Genetische Anfälligkeit
Bezüglich der Ätiologie des Urothelkarzinoms der Harnblase existiert eine genetische Komponente. Das Risiko ist höher, wenn Verwandte 1.- (HR 1,69; 95 % CI: 1,47–1,95) und 2. Grades (HR 1,35; 95 % CI: 1,2–1,5) betroffen sind, wobei insgesamt schätzungsweise 31 % der Fälle eine erbliche Komponente der Erkrankung zeigen (Lichtenstein et al.
2000; Martin et al.
2018).
Zahlreiche vererbte Loci für eine genetische Prädisposition sind bisher identifiziert worden, sowohl in sog. Candidate-gene-Studien und auch in genome-wide association studies (GWAS) (de Maturana et al.
2018). Es handelt sich dabei um Polymorphismen
, die in der Bevölkerung weit verbreitet, aber wenig penetrant sind. Obwohl die relativen Risiken gering sind, werden vermutlicherweise Variationen in der Anfälligkeit von Individuen gegenüber identischen Risikofaktoren auf diese Weise erklärt. Diese genetischen Varianten haben unterschiedliche
Prävalenzen in den verschiedenen ethnischen Gruppen, die Unterschiede in der Inzidenz des Urothelkarzinoms der Harnblase erklären.
Interessanterweise sind 3 der identifizierten Loci innerhalb von Genen, die in den Metabolismus von Karzinogenen involviert sind. Es ist bekannt, dass Karzinogene normalerweise im Körper strukturelle Veränderungen benötigen, um biologische Schäden zu induzieren. Dementsprechend kann eine Störung der Balance zwischen den verschiedenen Typen von
Enzymen im Metabolismus eine Akkumulation eines bestimmten Karzinogens zur Folge haben. Ein Beispiel hierfür sind Mutationen der Gene N-Acetyltransferase 2 (NAT-2) und Glutathion-S-Transferase Mu 1 (GSTM1), die hohe Konzentrationen von aromatischen Aminen (enthalten im Tabak) im Urogenitaltrakt entwickeln.
Raucher mit dem slow NAT-2 Genotyp haben ein erhöhtes Risiko (OR 1,4; 95 % CI: 1,2–1,7), sowie diejenigen mit null GTSM1 Genotyp (OR 1,9; 95 % CI: 1,4–2,7) (García-Closas et al.
2005). Zusätzlich identifizierte eine aktuelle Studie einen weiteren Lokus in einem anderen Karzinogen-Metabolismus-Gen (UGT1A
Chromosom 2q37.1). Weiteres „fine-mapping“ ergab das Vorliegen eines funktionellen
SNP im Gen UGT 1A6 (OR 0,55; 95 % CI: 0,44–0,69), das eine Rolle bei der Entgiftung des Urogenitaltrakts spielt und somit wahrscheinlich eine schützende Rolle bei der Entfernung von Karzinogenen aus dem Urothel übernimmt (Tang et al.
2012).
Eine weitere Studie berichtete über verschiedene Anfälligkeits-Loci in der Region 18q12.3 des Gens SLC14A
(OR 1.16; 95 % CI: 1,10–1,22). Dieses Gen kodiert für einen Harnstoff-Transporter der Niere, der wichtig für die Bestimmung des osmotischen Drucks und damit des Volumens und der Konzentration des
Urins ist. Dementsprechend spielt es auch eine Rolle im Ausmaß der Exposition des Urothels gegenüber den unterschiedlichen weiteren Karzinogenen (Garcia-Closas et al.
2011).
Zusätzliche weitere Studien sind jedoch notwendig, um die Grundlagen des Beitrags dieser Varianten zur Karzinogenese des Urothelkarzinoms der Harnblase zu verstehen (de Maturana et al.
