Hintergrund und Fragestellung
In Anbetracht der Tatsache, dass bis zu der Hälfte aller schwerwiegenden Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen potenziell vermeidbar wären [
11], liegt es in unser aller Interesse, sicherzustellen, dass Chirurg*innen im Rahmen der Facharztweiterbildung tatsächlich zu kompetenten Fachleuten mit technischen und nichttechnischen Fähigkeiten ausgebildet werden [
1]. Bei der bisherigen chirurgischen Ausbildung besteht die Annahme, dass der Kontakt mit Patienten und die Erfahrung über einen bestimmten Zeitraum ausreichen, um die Ausbildung kompetenter Chirurgen*innen zu gewährleisten [
13,
16]. Der Schwerpunkt liegt auf dem Zeitaufwand und der Anzahl der durchgeführten Eingriffe [
12,
15].
Der 80. Bayerische Ärztetag hat im Oktober 2021 der Neuformulierung der Weiterbildungsordnung (WBO) zugestimmt [
4]. Diese geht auf den Beschluss der Muster-WBO auf dem Deutschen Ärztetag 2018 in Erfurt zurück. Dem waren 6 Jahre Gremienarbeit auf Bundesebene unter Beteiligung von Fachgesellschaften und Berufsverbänden vorausgegangen mit dem Ziel, die WBO zu einer kompetenzbasierten Weiterbildung zu entwickeln [
4]. Die chirurgische Ausbildung hat sich weg von der Zählung der Verfahren („wie viele haben Sie operiert?“) zur Bewertung der Kompetenz („was können Sie selbständig tun und wie gut?“) entwickelt [
16]. Diese Denkweise wird als kompetenzbasiertes Modell bezeichnet [
16]. Dies wird bereits in zahlreiche Ländern für die Weiterbildung eingesetzt [
10]. In Tab.
1 sind die Handlungskompetenzen dargestellt sowie die Richtzahlen im Vergleich zur WBO von 2004 aufgeschlüsselt. Für die kognitiven und Kenntniskompetenzen verweisen wir auf die Onlinefassung. Obwohl die Gesamtzahl der Eingriffe mit 400 etwa der abzulösenden Weiterbildungsordnung entspricht, wird nun eine genauere Subspezifizierung der Eingriffe verlangt ([
3]; Tab.
1).
Tab. 1
Vergleich spezifischer Inhalte der alten WBO von 2004 und neuen WBO zum FA/FÄ Viszeralchirurgie mit Schwerpunkt auf Handlungs- und Methodenkompetenz. (Adaptiert nach der neuen WBO [
3] S. 81–85. Die erforderlichen kognitiven und Kenntniskompetenzen sowie die Gesamtfassung sind ebenfalls hierunter nachzulesen)
Diagnostische Verfahren |
– | – | Ösophagoduodenoskopien | 50 |
– | – | Koloskopie | 50 |
Durchführung und Befundung von Rekto‑/Sigmoidoskopien | 50 | Rektosigmoidoskopie | 50 |
– | – | Proktoskopie | 50 |
Notfall und Intensivmedizin | – | – | – |
Punktionen und Legen von Drainagen | 10 | – | k. A. |
Zentralvenöse Zugänge | 25 | – | 20 |
Thoraxdrainage | 10 | – | k. A. |
Infusion/Transfusion/Ernährung/Sondentechnik | 50 | – | k. A. |
Eingriffe an der Bauch- und Bauchwand |
An Bauchwand und Bauchhöhle einschließlich Resektionen, Übernähungen, Exstirpationen, endoskopischer und interventioneller Techniken, z. B. Lymphknotenexstirpationen, Entfernung von Weichteilgeschwülsten, explorative Laparotomie, Magen‑, Dünndarm- und Dickdarmresektionen, Notversorgung von Leber- und Milzverletzungen, Appendektomie, Anus-praeter-Anlage, Hämorrhoidektomie, periproktitische Abszessspaltung, Fistel- und Fissurversorgung, davon | 400 | – | Ca. 400 |
– | – | Explorative Laparotomie/-skopie | 30 |
– | – | Laparotomien und deren Verschluss | 50 |
