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Erschienen in: Die Psychotherapie 2/2024

Open Access 02.01.2024 | Psychotherapie | Übersichten

Das Potenzial der Achtsamkeit – trotz Risiken und Nebenwirkungen

verfasst von: PD Dr. Sandra Schmiedeler

Erschienen in: Die Psychotherapie | Ausgabe 2/2024

Zusammenfassung

Achtsamkeit hat sich zu einem zentralen Konzept in der Psychotherapie entwickelt und verspricht sowohl für Therapeut(inn)en als auch für Klient(inn)en ein erhebliches Potenzial. Dieser Artikel bietet eine Zusammenfassung der Vorteile und empirischen Wirksamkeitsnachweise von Achtsamkeit in der Psychotherapie und diskutiert gleichzeitig mögliche Schattenseiten und Kritikpunkte. Seit der Einführung der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) von Kabat-Zinn vor vier Jahrzehnten hat eine Fülle von Forschungsarbeiten, insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten, die positive Wirkung von Achtsamkeitspraktiken auf das psychologische und physiologische Wohlbefinden gezeigt. Gleichzeitig gibt es zunehmend Forschung, die sich mit den negativen Auswirkungen befasst, wobei Ergebnisse zum Beispiel darauf hindeuten, dass Achtsamkeit zu mehr Selbstbezogenheit führen kann. Darüber hinaus bietet der Artikel einen laufenden Diskurs über die Grenzen von Achtsamkeitsanwendungen in der Therapie und warnt vor einer Fehlinterpretation von Achtsamkeit als statische Denkweise, die für Veränderung keinen Raum lässt. Der Artikel postuliert, dass es für eine effektive Integration von Achtsamkeit in der Psychotherapie unerlässlich ist, dass Therapeut(inn)en, die achtsamkeitsbasierte Interventionen anbieten, selbst umfassend mit Achtsamkeit vertraut sind.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Achtsamkeit erfährt einen Boom. Nicht nur in der Wissenschaft hat die Anzahl an Veröffentlichungen in den letzten Jahren eine kaum überschaubare Größe erreicht, auch im alltäglichen Wortschatz erfährt der Begriff zunehmend Verwendung (van Dam et al. 2018). In der Psychotherapie hat Achtsamkeit als dritte Welle der Verhaltenstherapie Einzug gefunden und wird mittlerweile von einem Großteil der Psychotherapeut(inn)en im therapeutischen Alltag genutzt (Michalak et al. 2020). Während in den ersten Jahrzehnten der Fokus auf vielfältige positive Effekte von Achtsamkeitsinterventionen gelegt wurde (z. B. Creswell 2017), gab es in den letzten Jahren auch berechtigte kritische Stimmen (z. B. Purser 2019; Schindler 2020) sowie Hinweise auf mögliche Nebenwirkungen und Risiken von Achtsamkeit (Tremmel und Ott 2016). In diesem Beitrag soll daher ein differenzierter Blick auf den Einsatz von Achtsamkeit in Therapie und Beratung bei Erwachsenen gerichtet werden.

Achtsamkeit

Der Begriff Achtsamkeit (engl. „mindfulness“) stammt ursprünglich aus der 2500 Jahre alten buddhistischen Philosophie und ist in ein umfassendes ethisches Rahmenkonzept eingebettet. In der modernen Psychologie wird Achtsamkeit jedoch auch als eine Grundhaltung verstanden, die wir alle unabhängig von Kultur, Religion oder Erziehung in uns tragen und üben können (Bishop et al. 2004). Bei der Erklärung des Begriffs wird zumeist auf die Definition von Kabat-Zinn (1990) verwiesen: Achtsamkeit wird verstanden als eine besondere Form der Aufmerksamkeitsausrichtung, die gegenwärtig, absichtsvoll und ohne Bewertung erfolgt. Zudem sind zwei zentrale Aspekte bei den meisten Definitionen gemein: 1) Die Regulation der Aufmerksamkeit oder auch die Bewusstheit für den gegenwärtigen Moment und 2) eine Einstellung von Offenheit, Neugierde und Akzeptanz (Bishop et al. 2004).
Allerdings verbringen wir Erwachsenen häufig den Tag in Gedanken und sind uns des Augenblicks nicht bewusst – wir denken mehr über das Leben nach, als es wirklich neugierig zu (er)leben (Siegel 2011). Killingsworth und Gilbert (2010) zeigten in einer Studie eindrucksvoll, dass die teilnehmenden Versuchspersonen in etwa der Hälfte der Zeit nicht gegenwärtig waren, sondern in Gedanken abschweiften und dieser Zustand nicht mit Glücklichsein assoziiert war. Und kennen wir das nicht auch von unseren Klient(inn)en teilweise in einem dramatischen Ausmaß? Das Üben von Achtsamkeit kann helfen, uns dem inneren Erleben neugierig und bewusst zuzuwenden – ein Potenzial, das wir in der Therapie nutzen können.

