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Klinische Neurologie
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Publiziert am: 31.03.2018

Toxische Polyneuropathien

Verfasst von: Andreas Engelhardt
Das polyneuropathische Syndrom ist auf eine Schädigung mehrerer oder aller peripherer Nerven zurückzuführen. Alkohol ist mit Abstand die häufigste toxische Ursache einer Polyneuropathie. Es handelt sich um eine axonale Degeneration mit distalem Beginn und langsamem Aufsteigen. Weitere – deutlich seltenere – toxische Ursachen sind Medikamente (Vincristin, Cisplatin, Taxol, Isoniazid, Amiodaron, Metronidazol, Nitrofurantoin, Linezolid, Bortezomid, Rit0uximab, Gold, Chloroquin, Dapson, Lithium, Tacrolimus) und gewerbliche bzw. Umweltgifte (Arsen, Blei, Quecksilber, Thallium, Lösungsmittel, DDT, Triorthokresylphosphat, Schwefelkohlenstoff, Acrylamid).
Das polyneuropathische Syndrom ist auf eine Schädigung mehrerer oder aller peripherer Nerven zurückzuführen. Alkohol ist mit Abstand die häufigste toxische Ursache einer Polyneuropathie. Es handelt sich um eine axonale Degeneration mit distalem Beginn und langsamem Aufsteigen. Weitere – deutlich seltenere – toxische Ursachen sind Medikamente (Vincristin, Cisplatin, Taxol, Isoniazid, Amiodaron, Metronidazol, Nitrofurantoin, Linezolid, Bortezomid, Rituximab, Gold, Chloroquin, Dapson, Lithium, Tacrolimus) und gewerbliche bzw. Umweltgifte (Arsen, Blei, Quecksilber, Thallium, Lösungsmittel, DDT, Triorthokresylphosphat, Schwefelkohlenstoff, Acrylamid).

Alkoholische Neuropathie

Häufigkeit, Vorkommen und Pathogenese
Alkohol ist mit Abstand die häufigste toxische Ursache einer Polyneuropathie. Mindestens 20 % der chronischen Alkoholiker sind betroffen. Es handelt sich als typisches Beispiel einer toxischen Polyneuropathie um eine axonale Degeneration mit distalem Beginn und langsamem Aufsteigen („dying back“). Pathogenetisch spielt in erster Linie die direkt toxische Wirkung des Alkohols bzw. seiner Metaboliten (Acetaldehyd) eine Rolle. Unterstützt wird die schädigende Wirkung durch Mangelernährung, wie sie bei chronischem Alkoholismus fast immer vorhanden ist. Mangel an Vitamin-B-Komplex allein kann die Entstehung der alkoholischen Polyneuropathie allerdings nicht erklären.
Klinik
Zumeist besteht ein langjähriger Alkoholabusus von mehr als 60 g Ethanol pro Tag, wobei die Art des Getränks keine Rolle spielt. Die klinischen Symptome treten langsam über Monate oder Jahre, seltener rasch innerhalb von wenigen Wochen auf. Druckschmerzhaftigkeit der großen Nervenstämme (N. tibialis in der Kniekehle oder Wadendruckschmerz, sog. „Heidelberger Zeichen“) ist ein häufiges Frühsymptom. Etwa ein Viertel der Patienten klagt über Parästhesien und ziehende Spontanschmerzen. Da die großkalibrigen myelinisierten Fasern zuerst geschädigt werden, sind Vibrationsempfinden und Lagesinn zumeist früher gestört als die Oberflächensensibilität. Stehen die Tiefensensibilitätsstörungen ganz im Vordergrund, resultiert eine sensible Ataxie („Pseudotabes peripherica alcoholica“). Muskelatrophien, Reflexverlust und distal betonte Paresen finden sich erst in späteren Stadien, können dann allerdings zu sehr ausgeprägten atrophischen Tetraparesen führen. Vegetative Störungen mit Hyperhidrosis („Schweißfüße“ als Differenzialdiagnose zu Diabetes, der zumeist Hypohidrosis mit trockenen Füßen zeigt!) und kühler marmorierter Haut sind häufig, viszerale autonome Störungen jedoch seltener als bei der diabetischen Polyneuropathie. Hirnnervenausfälle sind sehr selten. Bei Augenmuskelparesen sollte daher eher an eine zusätzliche Wernicke-Enzephalopathie gedacht werden. Gelegentlich findet man kappenförmige sensible Störungen in Scheitelhöhe als Ausdruck einer Läsion der distalen Fasern des ersten Trigeminusastes.
Diagnostik
Entsprechend der primär axonalen Degeneration findet sich in der Neurografie eine Amplitudenminderung, während die Nervenleitgeschwindigkeiten erst im späteren Verlauf verlangsamt sind.
Therapie
Bei Alkoholabstinenz bilden sich die Symptome der Polyneuropathie zurück. Bestehen allerdings ausgeprägte motorische Störungen mit Umbau der Muskulatur und Begleitmyopathie, kann die Restitution nur unvollständig sein. Zusätzliche Mangelernährung sollte durch diätetische Maßnahmen und Zugabe von Vitamin-B-Komplex (vor allem Vitamin B1) behoben werden.

