Oxycodon ist 1998 als orales Opioidanalgetikum in Deutschland erneut auf den Markt gekommen, nachdem es 1990 vom Markt genommen worden war. Heute ist es das meistverordnete orale WHO-Stufe-3-Opioid, obwohl sich seine analgetische Wirkung nicht von der anderer Opioidanalgetika unterscheidet. In Deutschland wurde es 2017 öfter als Ibuprofen ärztlich verordnet.
Fragestellung
Wie erklärt sich dieser Aufstieg?
Material und Methode
Orientierende Literaturrecherche (Scoping Review), Auswertung von Pharmastatistiken und Leitlinien, Diskussion von Empfehlungen
Ergebnis
Der Aufstieg von Oxycodon ist nicht in seinen pharmakologischen oder medizinischen Eigenschaften begründet. Die Ursache für die häufige Verordnung scheinen Marketingmaßnahmen eines Pharmaunternehmens zu sein. Es wurden in großem Umfang ärztliche Informationsquellen beeinflusst oder verändert.
Schlussfolgerung
Dies gelang, weil im ärztlichen Informationsverhalten die Qualität von Informationsquellen zu wenig beachtet wird.
Hinweise
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Vorgeschichte
Oxycodon wurde 1998 in Deutschland als orales Opioidanalgetikum auf den Markt gebracht. In 25 Jahren stieg es zum meist verordneten oralen Opioid in Deutschland auf. 2017 war es das ärztlich meistverordnete orale Schmerzmittel in Deutschland. Eine Karriere, die nicht selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, dass Oxycodon 1990 wegen Missbrauchs gerade erst aus dem Handel genommen worden war. Darüber hinaus stand Oxycodon am Anfang und im Zentrum von erschütternden Ereignissen in den USA.
Am 16.12.2021 hat ein Gericht in New York die Fa. Purdue-Pharma (Stamford, CT, USA) im Besitz der Familie Sackler umfassend verantwortlich gemacht für einen historischen Anstieg der Drogentoten in den USA. Im Jahr 1990 wurden in den USA von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) 2000 Drogentote gezählt, im Jahr 2021 107.622, im Jahr 2022 109.593. Für 2021 entspricht dies 30/100.000 – zum Vergleich Deutschland 2021: 2,2/100.000. Drogen sind heute in den USA die häufigste Ursache für vorzeitigen Tod. Purdue-Pharma wurde in mehreren Gerichtsverfahren in den USA zu Schadenersatzzahlungen von 8,5 Mrd. US-Dollar verurteilt. Ein Versuch der Familie Sackler, mit einer Purdue-Insolvenz weitere Forderungen abzuwehren, ist in obigem Gerichtsverfahren abgelehnt worden. Die Familie Sackler wird mit ihrem Gesamtvermögen haftbar gemacht werden in weiteren noch anstehenden Gerichtsverfahren [1].
Die Familie Sackler hatte seit den 1970er- und 1980er-Jahren mit ihrer Firma Purdue-Pharma Oxycodon unter dem Markennamen OXYCONTIN® zum Mittelpunkt einer bis dahin nicht vorstellbar eingreifenden Marketingkampagne gemacht. Ihr wird vom Gericht vorgeworfen, Einfluss genommen zu haben auf Ärztinnen und Ärzte, den wissenschaftliche Stand der Medizin, Leitlinien, Fortbildungen, Verordnungen, Verordnungssoftware, Medizin- und Publikumsmedien, Patientenorganisationen. U. a. war auch die weitverbreitete Medical Tribune eine Erfindung und ein Instrument von Arthur Sackler, der sich die Kampagne im Wesentlichen ausdachte. Er erfand eine „Schmerzepidemie“. Schmerz wurde als Ausdruck ärztlichen Versagens umgedeutet, weil niemand Schmerz empfinden „müsse“, wenn nur die Ärztin, der Arzt ihre Arbeit richtig machen. Zahlreiche „Schmerzspezialisten“ haben mit Purdue gegen Bezahlung zusammengearbeitet. Gezielt wurde das Abhängigkeitspotenzial nicht nur verharmlost oder ganz in Abrede gestellt („Pseudoabhängigkeit“) und diese Verharmlosung dann zur Umsatzsteigerung verwendet. Ärzte und Apotheker wurden an diesen Umsätzen beteiligt.