Das Potenzial der Achtsamkeit

Die Wirksamkeit von Achtsamkeit ist in zahlreichen Studien und Kontexten belegt worden. Am besten untersucht ist dabei das von Kabat-Zinn (1982) entwickelte achtwöchige Gruppenprogramm Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) sowie verwandte Programme wie die Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Depression (MBCT; Segal et al. 2002) als Rückfallprävention bei Depressionen (Michalak et al. 2020). Im MBSR wird zum einen zu formellen Achtsamkeitsübungen angeleitet, wie dem Bodyscan, Yoga oder der Sitzmeditation (Kabat-Zinn 1982), zum anderen dienen informelle Übungen im Alltag dazu, Tätigkeiten bewusst zu verrichten (wie achtsam die Zähne zu putzen). Ein zentraler Bestandteil dieser Gruppenprogramme ist auch der Austausch der Übungserfahrungen mit den anderen Teilnehmenden. Neben dem Üben von Achtsamkeit innerhalb eines solchen Gruppensettings können Achtsamkeitsinterventionen auch in der Einzelbegleitung eingesetzt werden (s. auch Michalak et al. 2019).
Wirksamkeitsnachweise von achtsamkeitsbasierten Interventionen – vor allem für die Gruppenprogramme MBSR und MBCT – wurden dabei insbesondere für depressive Störungsbilder und Angststörungen sowie für Suchterkrankungen gefunden (Creswell 2017; Wielgosz et al. 2019). Zudem zeigen Achtsamkeitsinterventionen eine Erhöhung der Lebenszufriedenheit (Brown und Ryan 2003), eine Reduzierung von Stresserleben (Keng et al. 2011) und positive Ergebnisse mit Blick auf stressbedingte Gesundheitsfaktoren, wie chronischem Schmerz, Bluthochdruck oder Funktionen des Immunsystems (s. Creswell 2017). Ebenfalls sind im kognitiven und interpersonalen Bereich vielversprechende Befunde zu sehen (Chiesa et al. 2011; Gesell et al. 2020). Zudem gibt es Hinweise dafür, dass Achtsamkeit auch vor psychischer Belastung während der Coronapandemie geschützt hat (Schmiedeler et al. 2023).
Somit verwundert der Hype um Achtsamkeit und der vermehrte Einsatz im therapeutischen Setting nicht. Ein weiterer großer Vorteil von Achtsamkeitsinterventionen liegt im transdiagnostischen Ansatz. Denn in unterschiedlichen Störungsbildern sind Prozesse aktiv, die eine psychische Störung bedingen oder aufrechterhalten, wie z. B. selektive Aufmerksamkeit, Rumination, Vermeidung, Erwartungsangst und Sicherheitsverhalten. Genau bei diesen Prozessen kann Achtsamkeit über die verschiedenen Störungen hinweg hilfreich sein. Dies wird auch bei der Betrachtung der diskutierten Wirkfaktoren der Achtsamkeit deutlich: Hier werden insbesondere eine Verbesserung der Aufmerksamkeitsregulation, der Emotionsregulation, der Körperwahrnehmung und des Selbstbildes als zentrale Mechanismen genannt (Hölzel et al. 2011; Tang et al. 2015). Dabei sind insbesondere zu den ersten beiden Mechanismen zahlreiche Wirksamkeitsnachweise auch durch bildgebende Verfahren bestätigt worden (z. B. Tang et al. 2015). Sowohl Aufmerksamkeits- als auch Emotionsregulation sind zentrale Fähigkeiten, die zu einer verbesserten Bewusstwerdung von inneren Prozessen und somit zu einem angemessenen Umgang mit auftretenden Gedanken und Emotionen führen können.