2018). Die genannten Polymorphismen erhöhen das Risiko zu erkranken nur relativ gering (mit Ausnahme von slow NAT-2 und null GSTM1 Genotype mit einer
Odds Ratio von 1,4 bzw. 1,9). Die Erforschung von Interaktionen zwischen genetischen und Umweltfaktoren ist eine vielversprechende Strategie, um die Aussagekraft dieser genetischen Varianten zu verbessern. In einer Studie wurden Interaktionen zwischen
Tabakrauchen und 12 Urothelkarzinom-Anfälligkeits-Loci (einzeln und kombiniert) evaluiert. Das genetische Risiko wurde anhand eines Risiko-Scores berechnet. Das 30-jährige kumulative, absolute Erkrankungsrisiko bei 50-jährigen Männern war unterschiedlich je nach der Intensität des Tabakrauchens: 1,3 % bei Nichtrauchern, 3,0 % bei ehemaligen
Rauchern und 6,2 % für aktive Raucher. Nach der Einberechnung des genetischen Risiko-Scores ergab sich ein kumulatives Risiko von 9,9 % bei aktiven Rauchern (nur 2,9 % bei Nichtrauchern) nach 30 Jahren bei Männern. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass in dieser Gruppe 8200 Fälle von Urothelkarzinomen der Harnblase verhindert werden könnten, wenn 100.000 Männer das Tabakrauchen aufgeben würden (Garcia-Closas et al.
2013). Diese Ergebnisse bestätigen das Vorliegen von Interaktionen zwischen verschiedenen Variablen, die ein Ansporn für Studien mit einer Einbeziehung weiterer Bevölkerungsgruppen zusammen mit anderen Risikofaktoren ist. Die Identifizierung neuer Risikogruppen anhand gleichartiger Stratifzierungsmethoden wird sicherlich die Präventions- und Frühentdeckungsstrategien erweitern und optimieren.
Tabakrauchen
Das
Tabakrauchen ist der wichtigste Risikofaktor für ein Urothelkarzinom der Harnblase und ist verantwortlich für etwa 50 % der Fälle. Die wichtigste publizierte epidemiologische Studie ergab ein 4-fach erhöhtes Risiko (HR von 4,06; 95 % CI 3,66–4,50) für aktive Tabakraucher und 2,22 (95 % CI 2,03–2,44) für ehemalige Tabakraucher für den Zeitraum 1995–2006 in den USA), wobei keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen feststellbar waren (Freedman et al.
2011). Dies kann dadurch erklärt werden, dass die
Prävalenz des Tabakrauchens bei Frauen seit den 70er-Jahren höher ist und zusätzlich ein Rückgang bei Männern im gleichen Zeitraum zu verzeichnen war. Diese langsame Entwicklung spiegelt auch die lange Latenzzeit der Erkrankung nach Kontakt mit Risikofaktoren, in der Regel 20–40 Jahre, wider (van Osch et al.
2016).
Tabak enthält mehr als 60 krebserregende Substanzen, darunter aromatische Amine (β-Naphthylamin und 4- Aminobiphenyl) und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe. Diese Karzinogene werden durch die Nieren ausgeschieden und kommen dabei in Kontakt mit dem Urothel. Es entsteht ein DNA-Schaden mit Adduktbildung zusätzlich zu einem indirekten Schaden durch die Induktion von reaktiven Sauerstoffspezies (Stern et al.
2009). Das Risiko der Entwicklung eines Urothelkarzinoms der Harnblase erhöht sich mit zunehmender Dauer des Konsums, aber nicht unbedingt mit einer größeren Intensität. Eine geringe Intensität über einen längeren Zeitraum erscheint potenziell schädlicher (Baris et al.
2009). Derweil spielt auch die Art von Tabak eine Rolle, wobei schwarzer Tabak, typisch für Südeuropa, ein erhöhtes Risiko verglichen mit blondem Tabak zeigt. Es gibt schließlich keine schlüssigen Studien über die Rolle des passiven
Rauchens als Risikofaktor für ein Urothelkarzinom der Harnblase (van Osch et al.
2018).
Die Folgen dieses erhöhten Konsums bei einer Bevölkerung mit niedrigem Bildungstand, die zudem empfänglicher für die massiv vorhandene Tabakrauchwerbung ist, ist noch ungewiss.
