Das folgende Fallbeispiel kann illustrieren, wie unbewusste Emotionen in die Stunde kommen, wie ihr weiteres Schicksal in der Stunde ist, wann Stagnation oder Transformation entsteht, und wie mit Prozessdeutungen gearbeitet werden kann.
Herr M., 39 Jahre, ist, was bei ihm noch nie vorkam, eine halbe Stunde zu früh und ist vor mir in der Wartezone der Praxis, und ich sage zu Stundenbeginn beiläufig, dann hätte ihm wohl jemand die Tür geöffnet. Er daraufhin: Er sei mit einer Kollegin von mir zusammen hereingekommen, nein [lachend], er sei nicht eingebrochen.
Das Wort eingebrochen schien mir leicht hervorgehoben, markiert, wie wenn ihm eine besondere Bedeutung zukäme, die ich allerdings noch nicht kannte.
Am Stundenbeginn also ein markiertes Wort und eine spontan entstandene bedeutungsvolle Szene. War in dieser Szene möglicherweise ein Thema enthalten, vielleicht: äußerlich eine Grenze überschreiten, innerlich einbrechen?
Dann die erste Erzählung: Er habe ein Buch gelesen, in dem für ihn sehr einleuchtend beschrieben worden sei, wie Menschen Energie verlieren, indem sie in unabgeschlossenen Aufgaben verhaftet seien; der Autor des Buchs nenne das Ringe. Das beschreibe irgendwie seine eigene Situation ziemlich gut.
Ich hatte beim Hören allerdings den Eindruck, diese Geschichte erzähle nicht nur die Wahrnehmung eines Problems, sondern enthalte auch etwas Positives, ein keimendes Gefühl von Befreiung: sich lösen, etwas beenden. Dieser Gedanke, auch wenn er unausgesprochen blieb, war eine Wahrnehmung auf Prozessebene: Es ist Problematisches präsent, aber auch Progressives.
Zweite Erzählung: In der Firma, die er leitet, so fuhr er fort, sei bislang alle Verantwortung für praktische Aufgaben nur in seiner Hand gelegen, und ständig habe er an den Versäumnissen der Mitarbeiter zu leiden. Das sei er gerade dabei zu ändern, er werde diese Aufgaben delegieren. Eine entschlossene Energie, eine Art Befreiungszorn, war auch hier deutlich spürbar, nicht nur ein Problem. Der Zusammenhang mit der Geschichte über die Ringe war plausibel, ihm und mir: genug des ewigen Sich-verantwortlich-Fühlens, es war Zeit, etwas daran zu ändern.
Die Gefühlskontur, der Vitalitätseffekt, mit der diese Energie, dieser Befreiungszorn, in die Stunde gekommen war, hatte nicht das Überwältigende eines traumatischen Ereignisses, sondern fühlte sich gut an, gleichsam wie ein Muskel, der sich spannt und wieder löst, eine Kraft, mit der er umzugehen weiß und die ihm hilft. Auch diese Wahrnehmung betraf die Prozessebene; es war ein Prozessgedanke, der ebenfalls noch unausgesprochen blieb.
Dritte Erzählung: Nun fiel ihm eine Verwandte ein, mit der eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln war. Sie habe zugesagt, sich zu kümmern, kümmere sich jedoch nicht, sondern versuche, ihn mit Hinhalten und Verzögern zu übervorteilen. Auch hier war wieder ein zorniger Befreiungswille spürbar. Eine alte Hemmung in ihm, so mein Eindruck, hatte bislang die Verwandte in Schutz genommen, dagegen entstand jetzt ein energisches Bedürfnis nach Selbstbehauptung. Er werde sich nicht übervorteilen lassen und er werde diese Sache zum Abschluss bringen.
In Bezug auf emotionale Regulationsprozesse war in dieser Aneinanderreihung von Gegenwartsmomenten zwar ein jetzt sehr deutlicher Belastungsanstieg zu bemerken, aber noch keine Überflutung, und es war nicht nur emotional Negatives, sondern sehr deutlich auch emotional Positives, Progressives spürbar.
Bis dahin hatte ich aufmerksam hingehört, schon einiges gedacht, gesprochen noch wenig.
