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Erschienen in: Forum der Psychoanalyse 3/2005

01.09.2005 | Bindungstheorie

Die Bindungstheorie als Basis psychotherapeutischer Interventionen in der Terminalphase

verfasst von: Dr. med. Yvonne Petersen, Lotte Köhler

Erschienen in: Forum der Psychoanalyse | Ausgabe 3/2005

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Zusammenfassung

Die Bindungsforschung der letzten Jahrzehnte hat ergeben, dass jeder Mensch bereits in seiner frühen Kindheit bestimmte Bindungsstrategien ausbildet, die aktiviert werden, wenn Gefahr aus eigenem Vermögen nicht behoben werden kann. Vier derartiger „Bindungsmuster“ wurden spezifiziert, nämlich „sicher“, „unsicher-vermeidend“, „unsicher-ambivalent/verstrickt“ und „desorientiert/desorganisiert“.
Die Situation, in der ein nahestehender Mensch stirbt, stellt eine einmalige und endgültige Trennungssituation dar, die beim Patienten und seinen Angehörigen seelische Nöte hervorruft. Sie stellt somit einen besonders wirksamen Auslöser für die Aktivierung des Bindungssystems dar.
Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, eine Brücke von der Bindungstheorie zu einer bindungsorientierten Therapie zu schlagen, die besonders im Bereich der Palliativmedizin ein bisher brachliegendes Anwendungsgebiet eröffnet. An Hand von Fallbeispielen wird dargestellt, wie sich diese Einsichten bei der psychotherapeutischen Betreuung von Patienten und ihren Angehörigen auf einer Palliativstation einsetzen lassen. Da Sterbende meist von ihren Angehörigen in die Klinik gebracht werden, kann der behandelnde Arzt das im Familiensystem bestehende Bindungsmuster besonders klar sehen und diese Kenntnis in seine Behandlungsstrategie integrieren: beispielsweise bei Vorliegen einer vermeidenden Bindung, die verleugneten Gefühle vorsichtig zur Sprache zu bringen und bestehende Hoffnungen auf Erfüllung von Schutz- und Anlehnungsbedürfnissen zu bestärken; im Falle so genannter „ambivalent/verstrickter“ Bindung die überengen Beziehungen zu entzerren; im Falle desorganisierter Bindung, die Emotionsregulation zu fördern und Klarheit in die Beziehungen zu bringen.
Es liegt nahe, dass diese Ansätze, die die Bindungstheorie für die Erleichterung des Sterbeprozesses bietet, nicht nur auf einer Palliativstation relevant sind, sondern auch in der allgemeinen ärztlich-pflegerischen Betreuung Sterbender und ihrer Angehöriger Anwendung finden können.
Fußnoten
1
Das gesamte klinische Material stammt von Petersen, die Darstellung der theoretischen Grundlagen von Köhler, die klinisch-theoretische Auswertung des Fallmaterials wurde von beiden Autorinnen gemeinsam erarbeitet.
 
2
Kaitz et al. (2004) fanden in einer Untersuchung, dass vermeidend gebundene Erwachsene bei einer ersten Begegnung mit Fremden eine größere räumliche Distanz bewahren und gegenüber Annäherungsversuchen unbekannter Personen empfindlicher reagieren als sicher gebundene.
 
3
Eine unzureichende Lateralisierung sieht man auch im EEG von Kleinkindern, die in rumänischen Waisenhäusern „betreut“ worden waren (Parker et al. 2005).
 
4
Persönliche Mitteilung am 03.12. 2004.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Die Bindungstheorie als Basis psychotherapeutischer Interventionen in der Terminalphase
verfasst von
Dr. med. Yvonne Petersen
Lotte Köhler
Publikationsdatum
01.09.2005
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Forum der Psychoanalyse / Ausgabe 3/2005
Print ISSN: 0178-7667
Elektronische ISSN: 1437-0751
DOI
https://doi.org/10.1007/s00451-005-0241-x

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