Es wird angenommen, dass Achtsamkeitsinterventionen zu einer Reduzierung von Rumination und Sorgen sowie zu einer Verbesserung der kognitiven Flexibilität führen (Gu et al. 2015). Achtsamkeit kann helfen, Gedanken und Gefühle als solche zu erkennen (Decentering) und eine Perspektive des inneren Beobachters einzunehmen (Disidentifikation). Auch ein besseres Gespür für den eigenen Körper (und damit auch Bedürfnissen und Grenzen) zu entwickeln sowie die körperliche Verankerung von Gefühlen zu erleben, wird durch eine Achtsamkeitspraxis geschult. Als zentral ist auch der Mechanismus der Exposition zu sehen (Piron 2020). Denn wenn Unruhe oder unangenehme Gefühle auftauchen, neigen Menschen dazu, sich abzulenken oder sich mit der Einstellung des „Pflaster drauf“ zu besänftigen. Bei der Achtsamkeit geht es darum, nicht auszuweichen, sondern sich dem, was ist, zu exponieren. Dass uns Menschen dies schwerfällt, verdeutlicht eine Studie, in der die Teilnehmenden sich selbst lieber milde Elektroschocks zufügten, als ohne Ablenkungsmöglichkeiten nichts zu tun. In einer dieser Studien aus einer Reihe von Experimenten sollten Studierende 15 min in einem Raum verbringen und konnten – wenn sie mochten – die Wartezeit mit Stromstößen „überbrücken“. Obwohl alle Teilnehmenden zuvor angaben, Stromstöße unangenehm zu finden und sogar bis zu 5 Dollar zahlen würden, um sie zu vermeiden, gaben sich letztlich 67 % der Männer und 25 % der Frauen mindestens einmal einen Stromstoß während der Wartezeit (Wilson et al. 2014).
Neben der Schulung der Achtsamkeit der Klient(inn)en kann auch die Achtsamkeitspraxis der Therapeut(inn)en dienlich sein. Es kann vermutet werden, dass Achtsamkeit helfen kann, eigene Projektionen und Erwartungen zu erkennen, was den Klient(inn)en wiederum zugutekommt. Zudem unterstützt die eigene Achtsamkeit sowohl das Erleben der Klient(inn)en als auch das eigene innere Erleben als Resonanzkörper bewusst zu beobachten. Achtsamkeit erhöht die Selbstreflexion und ermöglicht das Einnehmen einer Metaebene, auf der eigene Emotionen und Reaktionen bewusst werden können. Aus einer inneren Haltung der Offenheit heraus ist es möglich, dem Gegenüber wertfrei und mitfühlend zu begegnen. Diesbezüglich gibt es vorsichtige Hinweise darauf, dass Achtsamkeit positive Auswirkungen auf das Einfühlungsvermögen von Therapeut(inn)en hat (Davis und Hayes 2011) sowie auf die therapeutische Allianz zwischen Therapeut/in und Klient/in (Dunn et al. 2013). In einer bemerkenswerten Studie gingen Grepmair et al. (2007) der Frage nach, ob und wie stark sich die Förderung von Achtsamkeit bei Psycholog(inn)en in Ausbildung (PiA) durch eine tägliche Zen-Meditationspraxis auf die Behandlungsergebnisse bei deren Klient(inn)en in einem stationären Setting auswirkt. In einer randomisierten Doppelblindstudie wurden 9 PiAs der Gruppe mit und 9 PiAs der Gruppe ohne Meditation (tägliche Übung von 7.00 bis 8.00 Uhr) zugewiesen, auch die Zuweisung der insgesamt 124 behandelten Klient(inn)en war zufällig. Während es vor Behandlungsbeginn keine Unterschiede zwischen den Klient(inn)en gab (auch die PiAs waren hinsichtlich verschiedener Variablen ähnlich), zeigten am Ende die Klient(inn)en der PiAs in der Meditationsgruppe deutlich stärkere Verbesserungen in ihrem Befinden sowie auf anderen Skalen der Therapieverbesserung. Weitere kleine Studien konnten diese Befunde mittlerweile unterstützen (Hunt et al. 2021). Einschränkend ist anzumerken, dass andere Studien einen Zusammenhang von Achtsamkeit der Therapeut(inn)en und Therapieerfolg von Klient(inn)en nicht bestätigen konnten, wobei bei diesen Studien lediglich die selbstberichtete Achtsamkeit der Therapeut(inn)en erfasst wurde (s. Davis und Hayes 2011). Hier gilt es in weiteren Studien herauszufinden, unter welchen Bedingungen und wie genau sich die Achtsamkeitspraxis von Therapeut(inn)en auf die Klient(inn)en auswirkt.