Diese in ihrer Intensität neue Vermarktung führte zu einem beispiellosen iatrogenen Opioidmissbrauch, der immer weiter zunahm. Die hohe Zahl der Drogentoten sind der Höhepunkt einer Entwicklung, die in den 1990er-Jahren mit der großzügigen ärztlichen Verordnung von Oxycodon begann und ihre tieferen Ursachen im Niedergang der US-amerikanischen Mittelschicht hat. In dieser Mittelschicht, deren Arbeit vor allem nach China abgewandert war, hat sich ein nie gekannter Drogengebrauch von Menschen entwickelt, die zu 70 % Arbeit haben und gesellschaftlich integriert erscheinen; Arbeit auf Arbeitsplätzen, die ihnen nicht angemessen und schlecht bezahlt waren, in einer Gesellschaft, der ihr Selbstverständnis zunehmend abhanden zu kommen begann. Dazu kommt, dass in den USA keine solidarische Krankenversicherung besteht. Der verarmten Mittelschicht steht oft keine medizinische Hilfe zur Verfügung. Heute steht nicht mehr ärztlich verordnetes Oxycodon sondern billiges Heroin und aggressiv vermarktetes billiges Fentanyl im Zentrum des Missbrauchs.
Trotz dieser Vorgeschichte hat Oxycodon in Deutschland eine konstante Aufwärtsentwicklung in den Verordnungszahlen genommen. In dieser Übersicht soll die Geschichte des Oxycodons in Deutschland dargestellt werden, die systematische Veränderung seines Rufs durch Marketing, die Verordnungszahlen in Deutschland heute, die Eigenschaften der Substanz und Überlegungen zum weiteren Umgang mit der Substanz.
Geschichte
Oxycodon ist von E. Merck im Gefolge der Diamorphinsynthese (1898) als semisynthetisches Thebainderivat 1917 synthetisiert worden. Thebain ist neben Morphin ein weiteres Opioid aus der Milch des Schlafmohns. Aus Thebain wird auch Buprenorphin synthetisiert. Oxycodon wurde weltweit als EUKODAL® vermarktet. 1990 wurde EUKODAL® in Deutschland aus dem Handel genommen, weil zerstoßenes EUKODAL® nach Heroin das am häufigsten missbrauchte Opioid war [2].
1998 berichtet das Deutsche Ärzteblatt über eine „Einführungspressekonferenz“ des „neuen“ Schmerzmittels Oxycodon vertrieben als OXYGESIC® von der Fa. Mundipharma, einer 100 %igen Tochter der Purdue-Pharma. US-amerikanische Schmerzspezialisten erklären in Berlin, dass Oxycodon der neue „Standard der Schmerztherapie“ sei. Alle Probleme der Opioidtherapie seien weniger ausgeprägt, es sei besser verträglich und besser wirksam und mache praktisch keine Abhängigkeit in der Retardvariante [3]. Mit dieser Einführung steckt Mundipharma bereits den Rahmen für die geplante Vermarktung des Oxycodons ab: ein gut verträgliches Schmerzmittel für jeden Schmerz, das als der neue Schmerzmittelstandard anzusehen sei, weniger Nebenwirkungen habe und im Grunde nicht wie ein Opioid einzuschätzen sei. Bereits 1997 hat eine Gruppe deutscher Schmerzspezialisten die Herausnahme von retardierten Opioiden aus der BtM-Rezept-Pflicht gefordert, gemeinsam mit Patientenvertretern, die explizit die Herausnahme von retardiertem Oxycodon aus der BtMVV gefordert haben, obwohl 1997 (noch) gar kein Oxycodon auf dem deutschen Markt war. Dies hat das BfArM jedoch abgelehnt [4].
Das „neue“ Oxycodon
Die Einführungspressekonferenz hat die weiteren Aktivitäten des Mundipharma-Marketings vorgezeichnet. Konsequent werden wissenschaftliche und redaktionelle Artikel gefördert oder selbst erstellt, die Oxycodon neu positionieren. Besonders die Kombination mit Naloxon als TARGIN wird beworben. Es wird versucht, Naloxon als praktisches Prophylaktikum gegen Opioidobstipation zu platzieren. Damit soll die Behandlung von Schmerzen noch unkomplizierter werden ([5]; eine ausführliche Würdigung dieses von Mundipharma intensiv beworbenen Aspekts findet sich in Gläske [6] ab S. 44.).
In zahlreichen Zeitschriften erscheinen Artikel mit dem Tenor „Oxycodon/Naloxon hilft sehr gut gegen Schmerzen und ist gut verträglich“. Es werden „Studien“ präsentiert, in denen Oxycodon/Naloxon als einziges Schmerzmittel in einer medizinischen Anwendungssituation getestet wurde ohne Vergleichsanalgetikum, ohne Placebo, ohne Verblindung [7]. Die Studie unter [6] wird in weiteren Zeitschriften „berichtet“ [8, 9]. Mundipharma tritt auch selbst als Studienautor auf [10]. Es erscheinen auch Veröffentlichungen, die die gute Magen-Darm-Verträglichkeit von Oxycodon/Naloxon hervorheben [11]. Auffällig ist die Anzahl der Artikel im Fach Orthopädie [12‐14] – auch wieder von Mundipharma selbst [15]. Es entstehen auch Studien, die Oxycodon/Naloxon im Krankenhausmanagementbereich als besonders ökonomisch herausarbeiten [16], auch die Pflege wird angesprochen.
