Hintergrund
Mentalisieren beschreibt die Fähigkeit, Verhaltensweisen auf Basis von intentionalen mentalen Zuständen wahrnehmen und bedenken zu können – eigenes Verhalten sowie das Verhalten anderer Personen kann infolgedessen mit einer sinnstiftenden Intentionalität versehen werden, wodurch Verhaltensweisen grundsätzlich verständlich und vorhersehbar werden [
13,
14]. Der heftige Schlag einer Person mit der Hand auf ein Autodach beispielsweise erscheint erst auf Basis eines mentalen Zustands als plausible Konsequenz – nämlich indem man Wut als mentalen Zustands aufgrund eines verlorenen Autoschlüssels attribuiert. Insbesondere im klinischen Feld wird die Fähigkeit als bedeutsames Konstrukt konzeptualisiert und empirisch bestätigt [
24,
34]. In jüngerer Vergangenheit ist jedoch eine zunehmende Ausweitung des Mentalisierungskonzepts in nichtklinische Zusammenhänge erkennbar – beispielsweise im Kontext ideologischer Radikalisierung [
8] oder für die Arbeit in pädagogischen [
18], sozialpädagogischen [
26] oder sonderpädagogischen Handlungsfeldern [
46,
47]. Ein vielversprechender Ansatz fokussiert auf die Frage, inwieweit mentalisierende Verstehensprozesse zur Gesunderhaltung in nichtklinischen Stichproben beitragen [
2,
6,
15,
45]. Derartige Befunde sind von Bedeutung im Kontext von arbeits- und gesundheitspsychologischen Fragestellungen – beispielsweise inwieweit ein mentalisierendes Verständnis mit adaptiven bzw. dysfunktionalen Formen der Selbstregulation bei Stressbelastung assoziiert ist. Sollte sich die Annahme bestätigen lassen, spräche dies für mentalisierungsfördernde Interventionen, die sich mit dem Ziel der Gesunderhaltung explizit an nichtklinische Populationen richten.
Stresserleben und Selbstregulation: differentialpsychologische Zugänge
Dem transaktionalen Stressmodell folgend ist Stress definiert als Resultat der Beziehung zwischen Person und Umwelt, die als anstrengend und die eigenen Ressourcen übersteigend eingeschätzt wird und das Wohlergehen gefährdet [
31]. Insbesondere im Kontext arbeitspsychologischer Forschung repräsentieren das berufsbedingte Stresserleben von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie darauf aufbauende präventive Maßnahmen zur Vorbeugung stressbedingter Erkrankungen bedeutende Fragestellungen, wobei jedoch lange Zeit Studien dominierten, die professionsübergreifende mittlere Belastungsgrade vergleichend untersuchten und eine Gewichtung besonders belasteter Berufsgruppen vorgenommen haben [
21]. Die Aussagen, die derartige Befunde zulassen, sind insgesamt begrenzt: Letztlich begünstigen sie eine Sichtweise, die (1) einzelne berufliche Handlungsfelder als mehr oder minder krankmachend klassifiziert, die (2) Individuen eine weitestgehend passive Position in Kontext von Gesundheitserleben und beruflicher Stressbelastung zuweist und die (3) Subjektivität, Prozesshaftigkeit und Dynamik des Stresserlebens weitestgehend ignoriert. Folglich trägt eine derartige Sicht wenig zur differenziellen Darstellung der unterschiedlichen Konstellationen von beruflichem Stresserleben bei und verhindert darauf aufbauend die erforderlichen Einblicke in das Zustandekommen von Stresserleben [
22]. Zwar ergebe sich die Relevanz aus auffallenden Häufigkeiten, die für spezifische Berufe wie beispielsweise für Lehrkräfte berichtet sind – allerdings dürfte es vielversprechender sein, das Bedingungs- und Wirkungsgefüge von beruflichem Stresserleben in einer differentialpsychologischen Sichtweise zu betrachten und dabei einen Fokus auf gelingende und misslingende Formen der Bewältigung zu legen [
32]. Insbesondere selbstregulative Fähigkeiten erweisen sich an dieser Stelle als anschlussfähiges Konstrukt: Unter selbstregulativen Fähigkeiten sind derartige Prozesse gemeint, die dem Individuum die reflexive Rückbesinnung auf die eigene Person in Auseinandersetzung mit der Anforderungssituation, den damit einhergehenden motivationalen, kognitiven und emotionalen Erlebensqualitäten und dem gewählten Verhalten gestatten und dabei das Individuum selbst als zentralen Handlungsagenten konzeptualisieren [
27]. Die von Schaarschmidt et al. [
42] identifizierten Arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM-Typologie) gelten als Ausgangspunkt einer individualisierten Sichtweise, die explizite selbstregulative Konfigurationen des Erlebens und Verhaltens in den Blick nimmt. Dabei wird der aktiven Mitwirkung der Betroffenen bei der Gestaltung ihrer Beanspruchungsverhältnisse Rechnung getragen, wodurch differenziertere Aussagen möglich werden, als es der bloße Vergleich mittlerer Beschwerdeniveaus zulässt [
41].
