Gruppe 1: Pathomechanismus „Hirnnerven“, reflektorisch
Bezold und Hirt konnten 1867 durch i.v.-Verabreichung des Alkaloids Veratrum viride bzw. Viscum album eine triadenartige Reaktion aus Bradykardie, Hypotension und Apnoe auslösen [
2]. Jarisch griff 1940 diese experimentellen Ansätze auf und bezeichnete diese als „vom Herzen ausgehende Kreislaufreflexe“, nachdem zwischenzeitlich viele Chemo- und Barorezeptoren praktisch überall in den Bereichen der Herzhöhlen, der großen Gefäße sowie der oberen und unteren Luftwege beschrieben worden waren [
2].
Eine überschießende Aktivierung von Chemo-, Baro- und Mechanorezeptoren unter Einbeziehung der entsprechenden
Hirnnerven (Geruch, Niesen: N. olfactorius; Schlucken: N. glossopharyngeus; Husten: N. trigeminus, N. glossopharyngeus, N. vagus; Karotissinusdruck: N. glossopharyngeus; [
2]) führt zur afferenten Signalweiterleitung zum medullären Kreislaufzentrum. Eine kompensatorische Aktivierung des N. vagus führt zu einer Bradykardie/Asystolie (kardioinhibitorische Form) und/oder eine Hemmung des N. sympathicus resultierend in einem Blutdruckabfall (vasodepressorische Form).
Gruppe 2: Pathomechanismus „Gehirnselbstschutztheorie“
Die VVS scheint nur beim Menschen vorzukommen. Folgende Gründe werden angenommen [
3]:
-
aufrechter Gang und, damit zusammenhängend, ein großes venöses Kapazitätssystem sowie
-
überproportionale Hirnmasse des Homo sapiens.
Das menschliche Gehirn repräsentiert 2 % der Körpermasse, benötigt 20 % des Herz-Zeit-Volumens (bei Giraffen <1 %), 20 % des zirkulierenden Sauerstoffs und 25 % der zur Verfügung stehenden Glucose; die
metabolische Reserve reicht für eine Dauer von 5–6 s [
4].
Aus diesen Überlegungen entwickelte sich die „Gehirnselbstschutztheorie“, mit deren Hilfe eine RS nicht als paradoxe, sondern als „physiologische“ Reaktion erklärt werden kann [
5]: Die kritische und extrem perfusionsabhängige metabolische Reserve des Gehirns führte evolutionär zu einem Selbstschutzmechanismus. Eine drohende zerebrale Minderperfusion bewirkt die zentral ausgelöste Sympathikushemmung und Parasympathikusaktivierung, mit dem Ziel, den „Patienten“ von einer aufrechten Haltung in eine
horizontale Position zu bringen und damit augenblicklich die zerebrale Perfusion zu verbessern.
Die Trigger Stehen, Wärme, Alkohol, Fieber/Krankheit sind – oft gemeinsam mit einer orthostatisch-hypovolämischen Komponente – mögliche Ursachen für eine drohende zerebrale Minderperfusion mit nachfolgender Auslösung der Gehirnselbstschutzmechanismen. Auch bei der Postmiktionssynkope dürften mehrere Mechanismen beteiligt sein.
Die Synkope unmittelbar nach körperlicher Belastung fällt pathomechanistisch in diese Gruppe und wird als „belastungsassoziierter Kollaps“ beschrieben. Während der Belastung ist der periphere Gefäßwiderstand erniedrigt; ein abrupter Stopp führt bei zumeist aufrechter Körperhaltung zum
venösen Pooling in den Beinen, der bei verzögertem Reagieren der Barorezeptoren eine orthostatische Hypotension und einen Kollaps auslösen [
6].
Hyperventilation verringert die zerebrale Durchblutung durch Vasokonstriktion; eine mögliche Synkope könnte daher mit dem Aktivieren des Gehirnschutzmechanismus erklärt werden. Allerdings führt eine forcierte Hyperventilation aufgrund des negativen intrathorakalen Drucks zur Verbesserung des peripheren-venösen Rückflusses. Synkopenähnliche Zustände durch Hyperventilation sind wahrscheinlich eher in die Gruppe Panikattacken einzuordnen und wären dann auch durch emotionale oder psychogene Trigger erklärbar (Overlap mit den Gruppen 3–4).