Kritik, Grenzen und Nebenwirkungen

Das zunehmende Interesse an Achtsamkeit führt auch zur Diskussion von Kritikpunkten, Grenzen und möglichen Nebenwirkungen achtsamkeitsbasierter Verfahren. Zum einen wird kritisch angemerkt, dass Achtsamkeit in der Therapie im Grunde nichts Neues ist und in vielen therapeutischen Schulen und Traditionen immer schon eine Rolle gespielt hat (Piron 2020). Zum anderen ist die empirische Grundlage teilweise noch nicht ausreichend, so fehlen insbesondere Studien zu Langzeitwirkungen von Achtsamkeitsinterventionen (Creswell 2017). Eine weitere Kritik wird in der Verwässerung des Konzepts, in der Unklarheit der Definitionen und Operationalisierungen gesehen (Schindler 2020). Purser (2019) weist in seinem Buch „McMindfulness“ weiterhin auf die Gefahr hin, die „Schuld“ von Stress und Krisen nur beim Individuum zu suchen und die zugrunde liegenden Prozesse in Unternehmen und der Gesellschaft zu verharmlosen. Letztlich könne dies dazu führen, keine Notwendigkeit mehr darin zu sehen, politisch oder gesellschaftlich etwas zu verändern.
Während Achtsamkeit innerhalb spiritueller Traditionen mit dem Ziel der Erleuchtung und der Entwicklung von Mitgefühl praktiziert wird, besteht im Westen das Risiko, Achtsamkeit losgelöst von der spirituellen Tradition nur als eine weitere Technik oder Intervention zur Leistungssteigerung oder selbstbezogener Persönlichkeitsoptimierung zu sehen (Purser 2019). Hier deuten in der Tat Studien darauf hin, dass Achtsamkeitsübungen wie Yoga oder Meditation zu mehr Selbstbezogenheit und Selbstaufwertung führen können (Gebauer et al. 2018; Vaughan-Johnston et al. 2021). Weiterhin gibt es Belege dafür, dass Achtsamkeit schuldbasierte moralische Reaktionen schwächt und nicht – wie man vielleicht erhoffen würde – zu mehr umweltbewusstem oder prosozialem Verhalten führt (Schindler et al. 2019; Schindler 2020). Somit ist wichtig zu betonen, dass Achtsamkeit kein Allheilmittel ist. Es sollte daher auch nicht naiv verstanden werden als etwas, das es unbedingt zu kultivieren gilt (Jackson 2018). Ähnlich geben auch Grossmann und Reddemann (2016) zu bedenken, Achtsamkeit als Grundhaltung mit der darin wurzelnden ethischen Dimension und der Kultivierung von Freundlichkeit und Mitgefühl nicht aus den Augen zu verlieren.
Bei einer medikamentösen Behandlung wird immer auch auf Risiken und Nebenwirkungen hingewiesen – ebenso bei Indikationen im therapeutischen Setting. Warum nicht beim Üben von Achtsamkeit? Dies ist jedoch nur bei Therapeut(inn)en möglich, die selbst umfassende Kenntnisse in Achtsamkeit mitbringen. So weiß jeder, der meditiert, dass Meditation „Arbeit“ ist und es auch bei sonst „gesunden“ Meditierenden zu schwierigen Phasen kommen kann. Daher ist es wichtig aufzuklären, dass Achtsamkeit zunächst auch zu einem verstärkten Auftreten von unangenehmen Gefühlen, Gedanken oder Unruhe führen kann. Dies ist normal, und zwar nicht, weil auf einmal mehr Gedanken da sind, sondern weil wir diese nun klarer wahrnehmen. Zudem ist es wichtig zu wissen, dass bei manchen Personen, wie zum Beispiel bei Klient(inn)en mit strukturellen Störungen oder mit einer akuten psychotischen Symptomatik und bei extremen Bedingungen der Achtsamkeitsmeditation Vorsicht geboten ist. So ist bei „harten Retreats“, bei denen die Meditation über mehrere Tage unter strengen Bedingungen erfolgt, in Einzelfällen von Nebenwirkungen wie Psychosen, Ängsten, Manien oder sogar suizidalen Krisen berichtet worden (van Dam et al. 2018). Eine Hilfe könnten Richtlinien bieten, für welche Menschen intensivere Achtsamkeitsinterventionen ggf. kontraindiziert sein könnten und was bei achtsamkeitsbasierten Ansätzen in der Psychotherapie zu beachten ist. Einige solcher Empfehlungen sind von Michalak et al. (2019) publiziert worden. Zudem wäre es äußerst wünschenswert, dass auftretende Nebenwirkungen differenzierter dokumentiert werden (Wielgosz et al. 2019). Dafür sind dringend Studien indiziert, die mögliche Nebenwirkungen und Gefahren von achtsamkeitsbasierten Interventionen genauer erforschen.
Bevor es konkretere praktische Richtlinien und differenziertes Wissen über Nebenwirkungen und Kontraindikationen gibt, sind die jeweiligen Therapeut(inn)en der zentrale Anker (Michalak et al. 2019). Allerdings nutzen auch Psychotherapeut(inn)en achtsamkeitsbasierte Ansätze in der Therapie, ohne eine eigene Achtsamkeitspraxis zu kultivieren (Michalak et al. 2020). Während wir nur bei Schwimmlehrer(innen) mit entsprechender Expertise als Rettungsschwimmer Unterricht im Schwimmen nehmen würden, sollten wir als Therapeut(inn)en für unsere Klient(inn)en einen Rettungsschwimmer in Achtsamkeit besitzen, um die Klient(inn)en notfalls „vor dem Ertrinken zu retten“. Erfahrene Therapeut(inn)en können eher einschätzen, welche Form der Übung für die jeweilige Person geeignet ist und wann es eine Abänderung der Übungen braucht. So könnten für Klient(inn)en, die stark unter Unruhe oder auch unter ausgeprägter Antriebslosigkeit und Depressivität leiden, eher bewegungsorientierte Achtsamkeitsübungen – zumindest zu Beginn – geeignet sein. Bei Klient(inn)en mit Ängsten kann es hilfreich sein, nicht auf den Atem als Achtsamkeitsobjekt zurückzugreifen, sondern zum Beispiel die Füße als Anker zu nutzen (oder einen anderen als angenehm empfundenen Körperteil). Daneben ist wie im MBSR der Austausch mit anderen Personen über ihre Erfahrungen mit den Übungen zentral. Dies kann im Einzelsetting nur mit Therapeut(inn)en gelingen, die selbst Erfahrungen mit Achtsamkeit haben (Michalak et al. 2020). Darüber hinaus könnten Ansätze von (Selbst‑)Mitgefühl oder auch Dankbarkeit in der Therapie verstärkt miteinbezogen werden, um das ethische Rahmenkonzept der Achtsamkeit mehr zu berücksichtigen (Heidenreich et al. 2020). Dadurch könnte ggf. auch vermieden werden, dass eine Achtsamkeitspraxis zu mehr Selbstaufwertung führt.