Die AVEM-Typologie als Konfigurationen selbstregulativer Fähigkeiten
Schaarschmidt et al. [
42] ermittelten clusteranalytisch vier Konfigurationen selbstregulative Merkmale (G, S, B und A), die durch je unterschiedliche Formen des Verhaltens und Erlebens in Anforderungssituationen charakterisiert sind, die sich auf Daten von über 28.000 Probanden stützen und die in unabhängigen Untersuchungen konsistent replizierbar waren [
25,
28,
29,
38]. „Muster G“ gilt als günstige Anordnung selbstregulativer Formen des Erlebens und Verhaltens und als Ausdruck von Gesundheit. Charakterisiert ist es durch geringe Resignationstendenzen bei Misserfolgen sowie durch ein hohes Maß an Ausgeglichenheit, innerer Ruhe und beruflichem Erfolgserleben [
42]. „Muster S“ zeichnet sich durch eine Schonhaltung aus, die der Arbeit eine insgesamt geringe Bedeutsamkeit zuschreibt. Weiterhin weisen Personen aus Muster S den geringsten beruflichen Ehrgeiz, die geringste Verausgabungsbereitschaft und das geringste Perfektionsstreben auf und berichten die insgesamt höchste Distanzierungsfähigkeit [
42]. „Muster A“ gilt als Risikomuster, das durch ein überhöhtes berufliches Engagement auffällt. Probanden aus Muster A berichten die höchsten Ausprägungen für die Bedeutsamkeit der Arbeit, für die Bereitschaft, sich zu verausgaben und streben maximale Perfektion an [
42]. „Muster B“ ist durch eine ausgeprägte Tendenz zu Resignation, eine kaum vorhandene offensive Problembewältigung und ein niedriges berufliches Engagement charakterisiert. Weiterhin berichten Probanden aus Muster B eine nur schwach ausgeprägte Ausgeglichenheit und innere Ruhe und weisen im Vergleich zu Probanden aus anderen Mustern die geringste Lebenszufriedenheit auf [
42]. In Abgrenzung zu Muster A fallen außerdem die herabgesetzte Bedeutung der Arbeit und der geringe berufliche Ehrgeiz auf. Schaarschmidt et al. [
42] bezeichnen Muster B als zentrales Risikomuster, indem sie unter Verweis auf die spezifische Konstellation dysfunktionalen Verhaltens und Erlebens der dem Muster zugeordneten Personen hervorheben, dass die vorherrschende Resignation, Motivationseinschränkungen, herabgesetzte Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen und negative Emotionen Kernsymptome des Burnout-Syndroms repräsentieren.
Vergleiche der vier AVEM-Muster zeigen, dass Stress- und Belastungserleben, krankheitsbedingte Fehltage und psychische Beschwerden bei Individuen, die dem Risikomuster B zugeordnet werden, am ausgeprägtesten sind [
20,
42,
44] und auch in prospektiven Längsschnittstudien replizierbar sind [
30]. Auch hinsichtlich physiologischer Vergleichsparameter sind eindeutige Hinweise zu Ungunsten der Risikogruppen dokumentiert [
37]. Es zeigten sich musterspezifische Zusammenhänge zwischen Pulsrate vor und 20 min nach der Bearbeitung einer die Leistungsgrenze der Testpersonen übersteigenden Aufgabe. Während sich die Pulsrate bei Probanden aus Muster G nach Bearbeitung der Aufgabe reduzierte, verblieben die Frequenzen der Risikomuster A und B annähernd gleich. Eine weitere Untersuchung [
48] konnte jene Befunde replizieren – als physiologischen Indikator nutzen diese jedoch die elektrodermale Aktivität der Probanden. Zugleich deuten empirische Arbeiten an, dass die Zugehörigkeit zu einzelnen AVEM-Mustern Aussagen über die Qualität der geleisteten Arbeit ermöglicht: Beispielsweise beurteilen Schülerinnen und Schüler den Unterricht von Lehrkräften, die dem B‑Muster zugeordnet wurden, als weniger gut [
27‐
29].
