Kurze Hinführung zum Thema
In Deutschland sind derzeit ca. 1,7 Mio. Menschen von einer Demenz betroffen. Menschen mit Demenz haben ein etwa gleich hohes akutmedizinisches Erkrankungsrisiko wie die übrige ältere Bevölkerung. Auf die über 60-Jährigen entfällt derzeit etwa die Hälfte aller Krankenhausaufenthalte. Schätzungen gehen davon aus, dass diese Zahl bis zum Jahr 2030 auf über 60 % steigen wird, wobei schon 2020 jeder 5. Krankenhausfall ein über 80-jähriger Patient sein wird. Deshalb ist von einer deutlichen Zunahme von Menschen mit Demenz im Krankenhaus auszugehen, worauf ein Großteil der Akutkrankenhäuser noch nicht ausreichend vorbereitet ist.
Hintergrund und Fragestellung
Das durchschnittliche Alter von Patienten in der inneren Medizin ist in den letzten Jahren spürbar angestiegen und liegt mittlerweile bei 70 bis knapp unter 80 Jahren [
10,
29]. Damit einhergehend nimmt auch der Anteil an Patienten mit demenziellen Erkrankungen (PmD) zu [
18]. Die personelle Ausstattung und Qualifikation in Akutkrankenhäusern als auch die baulichen und räumlichen Bedingungen entsprechen häufig nicht hinreichend den besonderen Bedarfen und Bedürfnissen demenzerkrankter Patienten. Dies birgt die Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Betroffenen sowie der Überforderung für das Personal [
5,
24,
31].
In diesem Kontext steigt das Risiko erhöhter Behandlungskosten in der Akutversorgung durch Folgekomplikationen sowie durch erhöhte Rehabilitations- und/oder Pflegebedürftigkeit, z. B. durch weitere Demobilisierung infolge von bewegungseinschränkenden Maßnahmen und Fixierungen. So haben Demenzkranke ein doppelt bis dreifach erhöhtes Sturz- sowie ein bis zu vierfach erhöhtes Verletzungsrisiko [
17,
23]. Insbesondere die Abteilungen der inneren bzw. internistischen Medizin sind überdurchschnittlich von Sturzproblemen betroffen [
16]. Demenzerkrankungen sind der häufigste Grund dafür, dass Krankenhauspersonal bewegungseinschränkende Maßnahmen wie Seitenschutz/Bettseitenschutzleisten, Fixiergurte oder Therapietische einsetzt und sedierende Medikamente verabreicht [
15,
22]. Der Einsatz dieser restriktiven Maßnahmen ist in erster Linie den Rahmenbedingungen der Akutkrankenhausabteilungen geschuldet, deren Arbeitsabläufe und räumlich-architektonische Bedingungen nicht auf die eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten der demenzerkrankten Menschen ausgerichtet sind [
13,
20,
21].
Um eine den besonderen Problemen der PmD angemessene Behandlung durchführen zu können, wurde im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf (EKA) in Hamburg ein neues Modellkonzept „Station DAVID“ (Diagnostik, Akuttherapie, Validation auf einer Internistischen Station für Menschen mit Demenz) implementiert, mit dem Ziel, durch besondere konzeptionelle Bausteine u. a. den Einsatz von bewegungseinschränkenden sowie Sedierungsmaßnahmen zu verringern und die Lebens- und Versorgungsqualität von PmD zu verbessern. In diesem Kontext sollen 2 Fragestellungen beantwortet werden: 1) Welche Faktoren beeinflussen den Einsatz von Sedierungen und bewegungseinschränkender Maßnahmen bei PmD? 2) Unterscheidet sich der Zusammenhang zwischen relevanten Einflussfaktoren und dem Einsatz von bewegungseinschränkenden und Sedierungsmaßnahmen in Abhängigkeit davon, ob sich die Versorgung an einem speziellen Konzept für Demenzpatienten orientiert oder es sich um eine Regelversorgung handelt?
