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Erschienen in: Prävention und Gesundheitsförderung 4/2023

05.12.2022 | Intelligenzminderung | Originalarbeit

Vorstellungen vom Altsein bei Menschen mit geistiger Behinderung – Ergebnisse einer qualitativen Public-Health-Studie

verfasst von: Dr. med. Lotte Habermann-Horstmeier, Larissa Breinlinger

Erschienen in: Prävention und Gesundheitsförderung | Ausgabe 4/2023

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Zusammenfassung

Hintergrund

Obwohl die Zahl der alten Menschen mit geistiger Behinderung (MmgB) in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen ist, gibt es in Deutschland noch viel zu wenige, speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Wohn- und Betreuungsangebote. Zudem ist unklar, wie MmgB sich ihr eigenes Alter vorstellen, und ob sie überhaupt dazu in der Lage sind, sich in das eigene Altsein hineinzuversetzen.

Methode

Die Grundlage dieser qualitativen Studie bilden leitfadengestützte Interviews mit 16 erwachsenen MmgB (10 Frauen, 6 Männer; Alter: 24 bis 59 Jahre; sprachliche Fähigkeiten: sehr gut bis mittel; Grad der geistigen Behinderung [GgB]: sehr leicht bis mittel; sozioemotionaler Entwicklungsgrad [SEO-Grad]: SEO 4 bis ≥ SEO 5). Die Interviews wurden einer strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring unterzogen (induktives Vorgehen).

Ergebnisse

Bei den Proband:innen hatten der GgB, der SEO-Grad und die sprachlichen Fähigkeiten deutlichen Einfluss auf ihre Fähigkeiten, sich in ein zukünftiges Selbst hineinzuversetzen. Wie Menschen ohne Behinderung möchten jedoch fast alle – unabhängig vom GgB – auch im Alter dort wohnen bleiben, wo sie derzeit wohnen, mit ihren engsten Verwandten und Freunden zusammen sein und von den Personen betreut werden, die sie jetzt betreuen. Anders als Menschen ohne Behinderung reagierten fast alle recht gelassen bei der Vorstellung, im Alter aufgrund zusätzlicher Erkrankungen weitere Hilfen zu benötigen.

Schlussfolgerungen

Bei der Planung von Wohn- und Betreuungsangeboten sollen in Zukunft vermehrt die Bedürfnisse der MmgB mit einbezogen werden. Hierbei ist jedoch der Grad der intellektuellen, sozioemotionalen und sprachlichen Einschränkungen zu berücksichtigen. Dies wird u. a. auch eine größere Flexibilität hinsichtlich der Planung und Bereitstellung entsprechender Wohnmöglichkeiten und Hilfen erfordern.
Fußnoten
1
Im folgenden Text mit I. abgekürzt.
 
2
Eine Person wies darauf hin, dass es Brillen mit Lesefeld gebe.
 
3
TENE: Tagesstätte für Erwachsene nach dem Erwerbsleben.
 
4
Nach dem SEO-Konzept entspricht SEO 4 in sozioemotionaler Hinsicht einem Referenzalter von 3 bis 6/7 Jahre, SEO 5 einem Referenzalter von 6/7 bis 12 Jahre [8, 13, 27].
 
5
Nur eine Probandin mit geringen Einschränkungen kannte die Bedeutung des Begriffs ‚Hospiz‘. Andere hatten ihn schon einmal gehört, konnten aber nicht genau sagen, was damit gemeint ist.
 
6
Personen mit frühen Stresserfahrungen, wie sie bei MmgB sehr häufig vorkommen, weisen oft strukturelle und funktionelle Gehirnveränderungen auf. Typisch ist z. B. eine Volumenreduktion im lateralen und medialen präfrontalen Kortex, der eine wichtige Rolle bei kognitiven und emotionalen Kontrollfunktionen spielt [20].
 
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Metadaten
Titel
Vorstellungen vom Altsein bei Menschen mit geistiger Behinderung – Ergebnisse einer qualitativen Public-Health-Studie
verfasst von
Dr. med. Lotte Habermann-Horstmeier
Larissa Breinlinger
Publikationsdatum
05.12.2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Prävention und Gesundheitsförderung / Ausgabe 4/2023
Print ISSN: 1861-6755
Elektronische ISSN: 1861-6763
DOI
https://doi.org/10.1007/s11553-022-01000-9

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