Mentalisieren
Mentalisieren bezeichnet die Fähigkeit, intentionale mentale Zustände wie Gefühle, Gedanken, Wünsche und Überzeugungen bei sich selbst und anderen Personen wahrnehmen und als Ursache für menschliches Verhalten zugrunde legen zu können [
13,
14]. Durch die Vergegenwärtigung mentaler Zustände kann Erleben und Verhalten als Resultat des zugrunde liegenden Empfindens verstanden und durch Handlungen oder Neubewertung integriert, verändert und gesteuert werden, wodurch eine autonome Selbstregulation möglich wird [
34]. Der Erwerb der Mentalisierungsfähigkeit wird als intersubjektive Entwicklungsleistung konzeptualisiert und geht mit einem zunehmenden Bewusstsein für die Bedeutung von mentalen Zuständen für zwischenmenschliche und intrapsychische Prozesse einher [
13,
14]. Klinische Studien deuten an, dass eine beeinträchtigte Mentalisierungsfähigkeit als Faktor an der Entwicklung und Aufrechterhaltung von psychischen Erkrankungen beteiligt sein könnte. Beispielsweise wurden verzerrte Mentalisierungsfähigkeiten bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung [
10,
35], antisozialer Persönlichkeitsstörung [
35] oder affektiven Störungen [
12] nachgewiesen. Weitere Arbeiten zeigen an, dass sich die Mentalisierungsfähigkeit im Zuge psychotherapeutischer Interventionen verbessert [
11,
33] und über die Psychotherapie hinweg mit einer Abnahme der Schwere der psychischen Symptombelastung korrespondiert [
3,
4,
9,
23,
23,
39].
Aufbauend auf der klinischen Relevanz ist gegenwärtig eine Weiterentwicklung der Mentalisierungstheorie feststellbar, die Mentalisieren als gesundheitserhaltende Fähigkeit in nichtklinischen Populationen beschreibt und als Vorläuferfähigkeit selbstregulativer Fähigkeiten konzeptualisiert [
15,
34]. Es wird angenommen, dass die Mentalisierungsfähigkeit vor stressbedingter emotionaler Erregung schützen kann, indem durch ein mentalisierendes Verständnis bei psychosozialer Stressbelastung vergleichsweise lange eine reflexive Sicht auf das eigene Verhalten und Erleben erhalten bleibt. Dies wiederum begünstigt die adaptive Regulation des stressbedingten negativen Affekterlebens und unterbindet dysfunktionale und sozial unverträgliche Formen der Verhaltensregulation (z. B. Ausagieren innerer Spannungen; [
7]). Insgesamt ist jene Annahme von Relevanz für ein erweitertes Anwendungsspektrum einschließlich nichtklinischer Zusammenhänge, da die Mentalisierungsfähigkeit als Vorläuferfähigkeit für adaptive Formen der Selbstregulation nicht nur durch psychotherapeutische Interventionen in klinischen Populationen förderbar ist [
5,
11,
33], sondern durch präventive Interventionen oder Trainings auch in nichtklinischen Gruppen bereits über kürzere Zeiträume gestärkt werden kann [
1,
50,
51].