– | – | Laparoskopien | 50 |
– | – | Explorative Laparotomie/-skopie | 30 |
Appendektomien | 20 | – | 20 |
Cholezystektomien | 25 | – | 35 |
– | – | Magenteilresektion | 3 |
Adhäsiolysen | 10 | Komplexe Adhäsiolysen | 10 |
Dünndarmresektionen | 10 | – | 10 |
Dickdarmresektionen | 10 | Eingriffe am Kolon | 30 |
– | – | Stoma: Anlage und Rückverlagerung | 10 |
Proktologische Operationen | 20 | Endarmoperation | 10 |
– | – | Hämorrhoidenoperation einschließlich Therapie einer Fissur | 20 |
Herniotomien | 25 | Operative Therapie von Hernien, auch minimal-invasiv, davon: | – |
– | – | Leistenhernie | 40 |
– | – | Bauchwandhernie | 10 |
– | – | Narbenhernie | 10 |
Schilddrüse/Halseingriffe |
Operative Eingriffe an Kopf/Hals, z. B. Schilddrüsenresektionen, Tracheotomien | 25 | Zervikale Eingriffe z. B. Tracheotomie, Lymphknotenprobeexzision | k. A. |
– | – | Eingriffe an der Schilddrüse, davon | 25 |
– | – | Schilddrüsenresektionen | 20 |
Da die neue Weiterbildungsordnung in Bayern im August 2022 in Kraft tritt, führten wir zusammen mit der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft Junge Chirurgie (CAJC) der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) eine Befragung unter den bayerischen Chirurginnen und Chirurgen sowie den Ärzt*innen in Weiterbildung (ÄiW) im Fach Allgemein- und Viszeralchirurgie zu den zu erwartenden Effekten auf die chirurgische Weiterbildung durch. Zudem sollte untersucht werden, ob sich die Erwartungen der „Jungen Chirurgie“ von denen der „Ausbilder*innen“ unterscheiden.
Diskussion
Unsere Umfrage ergab, dass sowohl unter den Weiterbilder*innen, als auch unter den ÄiW überwiegend die Sorge besteht, dass eine realistische Ausbildung insbesondere das Erreichen der stärker spezifizierten Richtzahlen in der bisher üblichen Weiterbildungszeit nicht mehr möglich ist. Der Einsatz von Überstunden wird von fast 75 % der befragten Weiterbildungsassistent*innen und Ausbilder*innen als notwendig für eine gute Weiterbildung erachtet.
Die Sicherheit der Patient*innen und die Qualität der Versorgung sowie wirtschaftliche Erfordernisse sind ins Zentrum des Interesses von Leistungserbringern, Interessengruppen und der Öffentlichkeit gerückt [
16]. Auch die Arbeitszeitregelungen durch das europäische Arbeitszeitgesetz haben die Weiterbildungsprogramme beeinflusst [
6]. Es ist zudem davon auszugehen, dass insbesondere technisch anspruchsvolle chirurgische Eingriffe im Ausbildungskatalog im klinischen Alltag immer schwieriger umsetzbar werden [
6]. Das übergeordnete Ziel ist es, eine Ausbildung zu erhalten, die den Chirurginnen und Chirurgen Kenntnisse und Fähigkeiten für ihre künftigen Tätigkeitsbereiche vermittelt [
16]. Diese geforderten Fähigkeiten in einem vereinheitlichten Programm für alle chirurgisch Tätigen zu erreichen ist schwierig, da sich hier mitunter auch interindividuelle Unterschiede der ÄiW ergeben können. In der chirurgischen Ausbildung ist daher zu Recht ein Übergang von der Zahl der Verfahren zur kompetenzbasierten Ausbildung erforderlich. Diese unterlag bisher jedoch keiner Qualitätskontrolle, die fortschreitende Einführung des kontinuierlich geführten eLogbuchs [
7] bieten sich hier Chancen für die Zukunft.