Diskussion
In dieser Studie wurde untersucht, welche Faktoren mit dem Einsatz sedierender Medikamente und bewegungseinschränkender Maßnahmen bei PmD in internistischen Abteilungen zusammenhingen, und ob sich diese Zusammenhänge zusätzlich in Abhängigkeit der Versorgungsart (Interventions- vs. Kontrollgruppe) unterschieden.
Im Modell 1 waren von allen patientenbezogenen Merkmalen die Verhaltensauffälligkeiten der einzige statistisch signifikante Prädiktor. Dieses Resultat entspricht nur z. T. den Ergebnissen aus anderen Studien, wo zusätzlich kognitive Beeinträchtigungen bzw. der Demenzschweregrad mit einer erhöhten Sedierung assoziiert war [
15,
28]. Um zu prüfen, inwieweit inhaltliche Überschneidungen der Prädiktoren Demenz und Verhaltensauffälligkeiten vorliegen, wurden die Modelle auf Multikollinearität geprüft. Jedoch konnte keine auffällige Korrelation zwischen den Prädiktoren festgestellt werden. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass bei Patienten mit schwerer Demenz insbesondere die bei dieser Erkrankung häufig auftretenden herausfordernden Verhaltensweisen ausschlaggebend für vermehrte Sedierung sind. Studien zeigten zudem, dass der missbräuchliche Einsatz dieser Medikamente – vermutlich aufgrund ihrer sedierenden Wirkung – zu einem erhöhtem Sturzrisiko führt [
26]. Zumindest in unseren Daten war Sedierung nicht signifikant mit Sturzereignissen assoziiert.
Von den patientenbezogenen Merkmalen in Modell 2 war der Barthel-Index ein signifikanter Prädiktor. Ferner stiegt mit zunehmender Aufenthaltsdauer die Wahrscheinlichkeit, dass bewegungseinschränkende Maßnahmen bei Patienten angewendet wurden. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch in anderen Studien, in denen funktionelle Einschränkungen (Barthel-Index) die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes bewegungseinschränkender Maßnahmen erhöhen [
9,
21]. Dies lässt vermuten, dass bei Patienten mit eingeschränkter Mobilität die Sorge einer erhöhten Sturzgefahr vorliegt. Dies kann durch unsere Daten nicht bestätigt werden. In beiden Krankenhäusern gab es einen vergleichbaren Anteil an Sturzereignissen bei PmD, obgleich sich die Häufigkeit bewegungseinschränkender Maßnahmen deutlich unterschied. Andere Studien kommen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Verzicht auf bewegungseinschränkende Maßnahmen nicht mit einem spürbar erhöhten Sturzrisiko einhergeht [
6,
19] und somit die Anwendung bewegungseinschränkender Maßnahmen zur Sturzprophylaxe nicht notwendig ist.
Ein eindeutiger Prädiktor für den Einsatz sowohl sedierender Medikamente als auch bewegungseinschränkender Maßnahmen war die Versorgungsart. So war in der Kontrollgruppe die Wahrscheinlichkeit zu sedieren, etwa doppelt so hoch im Vergleich zur Station DAVID. Die Wahrscheinlichkeit für bewegungseinschränkende Maßnahmen war etwa 3‑mal höher. Dass der Einsatz bewegungseinschränkender Maßnahmen auf Stationen mit besonderen Versorgungskonzepten für PmD seltener vorkommt, konnte auch in anderen Untersuchungen gezeigt werden [
30]. Gründe für die Unterschiede sind die verschiedenen Bausteine dieser Versorgungskonzepte [
2]. Oft sind besondere Schulungsangebote ein wesentlicher Bestandteil von ihnen. Der geschulte Umgang mit PmD trägt dazu bei, dass das Pflegepersonal proaktiv auf die Patienten zugehen kann, noch bevor größere Unruhe oder Verhaltensauffälligkeiten entstehen. Studien zeigen die positiven Effekte von Schulungsmaßnahmen und verbesserter Versorgungs- und Lebensqualität bei PmD [
14]. Obwohl der exakte Einfluss eines besonderen Versorgungskonzepts schwer zu quantifizieren ist, erscheint das Ergebnis durchaus plausibel. Ein erhöhter Personalschlüssel, besondere bauliche Begebenheiten oder auch spezielle Schulungsmaßnahmen sind essenzielle Maßnahmen zur Steigerung der Versorgungs- und Lebensqualität von PmD [
12]. Nicht zuletzt ist die Lebensqualität von PmD deutlich höher, wenn auf Sedierung und bewegungseinschränkende Maßnahmen verzichtet wird [
8].