Die vorliegende Studie
Die Dominanz empirischer Arbeiten, die die mittlere Stressbelastung einzelner Gruppen vergleichend untersuchen, wurde in den letzten Jahren um eine differentialpsychologische Perspektive erweitert. Der Schwerpunkt dieses Zugangs umfasst dabei weniger generalisierende Aussagen zu besonders stressbelasteten Populationen – stattdessen wird das Zusammenspiel aus verschiedenen Aspekten selbstregulativer Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen als maßgebendes Kriterium konzipiert, das wiederum charakteristisch für ein geringes oder ausgeprägtes Stresserleben ist. Derartige Zugänge erweisen sich auch deshalb als bedeutsam, weil sie Begrenzungen auf nur einzelne Teilstichproben hinter sich lassen und stattdessen eine weiter gefasste Gültigkeit für sich beanspruchen, die gruppenübergreifend relevant ist. Als anerkannte Bezugsgröße hat sich hierbei die bereits erwähnte AVEM-Typologie [
42] etabliert. Klusmann [
27] merkt an, dass die AVEM-Typologie Aussagen im Hinblick auf die selbstregulativen Fähigkeiten einer Person ermöglicht. Überdies gelingt auf Basis des Zusammenspiels der erfassten Verhaltens- und Erlebensweisen eine Zuordnung des Individuums zu einem der vier Muster [
41]. Potenzielle Risiko- und Schutzfaktoren können demnach in empirischen Untersuchungen zu Rate gezogen werden und um deren Einfluss auf die Zuordnung sowie die damit verbundene Konfiguration selbstregulativer Fähigkeiten hin untersucht werden. Darüber hinaus handelt es sich bei der Zuordnung der Probanden zu den vier Verhaltens- und Erlebensmustern um eine Zuweisung, die auf einer Diskriminanzfunktion beruht. Hierdurch wird es möglich, auf Basis des Antwortverhaltens die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, mit der eine Person einem der vier Verhaltens- und Erlebensmustern zugeordnet wird. Von gesondertem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit potenziell schützende Merkmale die Wahrscheinlichkeit schmälern, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden, das mit herabgesetztem Gesundheitserleben und besonders hoher Stressbelastung assoziiert ist. Dabei sind in gesondertem Maß solche Merkmale von Relevanz, die durch gezielte Interventionen erlern- und veränderbar sind, wie es für die Mentalisierungsfähigkeit in klinischen [
11,
33] und nichtklinischen Samples [
1,
50,
51] dokumentiert ist. Derartige Befunde existieren bis zum heutigen Tag nicht, was der vorliegenden Studie einen explorativen Charakter zuweist. Zugleich liegen überzeugende Argumentationen vor, die die Mentalisierungsfähigkeit als Vorläuferfähigkeit einer elaborierten und adaptiven Selbstregulation beschreiben und die Notwendigkeit einer empirischen Prüfung anzeigen.
Ergebnisse
In Tab.
1 sind die Gruppenunterschiede zwischen den vier arbeitsbezogenen Erlebens- und Verhaltensmustern im Hinblick auf das berichtete Stresserleben und die Sicherheit bzw. Unsicherheit im Hinblick auf mentale Zustände dargestellt (ANOVA). Um zu einer möglichst präzisen Beurteilung der Gruppenunterschiede zu gelangen, wurde in einem vertiefenden Analyseschritt das Alter und Geschlecht der Probanden sowie die fünf Persönlichkeitsdimensionen des „big five“ als Kovariaten aufgenommen (ANCOVA). Die Daten zeigen, dass auch nach der Kontrolle von Alter, Geschlecht und den Persönlichkeitsdimensionen signifikante Unterscheide zwischen den vier AVEM-Mustern und dem berichteten Stresserleben bestanden (
η2 = 0,12;
p < 0,001). Die höchste Stressbelastung war in der untersuchten Stichprobe für Probanden aus Risikomuster B nachweisbar. Der sich im Rahmen der Varianzanalyse andeutende Unterschied zwischen den vier Mustern im Hinblick auf die Gewissheit bezüglich mentaler Zustände war nach Kontrolle des Einflusses von Alter, Geschlecht und Persönlichkeitsmerkmalen nicht weiter signifikant (
η2 = 0,03;
p > 0,05). Auch hinsichtlich der erfassten Unsicherheit bezüglich mentaler Zustände bestand in der vorliegenden Stichprobe zwischen den AVEM-Mustern kein signifikanter Unterschied (
η2 = 0,04;
p > 0,05).
