischen Studie [13] und dem in der Literatur beschriebenen sog. „Ungarischen Muster“, d. h., dass mit zunehmendem Lebensalter ein Anstieg der Suizidrate erfolgt und eine tendenziell härtere Suizidmethode gewählt wird [30].
Bei den Homiziden waren die Täter gleichmäßiger auf die Altersgruppen verteilt. Im Vergleich mit der Auswertung der Hamburger Schusstodesfälle von 1989 bis 2008 fällt auf, dass dort alle Schussabgebenden jünger als 70 Jahre waren [28] und in einer Studie aus Münster (Untersuchungszeitraum 1993–1999) kein Täter älter als 80 Jahre war [22]. Im Gießener Untersuchungsgut lag das Alter der bekannten Schussabgebenden in 6 Fällen über 70 und in 3 Fällen über 80 Jahren. Fünf dieser Männer suizidierten sich nach der Fremdtötung.

Schusswaffen

Im Jahr 2017 befanden sich Schätzungen zufolge in Deutschland etwa 16 Mio. legale und illegale Schusswaffen im Privatbesitz, d. h. etwa 196/1000 Einwohner [19]. Bezogen auf offiziell registrierte Schusswaffen lag die Waffendichte in Deutschland 2019 bei 64,52/1000 Einwohner und in Hessen bei 68,52 [32].
Für die Gießener Daten konnte die Rechtmäßigkeit des Waffenbesitzes in etwa zwei Drittel aller Fälle beurteilt werden, und es lagen in nahezu gleichen Teilen legale und illegale Waffen vor. Bei den Tötungen durch fremde Hand (abzüglich der Todesfälle durch polizeilichen Schusswaffengebrauch) wurden in 38 % legale und in 29 % illegale Waffen verwandt. In 33 % lagen keine Informationen zum Legalitätsstatus vor. In Münster wurde in Tötungsdelikten ein deutlich höherer Anteil (80 %) an illegalen Schusswaffen verwandt [22]. In der Berliner Studie wurde der Legalitätsstatus ausschließlich für die Selbsttötungen betrachtet, mit 23 % legalen und 43 % illegalen Waffenbesitzen bei 33 % fehlenden Angaben [1]. Bei den Gießener Fällen lagen in 33 % der Suizide ein legaler, in 36 % ein illegaler und in 31 % keine Angaben zum Legalitätsstatus vor. Eine aktuelle Studie aus Schweden benennt einen Anteil von 80 % legalen Waffenbesitzes bei suizidalen Schussbeibringungen [13].
Bei der Betrachtung aller Schusstodesfälle fanden Kurzwaffen häufiger Verwendung als Langwaffen (66 % vs. 23 %). Bei den Homiziden war die Tatwaffe sogar in 75 % eine Kurzwaffe. Andere Studien aus Deutschland zeigen ähnliche Verteilungen, mit einem Überwiegen der Kurzwaffen unabhängig von den Todesumständen und, soweit bekannt, bei den Tötungsdelikten. Erwähnenswert ist, dass in Münster sogar 77 % der Tötungsdelikte mit Kurzwaffen begangen wurden und in Berlin der Anteil der Langwaffen insgesamt nur 4,82 % betrug [7, 22, 28]. Der Blick ins europäische Ausland ergibt eine völlig andere Verteilung. In einer dänischen Studie lag der Anteil der Kurzwaffen bei Homiziden bei nur 43,8 %, und Schrotflinten und Jagdgewehre waren mit 50,5 % das häufigste Tatmittel [33]. Eine weitere skandinavische Studie ergab geschlechtsabhängige Unterschiede bei den zur Tötung verwendeten Waffen. Kurzwaffen wurden in fast 50 % der Tötungen männlicher Opfer verwendet, wohingegen bei Frauen Schrotflinten überwogen [12]. Eine Auswertung britischer Schusstodesfälle ergab eine Verwendung von Schrotflinten in 58 % der Suizide und in 55 % der Homizide [29]. Erklärungen für die regionalen Unterschiede im verwendeten Waffentyp werden in der lokalen Verfügbarkeit und der geltenden Waffengesetzgebung gesehen [1, 2].
Hinsichtlich der verwendeten Waffen sind selbstgebaute Schussvorrichtungen nicht zu vergessen, die in unserem Kollektiv bei 2 suizidalen Todesfällen verwendet wurden. Derartige Apparaturen können, auch aufgrund ihres Seltenheitswerts, eine Herausforderung bei der Rekonstruktion des Geschehensablaufs darstellen [9, 20].

Schussanzahl und -lokalisation

Bei Betrachtung der Suizide zeigt sich, dass es in 5 % zu der Abgabe von mehr als einem Schuss kam – ein Phänomen, dass in ähnlicher Größenordnung auch in anderen Studien beobachtet wurde [10, 15]. Die einzigen betroffenen Körperlokalisationen (der Kopf/Halsbereich sowie der vorderseitige Rumpf) gelten in der Literatur als häufig betroffene Regionen bei suizidalen Schussbeibringungen [15, 16, 18].
Das Vorhandensein von Einschussverletzungen an anderen Körperregionen und die höhere Schussanzahl bei den Homiziden stehen im Einklang mit den Ergebnissen anderer Studien [15, 33].