Ungewöhnlich intensive Marketingkampagne
Dieses Vorgehen dürfte allenfalls im Ausmaß ungewöhnlich sein, es entspricht ansonsten der „normalen“ Pharmawerbung. Zur „normalen“ Pharmawerbung muss man sich dazu denken, was nicht mit Zitaten belegbar ist: Werbeanzeigen, redaktionelle Artikel in „sponsored journals“ (alle kostenlos und ohne Aufforderung zugesandten Fachzeitschriften), CME-Artikel [17], Fortbildungsveranstaltungen mit „scripted reading“, Werbung in ärztlichen Verordnungssystemen, Werbegeschenke, die Arbeit von Pharmavertretenden in Praxen und Krankenhäusern, die Kooperation mit Patientenverbänden, die Herstellung von sich an Laien wendenden Webseiten inklusive Chatbeiträgen und Rezensionen, redaktionelle Artikel auf Gesundheitsseiten und Gesundheitssendungen der Publikumsmedien.
Mundipharmas Konzept vom „Standardschmerzmittel“ geht jedoch noch weiter: Oxycodon wird rhetorisch aus der Gruppe der starken Opioide herausgelöst und als „schwaches“ Opioid bezeichnet [18]. In Vergleichsuntersuchungen gegen WHO-Stufe-1- oder Stufe-2-Analgetika „erweist“ es sich in der Wirksamkeit und Verträglichkeit als überlegen [19]. Mit anderen Worten: Oxycodon/Naloxon wird als vertretbares, wenn nicht überlegenes Erstlinienanalgetikum positioniert [5, 20]. Diese Umpositionierung sollte den Unterschied machen.
Verordnungszahlen – 2017 mehr als Ibuprofen verordnet
2017 wurde mehr Oxycodon als Ibuprofen ärztlich verordnet ([21]; Abb. 1). Nach 2017 bleiben die jährlichen Verordnungen hoch, der anhaltende Anstieg ist jedoch beendet. Dazu könnte auch die in Deutschland geführte Diskussion über die Ereignisse in den USA beigetragen haben.
Abb. 1
Opioide zur Schmerztherapie in Deutschland im GKV-Bereich.
Y-Achse: Tagesdosen in Tausend, X-Achse: Jahreszahl Zuordnung der Grafen unter der Grafik (Quelle: WIdO PharMaAnalyst [21])
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Es fiel bereits bei der Literaturrecherche auf, dass verschiedene orthopädische Zeitschriften häufig auftauchten. Gläske [6] weist auf die Verteilung der Oxycodonverordnungen in einzelnen Fachgebieten hin; Hausärzte werden hier nicht ausdrücklich erwähnt (Abb. 2).
Abb. 2
Prozentualer Anteil von Oxycodon in den Verordnungen für hkk(Handelskrankenkasse)-Mitglieder 2020 nach Fachrichtungen. (Aus [6])
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In einer Stichprobe von 14 saarländischen Hausärzten ist Oxycodon das am häufigsten verordnete orale Opioid ([22]; Abb. 3).
Abb. 3
Prozentuale Häufigkeit von oralen Opioiden auf BtM-Rezepten in einer Stichprobe saarländischer Hausärzte. (Aus [22])
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Die Verordnungszahlen zeigen, dass es gelungen ist, ein bis 1998 auf dem deutschen Arzneimittelmarkt nicht vorhandenes Opioid zum heute meist verordneten oralen WHO-Stufe-3-Opioid zu machen. Ist dieser Aufstieg pharmakologisch und medizinisch gerechtfertigt?
Eigenschaften von Oxycodon
Oxycodon hat auch in der retardierten Form eine schnellere Anflutung, eine hohe Bioverfügbarkeit und eine relativ lange Halbwertszeit (Tab. 1).
Diese Eigenschaften erklären, warum Oxycodon vor seiner Marktrücknahme so häufig missbraucht wurde. Die relativ schnelle Anflutung und die höhere Bioverfügbarkeit verursacht eine starke Anfangswirkung, die noch dazu etwas länger „sättigt“ als Morphin. Eigenschaften, die die Anwendung des Oxycodons wesentlich beeinflussen und beachtet werden sollen [24].
Verschiedene Autoren haben sich mit der Frage beschäftigt, ob Oxycodon aktuell in Deutschland relevant missbraucht wird. Diese Frage wird von allen verneint [6, 25, 26]. Der Grund dafür ist allerdings weniger, dass Oxycodon heute anders wirken würde. Der Grund dafür ist vor allem billiges Heroin und in großen Mengen verfügbares Fentanyl [27]. Oxycodon ist unter den oralen WHO-Stufe-3-Opioiden dagegen die bevorzugt missbrauchte Substanz. Das hat sich seit 1990 nicht geändert.