Tab. 1
Mittelwerte und Standardabweichungen des Stresserlebens und der Mentalisierungsfähigkeit in den vier AVEM-Mustern sowie Ergebnisse der varianz- und kovarianzanalytischen Mittelwertvergleiche
TICS | M | 19,17 | 19,85 | 26,27 | 27,87 | 18,86c | 0,25 | M | 20,17 | 20,54 | 24,48 | 26,28 | 7,60c | 0,12 |
SD | 7,56 | 5,96 | 5,98 | 6,79 | SE | 1,15 | 0,71 | 1,94 | 1,02 |
RFQc | M | 1,29 | 1,16 | 0,61 | 0,86 | 5,15c | 0,08 | M | 1,12 | 1,12 | 0,68 | 1,05 | 1,54 | 0,03 |
SD | 0,70 | 0,65 | 0,35 | 0,66 | SE | 0,12 | 0,07 | 0,19 | 0,10 |
RFQu | M | 0,47 | 0,42 | 0,89 | 0,70 | 4,11b | 0,07 | M | 0,54 | 0,43 | 0,87 | 0,64 | 2,12 | 0,04 |
SD | 0,60 | 0,51 | 0,75 | 0,58 | SE | 0,11 | 0,07 | 0,18 | 0,09 |
In einem zweiten Analyseschritt wurden Regressionsmodelle zur Vorhersage der Wahrscheinlichkeit geschätzt, dem Risikocluster B zugeordnet zu werden. Das finale Modell war mit einer Varianzaufklärung von 28 % leistungsstark (
F = 8,34;
p < 0,001). Es zeigte sich, dass das Alter und das Geschlecht der Probanden keine Varianz in der Wahrscheinlichkeit aufklären können, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden (
β = 0,07;
p > 0,05 bzw.
β = −0,03;
p > 0,05). Gleiches gilt für die Persönlichkeitsdimensionen „Offenheit für neue Erfahrungen“ (
β = −0,00;
p > 0,05) und „Extraversion“ (
β = −0,12;
p > 0,05). Die Persönlichkeitsdimensionen „Gewissenhaftigkeit“ und „Verträglichkeit“ hingegen übten signifikant negative Effekte auf die Wahrscheinlichkeit, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden aus (
β = −0,14;
p < 0,05 bzw.
β = −0,21;
p < 0,01). Die Ausprägung der Persönlichkeitsdimension „Neurotizismus“ hatte hingegen einen positiven Einfluss auf die errechnete Wahrscheinlichkeit (
β = 0,34;
p < 0,001). Die Sicherheit bezüglich mentaler Zustände variierte in der untersuchten Stichprobe unabhängig von der abhängigen Variablen (
β = 0,08;
p > 0,05). Die Unsicherheit im Hinblick auf mentale Zustände verübte in der untersuchten Stichprobe hingegen einen signifikant positiven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden (
β = 0,18;
p < 0,05; Tab.
2).
Tab. 2
Regressionsmodelle zur Vorhersage der Wahrscheinlichkeit, dem Risikocluster B zugeordnet zu werden
Alter | −0,00 | 0,01 | −0,02 | 0,01 | 0,01 | 0,07 | 0,00 | 0,01 | 0,06 |
Geschlecht | −0,02 | 0,06 | −0,02 | −0,02 | 0,05 | −0,02 | −0,20 | 0,05 | −0,03 |
Gewiss | – | – | – | −0,02 | 0,01 | −0,15a | −0,02 | 0,01 | −0,14a |
Offen | – | – | – | 0,00 | 0,01 | 0,01 | −0,00 | 0,01 | 0,00 |
Extra | – | – | – | −0,01 | 0,01 | −0,11 | −0,01 | 0,01 | −0,12 |
Verträgl | – | – | – | −0,03 | 0,01 | −0,22b | −0,03 | 0,01 | −0,21b |
Neuro | – | – | – | 0,04 | 0,01 | 0,35c | 0,03 | 0,01 | 0,34c |
RFQc | – | – | – | – | – | – | 0,04 | 0,05 | 0,08 |
RFQu | – | – | – | – | – | – | 0,10 | 0,05 | 0,18a |
Korr. R2 | −0,01 | 0,27c | 0,28c |
Diskussion
Die vorliegende Studie prüft auf Basis der Daten von 173 angehenden Lehrkräften, inwieweit ein mentalisierendes Verständnis mit adaptiven bzw. dysfunktionalen Konfigurationen selbstregulativer Merkmale assoziiert ist. Bezugsgröße bilden die von Schaarschmidt et al. [
42] identifizierten Verhaltens- und Erlebensmuster. Konsistent mit Befunden aus anderen Studien [
20,
42,
43] berichten Probanden, die in der vorliegenden Untersuchung dem Risikocluster B zugeordnet wurden, die höchste Stressbelastung. Probanden, deren selbstregulative Fähigkeiten durch ein hohes Maß an negativer Emotionalität, geringem Engagement und geringer Widerstandsfähigkeit gekennzeichnet sind, erleben sich im Vergleich zu Probanden aus den übrigen Mustern als am stärksten belastet. Hypothese H1 kann unter Verweis auf die ermittelten Befunde damit bestätigt werden. Ein Vergleich der vier Muster im Hinblick auf die erfasste Mentalisierungsfähigkeit hingegen zeigt, dass zwischen den vier Mustern in der untersuchten Stichprobe keine signifikanten Unterschiede bestehen. Sowohl die Gewissheit als auch die Unsicherheit der Probanden, mentale Zustände als reliable Erklärungsgrößen für eigenes Verhalten und das Verhalten anderer Personen zu nutzen, unterscheiden sich in der vorliegenden Studie zwischen den vier AVEM-Mustern nicht, sodass Hypothese H2 hier verworfen werden muss.