Gruppe 3: Pathomechanismus „Emotionen – neuroviszerales Integrationsmodell“
Ein weiterer evolutionärer Aspekt der Hirnentwicklung des Homo sapiens ist das im Vergleich zu anderen Spezies überentwickelte Großhirn. Es entfallen 80 % der Hirnmasse auf den
Neokortex, den präfrontalen Kortex inkludierend; Regionen, die allgemein als „Sitz des Denkens und der Emotionen“ bekannt sind. Die enge Verbindung zwischen Gehirn und Herz im Zusammenhang mit Emotionen wurde bereits 1867 von Bernard beschrieben. Den Erkenntnissen der Neurowissenschaften folgend wurden die äußerst komplexen Zusammenhänge in dem „neuroviszeralen Integrationsmodell“ zusammengefasst [
7].
Das „neuroviszerale Integrationsmodell“ erklärt evtl. die individuell sehr unterschiedlichen Reaktionen auf emotionale Trigger (zusammengefasst in: [
7]). Der präfrontale Kortex, das limbische System mit dem Gyrus cinguli, die Verschaltung mit den Mandelkernen, die Interaktion mit Hirnstammbereichen, die Verbindung zum Rückenmark und letztendlich die gesamte sympathische und vagale Vernetzung des Körpers führen zu komplexesten, zahlreichen Regelkreisen, die nicht mehr als einfache Feedback-Mechanismen beschrieben werden können, sondern eigentlich mit den Methoden der
Chaostheorie betrachtet werden müssen.
Existenzielle Trigger wie Angst/Furcht/Panik zählen zu den stärksten emotionalen Belastungen des Menschen. Heutzutage bleibt oft nur die „vorübergehende Flucht aus einer momentan intolerablen Situation“, wobei diese Situationen individuell durchaus unterschiedlich bedrohlich wahrgenommen werden können und auch die bloße Vorstellung einer möglichen Gefahr das synkopale Event durch Aktivierung des neuroviszeralen Systems auslösen kann.
Auch die gegenteilige Emotion Freude kann diesen Mechanismus aktivieren, allerdings ist an diesem Empfinden auch eine peripher-vaskuläre Komponente im Sinne eines Abfalls des vaskulären Widerstands beteiligt.
Schmerz, ob heftig oder nur als heftig erwartet, ist ein typischer Trigger in dieser Gruppe. Die Beteiligung des parasympathischen Nervensystems ist augenscheinlich; seine Aktivierung kann allerdings nur mithilfe des „neuroviszeralen Integrationsmodells“ erklärt werden. Bemerkenswert ist, dass diese vasovagale Reaktion zumeist bei liegenden Patienten auftritt (z. B. Ziehen von femoralen Schleusen nach arterieller oder venöser Herzkatheteruntersuchung).
Die „Spritzen‑, Nadel- und Blutphobie“ ist eine sehr häufige Ursache der VVS, in 13 % der Fälle bei Frauen und in 3 % der Fälle bei Männern [
8]. Etwa 3,5 % der US-amerikanischen Bevölkerung sind betroffen [
9]. Bemerkenswert bei Kindern und Jugendlichen ist, dass diese zumeist keine Furcht vor der Blutabnahme an sich haben; sie haben anscheinend keine panische Furcht vor dem schmerzhaften Stich durch einen spitzen Gegenstand, und sie fürchten sich auch nicht primär vor dem Anblick von Blut. Bei den Betroffenen kommt es im Augenblick der Blutentnahme – auch wenn diese von ihnen nicht direkt beobachtet wird – zur VVS. Hier ist das Erklärungsmodell der
„paläolithischen Bedrohungstheorie“ hilfreich. Personen, die beim Anblick spitzer Gegenstände oder Blut synkopierten, hatten einen evolutionären Selektionsvorteil [
10]. Psychotherapeutische Ansätze zielen auf Situationskontrolle ähnlich wie bei Angststörungen ab [
11].
Erwähnenswert ist eine Assoziation der Blutphobie mit Schlafsynkopen. Von den Patienten mit Schlafsynkopen haben 60 % auch eine Blutphobie. Schlafsynkopen sind Ereignisse, die in der Kindheit beginnen können, hauptsächlich jedoch im mittleren Erwachsenenalter und hier zumeist bei Frauen auftreten. Aus dem Schlaf heraus, zumeist in horizontaler Position treten Symptome von Vasodilatation (Schwitzen, Hitzegefühl, Palpitationen) und
extremer Vagotonie (Übelkeit, Bauchschmerzen, dringender Harn- oder Stuhldrang) auf, gefolgt von dem synkopalen Ereignis. Träume sind zumeist nicht erinnerlich [
12].