Sonstige toxische Polyneuropathien

Zahlreiche exogene Substanzen können zu peripheren Nervenschäden führen. Am wichtigsten sind Medikamente (Vincristin, Cisplatin, Taxol, Isoniazid, Amiodaron, Metronidazol, Nitrofurantoin, Gold, Chloroquin, Dapson, Lithium, Tacrolimus) und gewerbliche bzw. Umweltgifte (Arsen, Blei, Quecksilber, Thallium, Lösungsmittel, DDT, Triorthokresylphosphat, Schwefelkohlenstoff, Acrylamid). Die Prävalenz toxischer Polyneuropathien in der Gesamtbevölkerung ist jedoch mit Ausnahme der alkoholischen sehr gering. Dies soll angesichts einer verzerrten Darstellung durch die Laienpresse („Umweltgifte“) betont werden. Eine ungezielte Suche nach allen möglichen neurotoxischen Substanzen ist sinnlos und teuer. Neben Einzelfällen (z. B. durch Trinken aus bleiglasierten Gefäßen oder „Schnüffeln“ von Lösungsmitteln) treten immer wieder spektakuläre Massenvergiftungen auf (z. B. Triorthokresylphosphat-Intoxikationen durch Schmieröl-Speiseöl-Gemische in der Nachkriegszeit oder entzündliche Polyneuritiden durch „toxisches Rapsöl“ 1981 in Spanien). Die wichtigsten Medikamente und Toxine als Ursache einer Polyneuropathie sind in Abb. 1 aufgeführt. Erst in den letzten Jahren wurde bekannt, dass auch Statine eine potenziell reversible ……. Polyneuropathie auslösen können (de Langen und Puijenbroek 2006). Tumornekrosefaktor-Blocker, Rituximab, Bortezomid wurden in Einzelfällen beschrieben (Mauermann et al. 2007, Richardson et al. 2006, Richez et al. 2005). Das Antibiotikum Linezolid kann zu einer schmerzhaften Neuropathie und zu einer Optikusschädigung führen (Bressler et al. 2004, Rucker et al. 2006).
Gemeinsam ist den meisten toxischen Polyneuropathien das klinische Bild mit symmetrischem Manifestationstyp und überwiegend sensiblen Ausfällen. Bei einigen treten heftige Schmerzen auf (Arsen, Thallium, DDT, Triorthokresylphosphat). Nur wenige toxische Polyneuropathien sind asymmetrisch oder primär bevorzugt motorisch (z. B. Goldpolyneuropathie, Bleilähmung der Finger- und Handstrecker). Bei zahlreichen Umwelt- oder gewerblichen Giften sind das ZNS (Myelopathie, Enzephalopathie) oder andere Organe (Knochenmark, Leber, Niere, Haut) mitgeschädigt. Dies kann neben einer sorgfältigen Expositionsanamnese diagnostisch wegweisend sein. Zu achten ist insbesondere auf Bleisaum des Zahnfleisches, Mees-Querstreifen der Nägel (Arsen und Thallium), Haarausfall (Thallium) und basophile Tüpfelung der Erythrozyten (Blei). Elektrophysiologisch und morphologisch handelt es sich bei den toxischen Polyneuropathien überwiegend um axonale Typen, nur sehr selten finden sich primäre Markscheidenschädigungen (Amiodaron, Perhexilin, Chloroquin, Tacrolimus). Daher ist die Nervenleitgeschwindigkeit zumeist normal oder nur leicht verzögert; elektromyografisch finden sich pathologische Spontanaktivität und neurogener Umbau der Aktionspotenziale.
Die Behandlung aller toxischen Polyneuropathien besteht im Vermeiden der Exposition und einer raschen Elimination der Toxine. In der Regel bilden sich die neurologischen Ausfälle nach Beendigung der Toxineinwirkung zurück. Restsymptome können bleiben. Eine weitere Progredienz ist jedoch unwahrscheinlich und extrem selten. Bei Schwermetallen kann die Elimination durch Komplexbildner (BAL [Dimercaprol], Penicillamin), bei Thallium auch durch Natriumjodidlösung, Schwefelwasserstoff und Berliner Blau-Lösung sowie forcierte Diurese gefördert werden. Die Isoniazidpolyneuropathie kann durch Gabe von Pyridoxin (60–120 mg pro Tag) verhindert werden, wobei allerdings hohe Dosen von Pyridoxin (Vitamin B6) selbst eine sensible Polyneuropathie erzeugen können.