Eine abgestufte Übertragung von Verantwortung und Selbständigkeit sollte logischen und schrittweisen Pfaden folgen, um die entsprechende Kompetenz zu erreichen, wie beispielsweise dem Teilschrittkonzept [
2,
17]. Eine aktuelle multizentrische Umfrage untersuchte die Durchführung des Teilschrittkonzepts in 21 operativen Zentren [
17]: Die Zahl der Weiterbildungseingriffe und Teilschritte der ÄiW wurde über- und die Zahl der tatsächlich durchgeführten Teilschritte unterschätzt. Die Daten der Befragung deuteten auf eine geringe Beteiligung von ÄiW im Operationssaal hin, dem Teilschrittkonzept wurde jedoch eine hohe Bedeutung für die chirurgische Ausbildung zugestanden [
17].
Durch Mindestmengen und Zertifizierungen könnte es überdies zu einer weiteren Verknappung bestimmter Operationen als Ausbildungseingriffe kommen. Durch eine zunehmende Spezialisierung kommt es zu einer Akkumulation bestimmter Eingriffe, sodass eine vollumfängliche Weiterbildung gegebenenfalls in einem regionalen Netzwerk an Kliniken verschiedener Versorgungsstufen ermöglicht werden kann. Dies unterstreicht die Erfordernis konzeptioneller Änderungen und einer Kontrolle der chirurgischen Ausbildung [
17]. Eine weitere Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, wäre es, Eingriffe zu simulieren, um die erworbenen Fähigkeiten im operativen Setting gezielter umsetzen zu können. Das Simulationstraining bietet die Möglichkeit, ein breites Spektrum an Eingriffen und Verfahren zu üben [
6]. Eine ebenfalls kürzlich veröffentlichte deutschlandweit durchgeführte Umfrage ergab, dass überhaupt nur 35 % der deutschen Kliniken über Simulatoren verfügen, wobei hochwertige Simulatoren an Universitätskliniken am häufigsten vertreten waren [
6].
Eine gute, strukturierte Weiterbildung führt auch zu größerer Zufriedenheit der ÄiW [
8]. Eine groß angelegte Umfrage unter 729 ÄiW bereits aus dem Jahr 2010 konnte die wichtigsten Punkte berechnen, welche Verbesserungspotenziale für Arbeitsplatzzufriedenheit und -bindung der ÄiW darstellen: 1. Strukturierung der Weiterbildung, 2. Prozessoptimierung im Alltagsgeschäft, 3. Verfestigung sozialer Netzwerke, 4. Feedbacksysteme, 5. Abwechslung und Verantwortungsübernahme im Alltag [
8]. Ein von der CAJC erarbeitetes Modell für eine „lebenswerte Chirurgie“ zur Gewinnung und Halten des chirurgischen Nachwuchses ist dem ganz ähnlich [
14]: Es zeichnet sich durch die Verzahnung von Vereinbarkeit von Familie und Beruf/Work-Live-Balance, einer besseren Planung des Klinikalltags, einer positiven Feedbackkultur sowie neuen Arbeits(zeit)modellen, mehr Zeit für Lehre und Forschung mit dem oben genannten Teilschrittkonzept in Verbindung mit einem festen Weiterbildungskurrikulum, der Führung eines Logbuches, regelmäßigen Weiterbildungsgesprächen, interklinischen Übungsmöglichkeiten und der Freistellung für Weiterbildungsmaßnahmen aus [
14]. Darüber hinaus gilt es, delegierbare ärztliche Tätigkeiten auch an entsprechend geschultes und vorgehaltenes Personal tatsächlich zu übertragen, um die Weiterbildungszeit sinnvoll für operative und klinische Tätigkeiten zu nutzen [
5].
Über die signifikant unterschiedlichen Angaben bezüglich des Vorhandenseins einer strukturierten Weiterbildung zwischen „Junger Chirurgie“, die überwiegend an Universitätsklinika beschäftigt ist, und den „Weiterbilder*innen“, die überwiegend an Häusern der Regel- und Maximalversorgung beschäftigt sind, kann nur spekuliert werden. Dies könnte einerseits durch unterschiedliche Perspektiven erklärt werden, was genau als strukturierte Weiterbildung verstanden wird. Andererseits könnte dieses Konzept in anderen Versorgungsstufen bereits vermehrt umgesetzt werden, um den Standort attraktiver zu machen.