Auch wenn die Mechanismen der Schlafsynkope noch nicht gänzlich verstanden werden, sind sowohl die „Blutphobie“ als auch die Schlafsynkope eindrucksvolle Beispiele von massiven vasovagalen Symptomen ohne Baroreflexbeteiligung, die letztlich nur annähernd durch das „neuroviszerale Integrationsmodell“ eingeordnet werden können.
Gruppe 4: Pathomechanismus „psychogen“
Die psychogene Pseudosynkope stellt definitionsgemäß eigentlich keine Synkope dar. Es treten keine vasovagalen Herzfrequenz(HF)- oder Blutdruckänderungen auf. Das Bewusstsein kann zwar eingeschränkt sein, im Gegensatz zum Bewusstseinsverlust bei Synkope oder bei komplex partiellen oder generalisierten epileptischen Anfällen sind
iktale Erlebnisse den Patienten oft erinnerlich [
13]. Die psychogene Pseudosynkope gehört in die Gruppe der psychogenen nichtepileptischen Anfälle und ist im Kindes- und Jugendalter eine wichtige sowie schwierige Differenzialdiagnose für den Pädiater.
Die oben genannten Pathomechanismen sind ebenfalls bei Synkopen von Säuglingen/Kleinkindern anwendbar; zum besseren Verständnis werden die synkopalen Ereignisse in dieser Altersgruppe im Folgenden detailliert beschrieben.
Pathophysiologische Besonderheiten beim Säugling
Diese können bei Säuglingen (und auch Kleinkindern) entweder als zyanotische oder blasse „breath-holding spells“ auftreten. Es handelt sich um nichtepileptische anfallsartige Ereignisse mit Bewusstseins- und Tonusverlust, die bei 0,1–4,6 % der gesunden Säuglinge auftreten und zumeist zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat beginnen [
14].
Bei den als „zyanotische Anfälle“ bezeichneten Zuständen kommt es – zumeist affektgetriggert (Gruppe 3) reflektorisch zu einer unfreiwilligen exspiratorischen Apnoe, sekundär gefolgt von kardialen Reaktionen. Der Terminus „breath-holding“ ist zumindest in der deutschen Übersetzung „Atem anhalten“ irreführend, zumal es sich um eine Apnoe handelt und diese Apnoe nicht willentlich herbeigeführt werden kann.
Der klinische Ablauf ist diagnostisch beweisend: Ein Stimulus (taktiler Reiz, Schmerz, Angst, Frustration; Gruppe 3) löst eine übersteigerte affektive (emotionalen) Reaktion aus, die vom Säugling selbst nicht kontrolliert werden kann. Die zyanotische Variante beginnt mit einer Apnoe, gefolgt von sekundären zirkulatorischen Veränderungen.
Bei den „blassen“ Zustände hat die Atmung keinen Anteil am pathophysiologischen Geschehen, sie stellt eine primär kardioinhibitorische Reaktion dar, diese Zustände sollten daher als kardioinhibitorische VVS des Säuglings bezeichnet werden [
15]. Hier sind als Trigger Angst/Furcht/Panik (Gruppe 3), aber auch Niesen/Schlucken/Husten (Gruppe 1) sowie Wärme und Fieber (Gruppe 2) möglich.
Nachdem bei ein und demselben Säugling/Kleinkind sowohl blasse als auch zyanotische Episoden vorkommen können, wird eine Dysfunktion des autonomen Nervensystems und/oder eine mangelnde kortikale Impulskontrolle angenommen [
16]. Möglicherweise drückt sich diese autonome Dysfunktion auch in einer sehr ausgeprägten
respiratorischen Sinusarrhythmie bei Säuglingen mit gehäuften Attacken aus [
17].
Die meisten dieser Patienten benötigen keine spezifische Therapie. Sehr selten ist bei einer ausgeprägten klinischen Symptomatik (häufige Episoden v. a. vom blassen Typ assoziiert mit Myoklonien, tonisch-klonischen Ereignissen oder Status epilepticus) und dokumentierter deutlicher Bradykardie oder protrahierter Asystolie eine
Schrittmachertherapie nötig [
18].