Der Stellenwert von Opioiden bei chronischen Schmerzen
Gibt es eine Opioidepidemie in Deutschland?
Aktuelle Studien zur Prävalenz von Gebrauchsstörungen von rezeptierten Opioiden durch Patienten mit chronischen Schmerzen in Deutschland
Kriterien der Opioidgebrauchsstörung: (Definition: problematisches Opioidkonsummuster, dass erhebliche Beeinträchtigungen oder Stress verursacht) | Rate positiver Antworten (%) | |
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Studie 1 [16] | Studie 2 [15] | |
1. Die Substanz wird häufig in größeren Mengen oder über einen längeren Zeitraum eingenommen als ursprünglich beabsichtigt | 13,5 | 9,4 |
2. Es besteht ein anhaltendes Verlangen oder ein nicht erfolgreicher Versuch, den Substanzkonsum zu kontrollieren oder zu reduzieren | 19,8 | 15,0 |
3. Ein großer Teil der Zeitspanne wird damit verbracht, die Substanz zu besorgen, zu konsumieren oder sich von den Auswirkungen des Konsums zu erholen | 7,6 | 5,2 |
4. Es besteht ein Craving (starkes Verlangen) oder ein Druck, die Substanz zu konsumieren | 14,8 | 5,7 |
5. Wiederholter Substanzkonsum führt zum Versagen bei der Erfüllung wichtiger Aufgaben (Rollenverpflichtungen im Beruf, in der Schule oder zu Hause) | 11,0 | 20,8 |
6. Es besteht ein anhaltender Substanzkonsum ungeachtet der bestehenden oder wiederholt auftretenden sozialen oder interpersonellen Probleme, die durch die Effekte des Substanzkonsums verursacht oder verstärkt werden | 4,2 | 6,3 |
7. Relevante soziale, berufliche oder freizeitbezogene Aktivitäten werden wegen des Substanzkonsums aufgegeben oder reduziert | 14,4 | 11,5 |
8. Die Substanz wird wiederholt in Situationen konsumiert, in denen dies körperlich gefährlich ist | 5,9 | 14,9 |
9. Der Substanzkonsum wird ungeachtet des Wissens um bereits bestehende oder wiederauftretende physische oder psychische Probleme fortgesetzt, die sehr wahrscheinlich durch den Substanzkonsum verursacht oder verstärkt werden | 8,9 | 3,6 |
Widersprüche zwischen Prävalenz und Mortalität
Widersprüche zwischen Prävalenz und Mortalität
Gründe für die hohe Prävalenz von Opioidgebrauchsstörungen in den vorgestellten Studien
Prävention
Erkennen einer Opioidgebrauchsstörung
Nichtspezifische Hinweise für Fehlgebrauch | Nichtspezifische Hinweise für Missbrauch/Abhängigkeit | Spezifischere Hinweise auf Abhängigkeit |
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▪Einnahme trotz geringer bis fehlender Wirksamkeit ▪Ein Fehlgebrauch, der trotz Aufklärung, Absprache und engerer ärztlicher Anbindung anhält, kann als Hinweis auf einen schädlichen Gebrauch/Abhängigkeit gewertet werden ▪Wechselnde Schmerzlokalisationen, multilokuläre Ausbreitung (Generalisierung) der Schmerzen, Transformation des Primärschmerzes unter laufender Therapie ▪Opioidinduzierte Hyperalgesie (Tendenz zur Schmerzausbreitung, Erhöhung der Schmerzempfindlichkeit und Opioidresistenz) | ▪Hoher Ruheschmerz sowie Diskrepanz zwischen Schmerzangabe und Verhalten ▪Fordern eines bestimmten Opioids, speziell von kurz wirksamen und/oder schnell anflutenden Opioiden ▪Opioideinnahme überwiegend zur Symptomlinderung (Disstress, Unruhe, Angst, Depression, Schlafstörung) ▪Nicht abgesprochene Dosiserhöhungen ▪Drängen auf Dosiserhöhung ohne Verbesserung der Symptome/Funktion oder trotz Zunahme der Nebenwirkungen ▪Wiederholte Unzuverlässigkeiten (Unpünktlichkeit, Nichterscheinen) oder mangelnde Compliance ▪Verschwiegene Einnahme von Substanzen mit Suchtpotenzial (Diskrepanzen beim Drug-Monitoring) ▪Drängen auf Verschreibung weiterer psychotroper Substanzen ▪Veränderung der verabredeten Einnahmeintervalle, eigenständige Anpassung nach Bedarf ▪Abwehr von Therapieänderungen ▪Wesensveränderungen unter der Therapie (z. B. Impulskontrollstörungen) und andere neue psychiatrische Symptome ▪Missbrauch anderer Substanzen zu psychotropen Zwecken ▪Zunahme von Depressivität, Angststörung, Albträumen unter der Therapie | ▪Anhaltender Widerstand gegen Änderungen der Medikation trotz Wirkungslosigkeit und/oder Symptomen einer ärztlich unerwünschten psychotropen Wirkung (Euphorie, Sedierung, Angstlinderung) ▪Anhaltender Widerstand gegen Änderungen der Medikation trotz psychotroper (zumeist dosisabhängiger) Nebenwirkungen (Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen) ▪Injektion oraler/transdermaler Verabreichungsformen ▪Intravenöse und orale Anwendung transdermaler Systeme ▪Rezeptfälschungen ▪Stehlen/Borgen von Opioiden ▪Nichtplausibles Horten der Medikamente ▪Verheimlichter/abgestrittener Bezug durch andere Ärzte ▪Verschwiegener Konsum von weiteren psychotropen Substanzen einschließlich anderer Opioide ▪Häufiger Verlust von Rezepten ▪Fordern eines parenteralen Verabreichungswegs ▪Handel von Opioiden mit Dritten ▪Kontrollverlust (z. B. wiederholte Episoden von Dosiserhöhungen oder zunehmend bedarfsgesteuerte Einnahme trotz klarer Absprache/Warnung, deutliche unmittelbare negative Folgen der Medikamenteneinnahme im privaten und sozialen Umfeld) ▪Zwanghafter Gebrauch |
Klinische Evaluation potenziell betroffener Patienten
Fazit für die Praxis
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Mittel- bis schwergradige Opioidgebrauchsstörungen nach DSM‑5 zeigen eine gute Korrelation mit den bekannten Diagnosen „Abhängigkeit“ sowie „Missbrauch“ bzw. „schädlicher Gebrauch“ in DSM-IV und ICD-10. Die Prävalenz in Deutschland liegt wahrscheinlich im höheren einstelligen Bereich.
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Patienten jüngeren Alters mit depressiven Störungen, mit somatoformen Störungen und hohen Opioidtagesdosen sind besonders gefährdet, Opioidgebrauchsstörungen bzw. Missbrauch/Abhängigkeit zu entwickeln.
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Da Zweifel daran bestehen, ob alle Diagnosekriterien von DSM-IV, DSM‑5 und ICD-10/11 sinnvoll bei Patienten mit CNTS angewendet werden können, brauchen wir weitere Forschung zur Anwendbarkeit der genannten Diagnosekriterien.
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Das aufmerksame ärztliche Gespräch unter Beachtung bekannter Risikofaktoren und auffälligen Verhaltens ist aktuell der diagnostische Goldstandard zur Erkennung von Patienten mit opioidassoziierten Problemen.
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Die Leitlinien „LONTS Update“ und „Medikamentenbezogene Störung“ bieten Hinweise zum weiteren Umgang mit betroffenen Patienten.