Um ein solches Konzept umzusetzen, sind zusätzliche Zeit- und personelle Ressourcen nötig, die nicht immer gegenfinanziert werden [
11]. Im Rahmen eines besonderen Angebots wie der Station DAVID fallen beispielsweise höhere Personal- als auch Behandlungskosten an. Gesundheitspolitische Maßnahmen sind notwendig, um für Krankenhäuser nicht nur Anreize, sondern realistische Möglichkeiten zu schaffen, eine Lösung für die stetig bedeutsamer werdende Patientengruppe „Menschen mit Nebendiagnose Demenz“ zu finden und entsprechende Lösungsansätze umzusetzen. Bei Demenzpatienten ist die Gefahr von Folgekomplikationen nachweislich erhöht; zudem sind Menschen mit Demenz häufiger im Krankenhaus als gleichaltrige Menschen ohne kognitive Einschränkungen [
1,
17]. Daher ist eine verbesserte Versorgungs- und Lebensqualität von PmD im Krankenhäusern mit Nachdruck zu empfehlen. Die finanziellen Einsparungen durch Vermeidung von Folgekosten können die zusätzlichen Kosten, die durch erhöhten Personalaufwand im Krankenhaus entstehen, wahrscheinlich kompensieren.
Limitationen
Die Ergebnisse haben einige Limitationen. Zum einen unterschieden sich die Patienten beider Krankenhäuser in verschiedenen Merkmalen, insbesondere hinsichtlich ihrer Mobilität. Um eine bestmögliche Vergleichbarkeit herzustellen, wurden die Modelle für diese und weitere Merkmale wie CCI adjustiert. Eine Ungleichverteilung von morbiden Patienten könnte eine weitere Einschränkung bezüglich der Vergleichbarkeit der Krankenhäuser darstellen. Jedoch zeigte der Vergleich von Hauptdiagnosen, dass keine der beiden internistischen Abteilungen deutlich morbidere Patienten behandelte. Weitere Limitationen sind die strukturellen Unterschiede beider Krankenhäuser, v. a. hinsichtlich des Personalschlüssels. Dies dürfte ein wesentlicher Grund für die festgestellten Unterschiede sein. Jedoch kann dies weniger als Verzerrung der Ergebnisse gesehen werden. Bei dem erhöhten Personalschlüssel handelt es sich um einen von mehreren Bausteinen des Versorgungskonzepts. Somit ist dies nicht per se als „struktureller Unterschied“ zu bewerten. Der Vergleich eines umfassenden Versorgungskonzepts für PmD zur Regelversorgung kann daher als „unfair“ wahrgenommen werden, obwohl es Teil der gesamten Intervention ist. Dennoch sollten Studien künftig weitere Kontrollgruppen oder eine Interventionsgruppe mit ähnlichen strukturellen Merkmalen einbeziehen, um mögliche Ergebnisverzerrungen durch Krankenhausunterschiede zu minimieren.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Vor Studienbeginn wurde ein Studienprotokoll erstellt und bei der Ethikkommission der Hamburger Ärztekammer eingereicht. Die Ethikkommission stimmte dem Vorhaben zu und bescheinigte, dass die Studie den ethischen und fachrechtlichen Anforderungen entsprach (Bearbeitungsnummer PV5102).
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