Ereignisort

Bei den Homiziden dominierte mit 66 % und vergleichbar mit der Arbeit aus Münster das häusliche Umfeld als Ereignisort. Erklärt wird dies in der Literatur mit einer häufig vorhandenen engen Täter-Opfer-Beziehung [22, 27], die im Gießener Kollektiv in 83 % der Tötungen in der Häuslichkeit bestand (u. a. Eheleute, Verwandte). In der Hamburger Studie ereigneten sich lediglich 24 % der homizidalen Schussabgaben in der Wohnung des Tatopfers, mit 65 % überwog deutlich die Öffentlichkeit als Tatort bei den Tötungsdelikten. Suizide durch Schuss fanden sowohl in der Gießener als auch in der Hamburger Studie ganz überwiegend in der eigenen Wohnung statt [28].

Todesursachenstatistik

Den offiziellen Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes [8] zufolge seien zwischen 2009 und 2018 in Hessen 898 Menschen durch Schusswaffengebrauch ums Leben gekommenen: niemand infolge eines Unfalls (ICD-10: W32–W34), 823 infolge einer vorsätzlichen Selbstbeschädigung (ICD-10: X72–74), 59 infolge eines tätlichen Angriffs (ICD-10: X93–X95) und 16 unter unbestimmten Umständen (ICD-10: Y22–Y24). Hieraus ergeben sich ganz erhebliche Diskrepanzen zu der Summe der in den hessischen Instituten für Rechtsmedizin in Gießen und Frankfurt am Main [36] untersuchten Schusstodesfällen (Tab. 9).
Tab. 9
Vergleich der in der Todesursachenstatistik registrierten Schusstodesfälle in Hessen mit den in den beiden rechtsmedizinischen Instituten bearbeiteten Fällen (2009–2018)
Quelle
Homizid
Suizid
Unfall
Unklar
Todesursachenstatistik Hessen
59
823
16
898
Rechtsmedizin Gießen
27
83
1
111
Rechtsmedizin Frankfurt
63
93
3
159
[Todesursachenstatistik]−[Summe Rechtsmedizin]
−31
647
−4
16
628
Die sich in der letzten Zeile der Tab. 9 ergebenden negativen Abweichungen bei den Homiziden und Unfällen ließen sich durch fehlende Angaben im Leichenschauschein bzw. unklare Todesumstände zum Zeitpunkt der Leichenschau erklären. Dass allerdings bei den angenommenen Suiziden und in der Summe der Schusstodesfälle im Vergleich mit den rechtsmedizinisch untersuchten Fällen eine derart große Diskrepanz vorliegt, überrascht. Dazu beigetragen haben könnte der Umstand, dass in der vorliegenden Arbeit die durch die Staatsanwaltschaft Kassel beauftragten Untersuchungen erst ab 2011 in die Auswertung miteinbezogen wurden, und dass ein Teil der Verstorbenen in außerhessischen Instituten obduziert wurde. Allerdings würde dies keinen derart großen Unterschied erklären. Ein weiterer Erklärungsansatz wären Fälle, die bei der Leichenschau als angenommene Suizide und nichtnatürliche Todesfälle den Ermittlungsbehörden gemeldet, im Anschluss allerdings nicht rechtsmedizinisch begutachtet wurden. Hierdurch ließe sich die große Anzahl nichtuntersuchter Fälle prinzipiell erklären, jedoch wäre dies eine aus Sicht der Rechtsmedizin äußerst bedenkliche und nicht im Interesse der Rechtssicherheit liegende Erklärung.

Fazit für die Praxis

Schusstodesfälle sind im internationalen Vergleich in Deutschland und Hessen eher selten. Für jeden Einzelfall ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Ermittlungsbehörden und Rechtsmedizin zu fordern. Das Teilen von Informationen zu Befunden am Leichenfundort, der verwendeten Waffe und Munition ist notwendig, um interdisziplinär rekonstruktive Fragestellungen beantworten und die Todesumstände aufklären zu können – auch bei vermeintlich eindeutiger Spurenlage am Leichenfundort. Über eine Obduktion hinaus sind postmortale radiologische Untersuchungen in der Regel zu empfehlen; bei angenommenen Suiziden sollten forensisch-toxikologische Untersuchungen erfolgen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

P.M. Wolf, R.B. Dettmeyer, F. Holz und C.G. Birngruber geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Diese retrospektive Studie erfolgte nach Konsultation der zuständigen Ethikkommission und im Einklang mit nationalem Recht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
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Zurück zum Zitat Rieberg M (2014) Multifaktorielle Analyse der von 1989 bis 2008im Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg mittels Sektion untersuchten Schusstodesfälle. Dissertation, Fachbereich Medizin, Universität Hamburg Rieberg M (2014) Multifaktorielle Analyse der von 1989 bis 2008im Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg mittels Sektion untersuchten Schusstodesfälle. Dissertation, Fachbereich Medizin, Universität Hamburg
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Zurück zum Zitat Wolf PM, Schof S, Lux C, Birngruber CG (2023) Schusstodesfälle am Institut für Rechtsmedizin Frankfurt am Main (2009–2018), Vortrag am 25.03.2023, 3. „Frühjahrstagung Digital“ der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin Wolf PM, Schof S, Lux C, Birngruber CG (2023) Schusstodesfälle am Institut für Rechtsmedizin Frankfurt am Main (2009–2018), Vortrag am 25.03.2023, 3. „Frühjahrstagung Digital“ der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin
Metadaten
Titel
Schusstodesfälle am Institut für Rechtsmedizin Gießen (2009–2018)
verfasst von
P. M. Wolf
R. B. Dettmeyer
F. Holz
PD Dr. med. C. G. Birngruber
Publikationsdatum
19.09.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 6/2023
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-023-00652-x

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Rechtsmedizin 6/2023 Zur Ausgabe

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