Der hohe Anteil der an in dieser Studie teilnehmenden Chefärzte, die in den Abteilungen häufig die Weiterbildungsbefugnis haben, unterstreicht die Bedeutung dieses Themas. Dass die strukturierte pädagogische Ausbildung als Kernaufgabe für Chirurginnen und Chirurgen dringend erforderlich ist, zeigen die zahlreichen „Train-the-Trainer“-Initiativen [
9]. Für die Weiterbilder*innen ist es überdies wichtig, dass die Weiterbildungsbefugnis für die neue Weiterbildungsordnung zeitnah beantragt werden muss.
Limitationen
Die Onlineumfrage erreichte eine Rücklaufquote von ca. 35 % der versendeten E‑Mail-Einladungen, wobei diese vermutlich in Realität deutlich niedriger angesiedelt ist, da die genaue Anzahl an Weiterverbreitungen durch E‑Mail-Weiterleitungen unklar ist. Weiterhin wurden nur Kolleginnen und Kollegen angeschrieben, bei denen E‑Mail-Adressen zumindest der Sekretariate oder direkt über die Klinikwebsite verfügbar waren. Dies war bei Universitätskliniken häufiger der Fall, was zu einer Unterrepräsentierung der Grund- und Regelversorger führen könnte.
Da die Weiterbildung Sache der Länder ist, wurde diese Umfrage nur unter bayerischen Chirurg*innen sowie ÄiW durchgeführt. Die Anzahl der Weiterbildungsassistenten wird nach wie vor nicht von der Ärztekammer erfasst. Auch hier bietet das eLogbuch eine gute Möglichkeit zu mehr Transparenz [
7]. Mit im vergangenen Jahr immerhin 47 neuen Fachärzt*innen für Viszeralchirurgie kann man, einen gewissen Verlust von Abbrüchen eingerechnet, auf ca. 300 ÄiW in Bayern im Fach Allgemein- und Viszeralchirurgie schließen. Somit ergibt sich trotzdem noch eine ca. 12 %ige Teilnahmerate bei den ÄiW und knapp 15 %ige Teilnahmequote der angeschriebenen Chefärzte. Mit 80 Teilnehmern kann diese Umfrage als repräsentativ für die Zielgruppe in Bayern gelten. Die Musterweiterbildungsordnung wurde in den meisten Landesärztekammern weitestgehend übernommen [
18], sodass die erwarteten Effekte auch auf andere Bundesländer übertragbar sein sollten.
Insgesamt ist diese Meinungsumfrage eher abstrakt, da zunächst die Information durch Vergleichen geänderter Richtzahlen eingeholt werden musste. Dies könnte möglicherweise abgeschreckt und zu einer eher geringen realen Rücklaufquote geführt haben. Eine doppelte Beantwortung der Umfrage war theoretisch möglich. Es wurden keine Fragen zur kognitiven und Methodenkompetenz gestellt, obwohl diese ebenfalls neu eingeführt wurden, da in der neuen WBO hierzu weitere Ausführungen fehlen. Antwortverzerrungen sind als eher gering einzuschätzen, da der Großteil der Fragen zur Einschätzung der Auswirkungen der Effekte der neuen WBO in skalierter Form gestellt wurde.
Zusammengefasst besteht aus Sicht der Autoren die Möglichkeit einer Einforderung konkreterer Zahlen im Sinne einer besseren Ausbildung durch erhöhte Transparenz (Stichwort: eLogbuch), was bei konsequenter Umsetzung mit einer höheren operativen Handlungskompetenz einhergehen könnte. Andererseits besteht jedoch die begründete Gefahr einer möglichen Verlängerung der Weiterbildungszeit durch logistische Probleme bei einzelnen Anforderungen wie etwa der endoskopischen Untersuchungen. Diese können in manchen Kliniken vermutlich nur durch in- oder externe Rotation in eine Endoskopieeinheit oder -klinik ermöglicht werden, womit diese spezifischen Eingriffe zum Nadelöhr werden könnten. Leider bleibt die Art des Erwerbs der sog. kognitiven und Kenntniskompetenzen offen; hier erfolgen keine Ausführungen zu Fortbildungen, Kursen oder implementiertem Simulationstraining.
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