Allerdings ist in den letzten Jahrzehnten das Risiko an einem Urothelkarzinom der Harnblase zu erkranken bei Tabakrauchern gestiegen. Das wird teilweise auf Veränderungen der Zusammensetzung von Zigaretten zurückgeführt. Zum einen hat die Verringerung der Anteile von Nikotin und Teer die Entstehung der Light-Zigaretten begünstigt, die mit einer erhöhten Inhalation verbunden sind. Als Hauptgrund für dieses erhöhte Risiko wird dennoch der deutliche Anstieg der Konzentration von Karzinogenen in den Zigaretten, wie z. B. β-Naphthylamin und Nytrosamin, gesehen (Baris et al.
2009; Freedman et al.
2011).
Alle erwähnten Eigenschaften von Tabak unterstreichen die entscheidende Rolle von öffentlichkeitswirksamen Anti-Tabak-Strategien bei der Verringerung der Inzidenz des Urothelkarzinoms. Dabei sollten Urologen eine Schlüsselrolle einnehmen vor dem Hintergrund, dass nur ein geringes Bewusstsein über den Zusammenhang von
Tabakrauchen und Urothelkarzinom der Harnblase in der allgemeinen Bevölkerung und auch unter betroffenen Patienten besteht (Westhoff et al.
2016; Khan et al.
2018).
Exposition am Arbeitsplatz
Bei etwa 20 % der Patienten mit einem Urothelkarzinom der Harnblase ist eine Exposition gegenüber
Karzinogenen am Arbeitsplatz als Hauptursache erkennbar. Wie bei anderen Umweltrisikofaktoren existiert auch hier eine lange Latenzzeit bis zum Auftreten der Erkrankung (30–50 Jahre). Die wichtigsten Karzinogene sind, wie beim
Rauchen, aromatische Amine (Benzidin, β-Naphthylamin und 4-Aminobiphenyl) sowie polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe. Bei zahlreichen Berufsbildern seit Ende des 19. Jahrhunderts spielte die Exposition gegenüber verschiedener Karzinogene eine Rolle. Ein hohes Risiko besteht historisch im Bergbau sowie in der Textil-, Glas-, Plastik- und Lederindustrie. Die zunehmende Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz hat in den letzten Jahrzehnten allerdings zu einer Verringerung der Risiken geführt. Zu den Berufen, die aktuell ein erhöhtes Risiko nach einer 10-jähriger Exposition zeigen, gehören unter anderem Werktätige an Druckmaschinen (OR 3.1, 95 % CI 1,1–9,5), Arbeiter in Elektrik- oder Energiebetrieben (OR 3.9, 95 % CI 1,5–10,4), Friseure (RR1.70, 95 % CI 1,01–2,88) und Maler (RR1.28, 95 % CI 1,15–1,43). Interessenterweise sind Berufe im ländlichen Umfeld, wie z. B. Landwirte und Bauern, mit einem reduzierten Entstehungsrisiko von Urothelkarzinom der Harnblase assoziiert (OR 0.8; 95 % CI 0.6–1.0; (Samanic et al.
2008; Guha et al.
2010; Harling et al.
2010).
Ernährungsgewohnheiten
Eine hohe Flüssigkeitsaufnahme wird gelegentlich als Schutzmaßnahme gegen die Entstehung eines Urothelkarzinoms der Harnblase propagiert. Vermutet wird, dass durch die so entstehende Verdünnung des
Urins und einer erhöhten Miktionsfrequenz, die Exposition des Urothels gegenüber Karzinogenen reduziert wird. Wissenschaftliche Studien haben allerdings keine einheitlichen Ergebnisse diesbezüglich gezeigt. Eine aktuelle prospektive epidemiologische Studie bei über 230.000 Individuen in Europa (EPIC) hat keine Auswirkung solcher Maßnahmen auf das Harnblasenkarzinomrisiko gezeigt (Ros et al.
2011).
Auch für Alkohol, Kaffee und andere Getränke konnte kein direkter, signifikanter Zusammenhang mit dem Auftreten eines Urothelkarzinom der Harnblase nachgewiesen werden. Hinsichtlich der Ernährungsfaktoren sind die Ergebnisse gleichermaßen inkonsistent. Zwar soll ein höherer Konsum von Obst oder Gemüse mit einem reduzierten Risiko assoziiert sein, jedoch konnten verschiedene Studien den Einfluss von Störfaktoren, wie z. B.