Wieder fast übergangslos die nächste Erzählung: Er habe ein Gespräch gehabt, mit einer Bekannten, die sehr an ihm interessiert sei. Nach einiger Zeit des Gesprächs mit dieser Frau habe er bemerkt, wie alle Energiespeicher in ihm aufgebraucht waren; ein Gefühl wie ein Nebel habe sich ausgebreitet. Er habe, bildlich gesprochen, auf Reserveenergie umschalten müssen, er habe sich von ihr gerade noch halbwegs unauffällig verabschieden können, sei aber in einem Zustand gewesen, den er kaum beschreiben könne: wie wenn er seinen eigenen Namen nicht mehr wüsste. Sich hinlegen sei das Einzige, was ihm zu Hause langsam wieder zu einem Gefühl für sich selbst verholfen habe.
In mir tauchten Bilder auf, von einem Kind, was alles zu tun versucht, damit es der Mutter besser geht und sich dabei selbst verliert. Erst später habe ich hierzu reale Ereignisse erfahren, die er vergessen hatte, die aber anscheinend dennoch in die Alltagserzählung eingewoben waren.
Im Erzählen werde ihm klar, so fuhr er fort, dass es in dem Gespräch mit jener Frau einen Punkt gegeben hatte, an dem irgendetwas genug war und gleich darauf zu viel, er habe dann die Verbindung zu sich selbst verloren und sei eher neben als in sich gewesen. Dann sehr ernst: Dieser Zustand sei nach seinem Gefühl der innerste Kern seines Leidens, unerträglich quälend.
Diese letzten Worte sprach er langsamer, deutlich artikuliert, sie waren gleichsam unterstrichen, sie markierten den Punkt, auf den die Kette der Erzählungen zugeflossen war. Hatte er mir gerade, so überlegte ich, von seiner Angst erzählt, auch im Gespräch mit mir in solche Zustände zu geraten, war also auch Übertragung ein Medium, in dem er sich mir gerade mitteilte?
Seine Erzählung war offenbar an einem vorläufigen Endpunkt angekommen.
Ich war berührt davon, wie diese Geschichte vom Verlust seiner Selbst über eine Kette von Gegenwartsmomenten in die Stunde gekommen war, und habe zunächst einige Gedanken über diese Erzählkette ausgedrückt: Auf den ersten Blick erschienen die verschiedenen Geschichten vielleicht als getrennte Ereignisse, ich hielte es aber für wahrscheinlicher, dass diese Geschichten einen inneren Zusammenhang hätten, ein von einer Geschichte zur nächsten fortschreitendes Thema. Methodisch war dies eine Prozessdeutung, mit der die Sukzession der Einfälle beschrieben worden war. Er folgte diesem Gedankengang sehr aufmerksam, ich vermute, weil er selbst in seinen Erzählungen ebenfalls eine Art gemeinsamen Grundton wahrgenommen hatte, der sich mitteilen wollte. Es war offenbar, dass er wissen wollte, was dieser Grundton sein könnte, was ich gehört hatte. Also habe ich auch hierzu einige Gedanken, Eindrücke, geäußert, ungefähr so: „Unaufgelöste, unauflösbare Verantwortlichkeiten haben lange Zeit die Energie genommen, jetzt entsteht nach meiner Wahrnehmung ein energischer, kreativer Befreiungswille, sehr notwendig und sehr gut. In der Geschichte von der Bekannten scheint mir sehr deutlich: Im Sich-verantwortlich-Fühlen für die Erwartungen dieser Frau wurde eine innere Grenze überschritten und dadurch der Kontakt zum eigenen Selbst brüchig.“ Dies waren resonante Deutungen über emotionale Botschaften, die bei mir angekommen waren, Prozessdeutungen über die Vorgänge der Mitteilung und Inhaltsdeutungen über Mitgeteiltes.
Was mich beeindrucke, so fügte ich hinzu, sei die Klarheit, mit der all das aus den Geschichten hervortrete, auch die Klarheit der Bilder und der Sprache für dieses schwer Fassbare. Dieser letzte Teil meiner Überlegungen beschrieb einen in der Erzählkette enthaltenen Mentalisierungsprozess und zwar die Fähigkeit, Bilder zu finden, zu versprachlichen und sich so mitzuteilen. Diese letzte Äußerung hatte also wiederum den Charakter einer Prozessdeutung. Sie beschrieb seine Fähigkeiten zur Symbolisierung in der Gegenwart der Stunde.