Erschienen in:
01.09.2012 | Einführung zum Thema
Die Störungsgruppe der somatoformen Störungen
Alte und neue Herausforderungen
verfasst von:
H. Gündel, P. Henningsen, Prof. Dr. Dr. H.P. Kapfhammer, W. Rief
Erschienen in:
Der Nervenarzt
|
Ausgabe 9/2012
Einloggen, um Zugang zu erhalten
Auszug
Die mit dem DSM-III erstmals eingeführte diagnostische Kategorie der „somatoformen Störungen“ begleiten von Anfang an kritische Stimmen. Einerseits wurde mit dieser Neukonzeptualisierung einer bedeutsamen Patientengruppe in der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung ein einheitlicher diagnostischer Ort zugesprochen, von dem aus wichtige epidemiologische, klinisch-diagnostische und therapeutische Forschungsaktivitäten gestartet und koordiniert werden konnten. Andererseits haften der diagnostischen Konstruktion der „somatoformen Störungen“ erhebliche Mängel an. In der Begrifflichkeit „somatoform“ setzt sich eine wissenschaftstheoretisch überholte Dichotomie von „Leib-Seele“ fort. Das Postulat bedingender psychosozialer Stressoren kann empirisch keineswegs immer bestätigt werden und legt einen einseitigen „psychogenetischen“ Fokus auf ein komplexes pathogenetisches Geschehen, das vorteilhaft nur innerhalb eines biopsychosozialen Modells beschrieben werden kann. Die Forderung einer „medizinischen Nichtbegründbarkeit“ ist prinzipiell nicht zu verifizieren und für die ärztliche Routine wenig tauglich. Die zentrale Orientierung an einer lediglich aufzusummierenden Anzahl von „medizinisch unerklärten körperlichen Symptomen“ berücksichtigt weder die einzelnen somatoformen Störungen zugrunde liegende psychopathologische Vielschichtigkeit noch die Charakteristika eines bestimmenden Krankheitsverhaltens. Die Konstruktion als exklusiver diagnostischer Kategorie verfehlt die gerade in der ärztlichen Primärversorgung vorherrschende Überschneidung von somatoformen Störungen mit anderen psychischen Störungen wie z. B. Angst- und depressiven Störungen einerseits, mit somatisch-medizinischen Krankheiten andererseits. Es überrascht nicht, dass die mit dem DSM-III erscheinende Diagnosegruppe der „somatoformen Störungen“ im ärztlichen Versorgungsalltag letztlich nicht wirklich angekommen ist und hier weiterhin mit Alternativkonzepten „psychogener“ und „funktioneller Störungen“ konkurriert. …