Rauchen und Umwelteinflüsse nicht angemessen beurteilen (Vieira et al.
2015). In einer aktuellen Studie hat sich jedoch eine mediterrane Diät
mit einem reduzierten Risiko an Urothelkarzinom der Harnblase assoziiert, was auf eine positive Wirkung der gesamten Ernährung und nicht nur einzelner Komponente hindeutet (Witlox et al.
2020). Schließlich hat die Anwendung von Mineral- oder Vitaminpräparaten bisher keinen Vorteil für eine Prävention gezeigt und wird in Leitlinien deshalb nicht empfohlen (Marik und Flemmer
2012).
Komorbidität
Eine
chronische Entzündung des Urothels nach einem chronischen Harnverhalt,
Blasensteinen, rezidivierenden Harnwegsinfekten oder einer langfristigen Dauerkatheterversorgung sind mit einem erhöhten Risiko eines Urothelkarzinoms der Harnblase assoziiert. Der Entstehungsmechanismus ist unbekannt, aber es ist wahrscheinlich, dass eine erhöhte Exposition des Urothels gegenüber verschiedenen Karzinogenen eine wichtige Rolle dabei spielt. Allerdings hat eine aktuelle systematische Übersicht kein signifikanter Zusammenhang mit Harnwegsinfekte ergeben (Bayne et al.
2018).
Die in Nordafrika endemische Bilharziose tritt nach Infektion mit Schistosoma hematobium als chronische Zystitis in Erscheinung. Sie prädisponiert für eine aggressive Form des Plattenepithelkarzinoms der Harnblase. Die Infektion mit dem Parasiten erfolgt in den betroffenen Gebieten durch den Konsum von kontaminiertem Trinkwasser.
Eine kürzlich durchgeführte
Metaanalyse ergab eine signifikante Assoziation von
Diabetes mellitus mit einem Urothelkarzinom der Harnblase, vor allem bei Männern (RR: 1.23; 95 % CI 1,12–1,35) (Xu et al.
2017). Darüber hinaus gibt es ein zusätzliches Risiko bei Patienten unter Behandlung mit Pioglitazon (Mehtälä et al.
2019).
Die Exposition gegenüber
ionisierender Strahlung im Rahmen einer
Strahlentherapie stellt ebenfalls einen Risikofaktor für ein Urothelkarzinom der Harnblase dar. Beispielsweise ist das Risiko für ein späteres Karzinom dieser Art bei Patienten, die wegen eines
Prostatakarzinoms bestrahlt werden, erhöht (HR 1.67, 95 % CI 1.55–1.80) (Wallis et al.
2016). In ähnlicher Weise ließ sich ein klarer Zusammenhang zwischen einer Umweltbelastung durch ionisierende Strahlung in bestimmten geografischen Gebieten mit einer erhöhten Inzidenz von Urothelkarzinomen der Harnblase feststellen. Die wichtigsten Informationsquellen hierzu waren Studien über die Folgen der Atombombenabwürfe in Japan im Jahr 1945 sowie die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl in der ehemaligen Sowjetunion im Jahr 1986. Nachweisbar stieg die Inzidenz von Urothelkarzinomen der Harnblase von 26,1/100.000 im Jahr 1986 auf 43,3/100.000 im Jahr 2001 (Hall
2008). Im Gegensatz zu anderen Umweltfaktoren scheint das Urothelkarzinom der Harnblase nach Bestrahlung nicht altersabhängig zu sein. Die Latenz beträgt jedoch in ähnlicher Weise mehrere Jahre (15–30).
Eine Chemotherapie kann durch ihre zytotoxischen Eigenschaften potenziell das Urothel schädigen. Cyclophosphamid, ein Alkylierungsmittel, das hauptsächlich für die Behandlung von hämatologischen Neoplasien verwendet wird, ist mit der Entstehung von Urothelkarzinomen der Harnblase assoziiert, wobei dieser Effekt dosisabhängig ist. Die gleichzeitige Verwendung von Mesna (2-Mercaptoethansulfonat-Natrium) dämpft offenbar die krebserregende Wirkung dieser Substanz und ist eine Möglichkeit, das Erkrankungsrisiko zu reduzieren.