Erschienen in:
01.03.2020 | Psychoanalyse | Originalarbeit
„Das Auge ist’s, was die Taten verwandelt. Das neugeborene Auge verwandelt die alte Tat“
Einige Gedanken zum Thema psychoanalytische Identität und Zeit
verfasst von:
M.D. Léon Wurmser
Erschienen in:
Forum der Psychoanalyse
|
Ausgabe 1/2020
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Zusammenfassung
Einige Leitmotive eines weitgehend der psychoanalytischen Arbeit gewidmeten Lebens werden herausgegriffen: Der A-priori-Ansatz der Psychoanalyse ist, dass alles Seelische – sei es bei den Patienten und in uns selbst, sei es in der Kultur und Gesellschaft, sei es in den Religionen – mit Vorteil als Ausdruck von Konflikt und von Komplementarität zu verstehen sei: Wie alles innerlich im Widerstreit von Gegensätzen abläuft, doch wie sich allmählich diese Polaritäten gegenseitig ergänzen können. Fast alles wird annehmbar, wenn man es als Konflikt deutet, und zwar ganz spezifisch und konkret; denn die Psychoanalyse ist die Kunst des Spezifischen. Das Allgemeingültige ist wissenschaftlich überaus wichtig, in der klinischen Arbeit bleibt es aber leer, wenn es nicht mit spezifischem Erlebnisinhalt gefüllt wird. Dabei sticht eine Antithese hervor: die von innerer und äußerer Realität, von Subjektivität und von Objektivität, von Verstehen und Erklären. Eine moderne Fassung dieser Antithese ist die zwischen dem erzählerischen Charakter dessen, wie wir mit den Patienten arbeiten und über sie berichten, und dem immer größeren Druck, alles in Zahlen, in Diagrammen, in Prozenten ausdrücken zu müssen – die Spannung zwischen dem Qualitativen und dem Quantitativen, oder zum jetzigen Thema: dem Zeitablauf in der Biographie, also im Erzählten, gegenüber dem Zeitlosen des Gezählten.
Ein anderes Leitmotiv ist die Grundhaltung von Verstehen statt Verurteilen: die systematische Überichanalyse, namentlich der Überichübertragung. Ein wichtiges Element problematischer, ja schädlicher Gegenübertragung ist das Agieren einer Überichhaltung, z. B. in Form von konfrontativen („trieborientierten“), als vorwurfsvoll erlebten Deutungen.
Ein anderes Klischee, das der Erfahrung widerspricht, betrifft die fast ausschließliche Wertigkeit von Übertragungsdeutungen. Auch Deutungen außerhalb der Übertragung können von großer Hilfe und Wichtigkeit sein. Deutungen dessen, was in Gegenwartsbeziehungen abläuft, haben eine emotionale Dringlichkeit, die sie ideal zur Erkennung und Bearbeitung unbewusster Konflikte macht. Die Frage bleibt ständig: Worauf konzentrieren wir uns am besten, um die unbewussten Konflikte einer Lösung näher zu bringen?