In einem dritten Analyseschritt wurde aufbauend auf den Gruppenvergleichen die Wahrscheinlichkeit vorhergesagt, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden. Die Daten zeigen, dass weder Geschlecht noch Alter einen Einfluss auf das ermittelte Risiko der Probanden verübten. Auch die Persönlichkeitsdimensionen „Extraversion“ und „Offenheit für neue Erfahrungen“ waren ohne signifikanten Einfluss auf das Risiko und variierten unabhängig. Der insgesamt stärkste Prädiktor im Vorhersagemodell war die Persönlichkeitsdimension „Neurotizismus“, die die emotionale Stabilität bzw. Instabilität des Individuums beschreibt und die in der vorliegenden Untersuchung mit einem deutlichen positiven Regressionsgewicht die Wahrscheinlichkeit der Probanden erhöhte, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden. Die Persönlichkeitsdimensionen „Gewissenhaftigkeit“ und „Verträglichkeit“ hingegen verübten je negative Effekte auf das Zuordnungsrisiko und deuten an, dass ein höheres Maß an Disziplin und Hilfsbereitschaft in der vorliegenden Untersuchung die Wahrscheinlichkeit einer Zuordnung zum Risikomuster B herabsetzt. Zuletzt zeigt das Modell, dass zwar die Gewissheit der Probanden im Hinblick auf mentale Zustände ebenfalls unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden, variiert und so die sich bereits im Zuge der Gruppenvergleiche andeutenden Ergebnisse fortführt. Die zunehmende Unsicherheit der Probanden jedoch, innerpsychische Zustände als reliable Informationen in der Wahrnehmung und Interpretation von eigenem Verhalten und dem Verhalten anderer Personen zu nutzen, verübte einen förderlichen Einfluss auf das Zuordnungsrisiko. Folglich erhöht das Ausmaß der als beeinträchtigt beschriebenen Mentalisierungsfähigkeit in der untersuchten Stichprobe die Wahrscheinlichkeit, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden, sodass Hypothese 3 bestätigt werden kann.