Fazit für die Praxis

Die aufkommende kritische Betrachtung von Achtsamkeit ist notwendig und wichtig, um sich der Grenzen und Nebenwirkungen von Achtsamkeitsinterventionen bewusst zu werden und diese gezielter zu erforschen. Wir wissen auch noch zu wenig darüber, für welche Personen welche Bausteine der Achtsamkeit dienlich sind, und welche Achtsamkeitsübungen was genau bewirken. Zudem ist gerade im Einzelsetting die Wirkung von Achtsamkeit noch zu wenig untersucht. Gleichzeitig belegen die empirischen Befunde – insbesondere die Wirkung der Gruppenprogramme MBSR und MBCT – nach wie vor eindrucksvoll, dass Achtsamkeitsinterventionen in zahlreichen Lebensbereichen sowie in der Psychotherapie hilfreich und wirksam sind. Denn Achtsamkeit ermöglicht ein Innehalten und ein kurzzeitiges Aussteigen aus unserer schnelllebigen Welt. Dadurch kann ein Bewusstwerden innerer Vorgänge erreicht werden – etwas, das sowohl uns Therapeut(inn)en als auch unseren Klient(inn)en zugutekommen kann und somit ein großes Potenzial für die Therapie ermöglicht.

Förderung

Für diesen Beitrag hat keine Förderung stattgefunden.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. Schmiedeler gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadaten
Titel
Das Potenzial der Achtsamkeit – trotz Risiken und Nebenwirkungen
verfasst von
PD Dr. Sandra Schmiedeler
Publikationsdatum
02.01.2024
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Psychotherapie
Erschienen in
Die Psychotherapie / Ausgabe 2/2024
Print ISSN: 2731-7161
Elektronische ISSN: 2731-717X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00278-023-00706-1

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