Erschienen in:
01.10.2022 | Originalien
„Impossible to be part of this system any longer“: die Vertreibung von Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern aus Frankfurt am Main (1933–1939)
verfasst von:
Michael Martin, Axel Karenberg, Prof. Dr. med. Heiner Fangerau
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Sonderheft 1/2022
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Zusammenfassung
Die Situation der Nervenheilkunde in Frankfurt war in den 1920er-Jahren gekennzeichnet durch Konkurrenzverhältnisse von zwei Institutionen (Edinger-Institut und Nervenklinik), zwei Teildisziplinen (Neurologie und Psychiatrie) sowie zwei Arztpersönlichkeiten: Kurt Goldstein (1878–1965) und Karl Kleist (1879–1960). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verzeichnete die Mainmetropole die höchste Zahl entlassener Hochschullehrer bzw. Hochschulangehöriger im Deutschen Reich, an der Universität verloren allein die Neurologie und Psychiatrie etwa 50 % ihres Personals. Zu den aus rassistischen Gründen Verfolgten gehörte Leo Alexander (1905–1985), der vor 1933 erbbiologische Studien betrieb, nach dem Zweiten Weltkrieg im Auftrag der Alliierten die „Alexander Reports“ anfertigte und für die Anklage am Nürnberger Ärzteprozess teilnahm. Sein Kollege Walther Riese (1890–1976) floh über Frankreich ebenfalls in die USA und widmete sich dort historischen und ethischen Grundlagen der Neurologie. Als erste Frau spezialisierte sich Alice Rosenstein (1898–1991) in der Neuroradiologie und Neurochirurgie. Anders als ihre ebenfalls 1933 entlassenen männlichen Kollegen wandte sie sich nach ihrer Ankunft in Nordamerika der Psychiatrie zu und setzte sich früh für die Rechte Homosexueller ein. Ernst (1905–1965) und Berta (1906–1995) Scharrer schließlich verließen Deutschland allein aufgrund des politischen Klimas und wurden jenseits des Atlantiks zu Mitbegründern der Neuroendokrinologie bzw. Neuroimmunologie.