Insgesamt zeigen die ermittelten Befunde, dass den vier Verhaltens- und Erlebensmustern der AVEM-Typologie nicht per se unterschiedliche Ausprägungen der Mentalisierungsfähigkeit zugrunde liegen, wie dies im Rahmen klinischer Studien für spezifische Störungsbilder wie beispielsweise der Borderline-Persönlichkeitsstörung [
35], der antisozialen Persönlichkeitsstörung [
36] oder affektiven Störungen [
12] dokumentiert ist. Auch wenn Individuen, die dem Risikomuster B zugeordnet werden, durch ein hohes Maß an Stress- und Belastungserleben charakterisiert sind, liegen offenbar dennoch keine substantiellen Unterschiede im Hinblick auf die Mentalisierungsfähigkeit zu den drei weiteren AVEM-Typen vor. Die Annahme, dass die Mentalisierungsfähigkeit stattdessen als Merkmal beschrieben werden kann, dem eine konstituierende Funktion im Zustandekommen psychischer Gesundheit zugeschrieben werden kann [
15,
34], ist auf Basis der ermittelten Befunde zuzustimmen: Mit zunehmender Verunsicherung, mentale Zustände als reliable Verstehens- und Interpretationsgrundlage zur Erklärung von eigenem Verhalten und Erleben zu nutzen, steigt das Risiko in der untersuchten Stichprobe, dem Risikomuster B zugeordnet zu werden, das wiederum durch eine dysfunktionale Anordnung selbstregulativer Fähigkeiten charakterisiert ist und in der Folge mit ausgeprägter Belastung einhergeht. Dieser Befund ist anschlussfähig an Ergebnisse aus klinischen Studien [
9,
16]. Auch dort ist die berichtete Verunsicherung der Probanden, mentale Zustände als reliable Erklärungsgrößen für eigenes Verhalten zu nutzen, mit psychischen Auffälligkeiten und Fehlentwicklungen assoziiert. Zugleich lassen sich die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ermittelten Ergebnisse gut in die aktuellen Ausweitungsversuche der Mentalisierungstheorie in nichtklinische Zusammenhänge [
15,
34] einordnen, die Beeinträchtigungen von mentalisierenden Verstehensprozessen weniger als psychopathologisches Symptom per se deklarieren, sondern der Mentalisierungsfähigkeit stattdessen eine innerpsychische Verarbeitungsfunktion zuweisen [
2], die zum Erhalt von Wohlbefinden und Handlungsfähigkeit beiträgt. Tatsächlich können die vorliegenden Ergebnisse diese Annahme bestätigen, da die zunehmende Verunsicherung zur Nutzung mentaler Zustände als Erklärungsmodelle für intersubjektives und innerpsychisches Erleben als Beeinträchtigung der Mentalisierungsfähigkeit deklariert wird [
13,
14]. Zuletzt schließen die Ergebnisse an bereits veröffentlichte Daten an, die die Relevanz der Mentalisierungsfähigkeit als gesundheitserhaltende Kapazität in nichtklinischen Stichproben ebenfalls andeuten [
2,
6,
45].
Die sich abzeichnende Datenlage, die der Mentalisierungsfähigkeit eine gesundheitserhaltende Funktion zuweist, kann als Argument angeführt werden, um auf Basis von Trainings, Coachings und Fortbildungen Maßnahmen zur Förderung der Mentalisierungsfähigkeit in verschiedenen Anwendungsfeldern des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu implementieren [
19]. Potenzielle Zielgruppen können hierbei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein, aber auch Auszubildende, Studierende oder Schülerinnen und Schüler, um präventiv stressbedingten Erkrankungen entgegenzuwirken. Erste Konzepte zur Förderung der Mentalisierungsfähigkeit über kürzere Zeiträume liegen mittlerweile vor [
1,
50,
51] oder werden gegenwärtig entwickelt (Erasmus + Projekt [strategische Partnerschaften]:
Mentalisierungstraining für pädagogische Fachkräfte (2019-1-DE01-KA203-004967)).
Limitationen
Zwingend sind im Zuge der Interpretation der Ergebnisse einige Limitationen zu berücksichtigen. Die Befunde basieren auf einer Querschnittsstudie und lassen keine kausalen Schlüsse zu. Eine Replikation der Befunde in einem längsschnittlichen Design ist hierzu erforderlich. Weiterhin handelt es sich um eine kleine, homogene Stichprobe von Studierenden. Inwieweit die Befunde auf größere und heterogenere Stichprobe übertragbar sind, ist in Folgeuntersuchungen zu prüfen. Ebenso ist zu fragen, inwieweit komplexe Phänomene wie mentalisierende Verstehensprozesse grundsätzlich mithilfe von Fragebögen abgebildet werden können. Folglich wäre im Zuge einer Replikationsstudie über alternative Operationalisierungen nachzudenken – auch um das Vorliegen systematischer Fehlervarianzen aufgrund der Verwendung derselben Methode auszuschließen (Einheitsmethodenvarianz). Zuletzt gilt es, dass auch die mittels AVEM erfassten Konfigurationen selbstregulativer Fähigkeiten auf Basis von Selbstberichten erhoben wurden und folglich subjektiven Verzerrungen unterliegen könnten. Außerdem variieren in der untersuchten Stichprobe die Gruppengrößen der vier Muster z. T. erheblich und könnten die berichteten Ergebnisse beeinflussen.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.