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Erschienen in: Ethik in der Medizin 4/2018

29.06.2018 | Originalarbeit

Zur Rolle und Verantwortung von Ärzten und Forschern in systemmedizinischen Kontexten: Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie

verfasst von: Dr. Sandra Fernau, Sebastian Schleidgen, Dr. Christoph Schickhardt, Ann-Kristin Oßa, Prof. Dr. Dr. Eva C. Winkler

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 4/2018

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Zusammenfassung

Systemmedizinische Ansätze zeichnen sich durch die Integration großer Datenmengen aus vielfältigen Datenquellen aus und führen systembiologische und medizinische Forschungsansätze mit informationswissenschaftlichen Methoden und prädiktiven Verfahren mathematischer Modellierung zusammen. Hieraus resultiert eine enge Kooperation von Ärzten und Naturwissenschaftlern, wobei insbesondere die Expertise nicht-ärztlicher Forscher zunehmend an Bedeutung für die Datenaufbereitung und -interpretation gewinnt. Aus ethischer Perspektive wirft diese Entwicklung Fragen nach der konkreten Gestaltung einer systemmedizinischen Zusammenarbeit sowie möglichen Rollenveränderungen und neuen Verantwortungszuschreibungen an Ärzte und nicht-ärztliche Forscher auf. Um diese Fragen mit Blick auf die Erfahrungen und Perspektiven der beteiligten Akteursgruppen zu beleuchten, führten wir eine qualitative Interviewstudie mit Ärzten und nicht-ärztlichen Forschern aus unterschiedlichen systemmedizinischen Kontexten durch. Aus dem Interviewmaterial ließen sich zwei Konzeptionen von Systemmedizin rekonstruieren. Die erste ist durch eine eindeutige arbeitsteilige Rollentrennung zwischen Ärzten und Forschern charakterisiert: Der Forscher fungiert als Dienstleister, der Arzt als translationaler, interdisziplinär ausgerichteter Mediziner. Die zweite zeichnet sich durch eine weitreichende Aufhebung der Rollentrennung von Ärzten und Forschern aus: Die Berufsgruppen agieren als interdisziplinäres Team mit einer engen wechselseitigen inhaltlichen und methodischen Zusammenarbeit der Akteure. In beiden Konzeptionen werden (potenzielle) Rollenkonflikte von Ärzten und Forschern deutlich, die insbesondere auf die Diskrepanz zwischen dem Arzt- und Forscherethos und die mit ihnen je verknüpften spezifischen Handlungsnormen und Ziele zurückzuführen sind. Ferner besteht mit Blick auf die dem Arzt und Forscher jeweils zukommende Verantwortung gegenüber Patienten vielfältiger normativer Klärungsbedarf, insbesondere hinsichtlich der Frage, welche Verantwortung den Akteursgruppen gerechtfertigter Weise zugeschrieben werden kann. Diesbezüglich erscheint eine Differenzierung von versorgungsnäheren und grundlagenforschungsorientierten Arbeitsfeldern angeraten.
Fußnoten
1
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden bei allgemeinen Personenbezeichnungen lediglich die männliche Sprachform verwendet, die sich somit stets gleichermaßen auf Angehörige beider Geschlechter bezieht.
 
2
Die Untersuchung bezieht sich dabei ausschließlich auf Forscher aus dem Bereich der Grundlagenforschung. Andere Naturwissenschaftler, die als nicht-ärztliches Personal bereits eine klar zugewiesene Rolle in der klinischen Diagnostik haben, werden hingegen nicht berücksichtigt.
 
3
Die im Folgenden angeführten Zitate entsprechen weitestgehend dem Sprachgebrauch der Interviewten; sie sind lediglich zugunsten der besseren Lesbarkeit angepasst worden: Pausen, inhaltsleere Füllwörter, nonverbale Gesprächssignale und Betonungen werden hier nicht mit angegeben. Das Kürzel A steht für Arzt/Ärztin, das Kürzel F für Forscher/in.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Zur Rolle und Verantwortung von Ärzten und Forschern in systemmedizinischen Kontexten: Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie
verfasst von
Dr. Sandra Fernau
Sebastian Schleidgen
Dr. Christoph Schickhardt
Ann-Kristin Oßa
Prof. Dr. Dr. Eva C. Winkler
Publikationsdatum
29.06.2018
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 4/2018
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-018-0494-8

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