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Erschienen in: Rechtsmedizin 3/2015

01.06.2015 | Leitthema

Vorverlagerter Tod

Probleme des Kausalitätsnachweises

verfasst von: Dr. jur. D. Böhmann

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 3/2015

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Zusammenfassung

Hintergrund

Die vorliegenden Ausführungen basieren auf der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Kausalität zwischen unterlassenem ärztlichen Handeln und Tod von Patienten.

Fragestellung

Hat die Rechtsprechung des BGH zu einer verschärften ärztlichen Haftung geführt, und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für den gutachterlichen Alltag?

Material und Methode

Daten zur höchstrichterlichen Rechtsprechung und der einschlägigen medizinrechtlichen Literatur wurden ausgewertet.

Ergebnisse

Der BGH hat als oberstes deutsches Strafgericht in den 1980er Jahren einige Urteile gefällt, in denen Ärzte wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurden, da sie durch eine unterlassene ärztliche Handlung die Lebenserwartung der Patienten um einen Tag oder nur um wenige Stunden verkürzt hatten. Der Tatbestand der fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB als fahrlässiges Erfolgsdelikt setzt voraus, dass der Verstoß gegen allgemein anerkannte fachliche Standards für den Tod des Patienten ursächlich gewesen ist. Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung setzt also voraus, dass die Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfalt kausal für den strafrechtlich inkriminierten Erfolg war. Die Abkürzung fremden Lebens um einen Tag oder einen Zeitraum von wenigen Stunden unterfällt dem Schutzzweck der fahrlässigen Tötung und ist insoweit tatbestandlich einschlägig. Lediglich eine irrelevante Lebensverkürzung ist vor dem Hintergrund des Schutzzwecks des § 222 StGB als unwesentlich und damit auch tatbestandlich unbeachtlich aufzufassen.

Schlussfolgerung

Die Lebensverkürzung aufgrund unterlassener ärztlicher Handlungen in einem Zeitraum von wenigen Stunden wird mit empirisch-wissenschaftlichen Methoden nicht exakt bestimmbar sein, sondern höchstens als Plausibilitätserwägung begründet werden können. Wenn der Überlebenszeitraum aber naturwissenschaftlich nicht exakt bestimmt werden kann, sollten die beauftragten Gutachter äußerst zurückhaltend sein, exakte Angaben zur potenziellen Dauer der Lebensverlängerung bzw. zur Kausalität festzustellen. Denn aufgrund einer – wenn auch sachverständigen – Schätzung kann eine strafrechtliche Sanktionierung nicht erfolgen.
Fußnoten
1
RGSt. 25 375.
 
2
Vgl. Püschel et al., Wandel der Begutachtungskriterien am Beispiel der übersehenen Myokardinfarkte, in: Madea/Dettmeyer (Hrsg.), Medizinschadensfälle und Patientensicherheit, 2007, 153, 155.
 
3
Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, S. 266.
 
4
BGH, Urteil vom 20. Mai 1980, NStZ 1981, 218 mit zustimmender Anmerkung von Wolfslast.
 
5
BGHSt 11, 1 ff.
 
6
Ständige Rechtsprechung. vgl. nur RGSt 58, 130 f.; BGH 2 StR 494/87, BGH NJW 2000, 2754 f., m.w.N.
 
7
Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013, BGBl 2013, S. 277.
 
8
So zu Recht Ulsenheimer, Aus der Praxis des Arztstrafrechts, MedR 1984, S. 161, 163.
 
9
Ständige Rechtsprechung seit BGHSt 11, 1 f., vgl. Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl., 2008, Rn. 219; Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 403, jeweils m.w.N.
 
10
OLG München VersR 1966, 63,64; vgl. auch BGH NJW 1984, 661; Ulsenheimer, Der Arzt im Strafrecht, in: Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2010, § 140, 1619.
 
11
Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 262.
 
12
Ulsenheimer, Aus der Praxis des Arztstrafrechts, MedR 84, 161, 163.
 
13
Nachweis diesbezüglich bei Ulsenheimer, MedR 84, a.a.O.
 
14
Sachverhaltsdarstellung bei Ulsenheimer, MedR 84 161 163. Ergänzend ist auf die Urteilsbegründung des BGH hinzuweisen – 1 StR 177/80 –, demnach in der Hauptbehandlung des LG München 4 Fachchirurgen, also kein Rechtsmediziner, angehört wurden. Urteil zitiert nach juris, dort Rn. 11.
 
15
BGH, Urteil vom 20. Mai 1980, 1 StR 177/80, zitiert nach juris, dort Rn. 18 a. E.
 
16
BGH, Urteil vom 10.08.1984, 1 StR 9/84, NStZ 1985, 26, 27.
 
17
BGH Urteil vom 12.10.1987, 2 StR 494/87, MedR 1988, 10.
 
18
BGH, Urteil vom 8. Juli 1987, 2 StR 269/87, MedR 1988, 25 f.
 
19
Ulsenheimer, Das Strafrecht in der Praxis, S. 265, Rn. 224; ders., in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 140, Rn. 42.
 
20
§ 1 Abs. 2 der Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte in der Fassung der Beschlüsse des 114. Deutschen Ärztetages 2011.
 
21
BayObLG, JZ 1973, 319 f.
 
22
So zu Recht Tag, a.a.O. 402.
 
23
BT-Drs. 17/10488, 24.
 
24
Fischer in: Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, Kommentar, 50. Aufl. § 212, Rn. 3, m.w.N.
 
25
BGH, Urteil vom 20.05.1980, NSTZ 1981, 218 f. zitiert nach juris, dort Rn. 16 a. E.
 
26
Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 225.
 
27
Schlund, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2010, § 122, Rn. 21.
 
28
Dies kann auch Ulsenheimer nicht anführen. Vgl. Rechtliche Grundlagen und Schranken rechtsmedizinischer Gutachtertätigkeit im Strafprozess, in: Klose, Uehmichen (Hrsg.) Rechtsmedizinische Forschungsergebnisse – Festschrift für Otto Pribilla zum 70. Geburtstag.
 
29
Ulsenheimer, a.a.O.
 
30
Eisenmenger, in: Madea/Winter (Hrsg.) Begutachtung des ärztlichen Behandlungsfehlers aus Sicht der Rechtsmedizin, in: Medizin-Ethik-Recht, 1994.
 
31
Vgl. Püschel et al., Wandel der Begutachtungskriterien am Beispiel der übersehenen Myokardinfarkte, in: Madea/Dettmeyer (Hrsg.), Medizinschadensfälle und Patientensicherheit, 2007, S. 153, 155.
 
32
Ulsenheimer, in: Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., 2010, § 140, Rn. 41.
 
33
BGH, Urteil vom 20.05.1980, NStZ 1981, 218 f., zitiert nach juris, Rn. 11.
 
Metadaten
Titel
Vorverlagerter Tod
Probleme des Kausalitätsnachweises
verfasst von
Dr. jur. D. Böhmann
Publikationsdatum
01.06.2015
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 3/2015
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-015-0006-9

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