Facharztfragen

1.
Nennen Sie Beispiele für demyelinisierende toxische Polyneuropathien!
 
2.
Wie entsteht die alkoholtoxische Polyneuropathie?
 
3.
Nennen Sie Beispiele medikamentös bedingter Polyneuropathien!
 
Literatur
Bressler AM, Zimmer SM, Gilmore JL et al (2004) Peripheral neuropathy associated with prolonged use of linezolid. Lancet Infect Dis 4:528–531CrossRef
Dyck PJ, Thomas PK (Hrsg) (2005) Peripheral neuropathy, 4. Aufl. Philadelphia, Saunders
Engelhardt A (2008a) Diagnostische Schritte bei Polyneuropathien. 1. Teil: Anamnese, Klinik. Fortschr Neurol Psychiatr 76:429–436; quiz 437–429CrossRef
Engelhardt A (2008b) Diagnostische Schritte bei Polyneuropathien. 2. Teil: Neurophysiologie, Labordiagnostik, Biopsie. Fortschr Neurol Psychiatr 76:491–502CrossRef
Langen JJ de, van Puijenbroek EP (2006) HMG-CoA-reductase inhibitors and neuropathy: reports to the Netherlands Pharmacovigilance Centre. Neth J Med 64:334–338
Mauermann ML, Ryan ML, Moon JS et al (2007) Case of mononeuritis multiplex onset with rituximab therapy for Waldenstrom’s macroglobulinemia. J Neurol Sci 260:240–243CrossRef
Mendell JR, Kissel JT, Cornblath DR (2001) Diagnosis and management at peripheral nerve disorders. Oxford University Press, Oxford
Richardson PG, Briemberg H, Jagannath S et al (2006) Frequency, characteristics, and reversibility of peripheral neuropathy during treatment of advanced multiple myeloma with bortezomib. J Clin Oncol 24:3113–3120CrossRef
Richez C, Blanco P, Lagueny A et al (2005) Neuropathy resembling CIDP in patients receiving tumor necrosis factor-alpha blockers. Neurology 64:1468–1470CrossRef
Rucker JC, Hamilton SR, Bardenstein D et al (2006) Linezolid-associated toxic optic neuropathy. Neurology 66:595–598CrossRef
Wiethölter H (1998) Polyneuropathien. In: Brandt T, Dichgans J, Diener HC (Hrsg) Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart