Erschienen in:
01.02.2020 | Leitthema
Neurologen und Neurowissenschaftler: Wer war ein Nazi? Zum Umgang mit der NS-Belastung in der Geschichte der deutschen Medizin
verfasst von:
Prof. Dr. med. Heiner Fangerau, Michael Martin, Axel Karenberg
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Sonderheft 1/2020
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Zusammenfassung
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat die mögliche NS-Belastung einiger ihrer führenden früheren Mitglieder untersuchen lassen. Der Personenkreis sollte ehemalige (Ehren‑)Vorsitzende und Ehrenmitglieder der DGN (bzw. ihrer Vorläuferorganisationen) oder Namensgeber für von der Gesellschaft vergebene Preise umfassen. Als Einleitung zu den nachfolgenden Biographien in dieser Ausgabe von Der Nervenarzt erläutert der vorliegende Aufsatz Schwierigkeiten und Ermessensspielräume, wenn es darum geht, aufgrund formaler Merkmale (z. B. Mitgliedschaft in der NSDAP und/oder weiteren NS-Organisationen, Mitwirkung an NS-Verbrechen) oder inhaltlicher Anhaltspunkte (z. B. Äußerungen im Sinne der NS-Ideologie, persönliche Kontakte zu NS-Funktionären, aktive Unterstützung des Systems) auf eine NS-Belastung zu schließen, die jenseits justiziabler Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegt. Eine Längsschnittanalyse vom Jahr 1945 bis zur Gegenwart verdeutlicht, dass die Beurteilung, wer ein Nationalsozialist war (und warum), markante und phasenhaft ablaufende zeithistorische Schwankungen aufweist. Zudem zeigt ein aktueller Überblick zu Erinnerungsprojekten medizinischer Fachgesellschaften in Deutschland, wie sich das Bemühen der DGN, sich mit ihrer NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen, in den Kontext einer fächerübergreifenden „Aufarbeitungskultur“ medizinischer Gesellschaften eingliedert. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Gewebe der Geschichte eben aus einem anderen Stoff besteht als die klinische Medizin oder ihre naturwissenschaftlichen Grundlagen. Checklisten oder Scores zur Messung einer NS-Belastung kann und wird es daher nicht geben. An ihre Stelle müssen abwägende historische Deutungen treten, wie sie die biographischen Rekonstruktionen in diesem Heft zu präsentieren versuchen.