Opioide sind nicht nebenwirkungsarm
Ein wichtiger Punkt bei der Einführungspressekonferenz 1998 war, dass Oxycodon besser verträglich sei als andere Schmerzmittel. Wie die nachfolgende Werbearbeit zeigte, war damit auch ausdrücklich die Überlegenheit gegenüber Schmerzmitteln wie Metamizol oder NSAR gemeint. Dieser Punkt war für die Verordnungskarriere von Bedeutung. Solomon et al. [28] untersuchten diese Frage in einer prospektiven Kohortenstudie: Sie fanden, dass das Risiko gastrointestinaler Blutungen bei Opioiden nicht erniedrigt war, dass das Risiko für Frakturereignisse unter Opioiden erhöht ist und das Opioidpatienten häufiger hospitalisiert werden mussten. Auch war in der Opioidgruppe das Risiko für Tod aus jedem Grund höher als in der NSAR-Gruppe. Überraschend war, dass auch das kardiovaskuläre Risiko der Opioide in dieser Studie nicht niedriger war als das kardiovaskuläre Risiko von NSAR. In der Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden [26] ist Oxycodon unter den oralen starken Opioiden dasjenige mit der höchsten Prävalenz an Krankenhauseinweisungen, Verhaltensauffälligkeiten und Intoxikationen. In einer Leitlinie der Centers for Disease Control and Prevention (CDC – US-amerikanische nationale Gesundheitsbehörde) wird nach Durchsicht der Literatur festgestellt, dass es keine Studien gibt, die die Effekte von Opioidbehandlungen über ein Jahr hinaus untersucht hätten [29]. Die Effekte von Langzeitbehandlungen mit Opioiden im Allgemeinen und Oxycodon im Besonderen sind daher unbekannt.
Ist Oxycodon ein „schwaches Opioid“? Es lässt sich keine Quelle finden, die diese Formulierung unterstützt. Oxycodon wird vom BfArM in der Fachinformation als Arzneimittel für „starke bis sehr starke Schmerzen“ eingeordnet. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) sieht das genauso und verlangt bereits 2003 [2], dass Oxycodon „strikt indikationsgerecht zu verordnen“ sei. Indikationsgerecht bedeute: zur Langzeitbehandlung starker und sehr starker chronischer Schmerzen [30]. Es wird eindeutig klargestellt, dass sich die analgetischen Eigenschaften von Oxycodon nicht von anderen starken Opioiden unterscheiden, wohl aber die pharmakologischen Eigenschaften [26]. Die AkdÄ weist auch noch einmal ausdrücklich auf das pharmakologisch begründete erhöhte Suchtpotenzial des Medikaments hin, aufgrund dessen es 1990 vom Markt genommen wurde.
Ist Oxycodon ein Erstlinienschmerzmittel? Eine Substanz, die leitliniengerecht [26] nach einer Dosisfindungsphase zur Langzeitbehandlung starker und sehr starker chronischer Schmerzen geeignet ist, kann nicht als „Erstlinienschmerzmittel“ zur Kurzzeittherapie z. B. postoperativ oder posttraumatisch angewendet werden. Oxycodon ersetzt nicht NSAR oder Metamizol. Chang [31] untersucht die Kombination Ibuprofen plus Paracetamol bzw. Paracetamol plus Codein im posttraumatischen Setting im Vergleich zu Hydromorphon und Oxycodon. Die NSAR-Kombinationen sind den Opioiden in dieser Untersuchung analgetisch nicht unterlegen.
Die Kombination mit Naloxon ist keine Verbesserung
Oxycodon wurde von Mundipharma intensiv in der Kombination mit Naloxon beworben. Der behauptete Vorteil der Verhinderung, bzw. Linderung der Opioidobstipation wird von verschiedenen Autoren in Zweifel gezogen [5, 6, 24, 26]. Kritisiert wird, dass Naloxon pauschal in einer fixen Kombination gegeben wird; egal ob eine klinische Indikation besteht oder nicht. Durch die Fixkombination kann der laxierende Effekt nicht an die klinische Situation angepasst werden. Es wird geraten, Laxanzien nach klinischer Indikation getrennt vom Opioid zu verordnen, da so auch die Wirkung besser der Patientensituation angepasst werden kann. Es bleibt unklar, warum Naloxon mit oralem Oxycodon kombiniert wird. Da Naloxon als allenfalls leicht abführendes Pharmakon nur wenigen bekannt ist, dürfte diese Kombination auch die Vorstellung gefördert haben, dass Oxycodon mit Naloxon nicht so leicht missbraucht werden könnte. Denn Naloxon ist als Opioidantidot gut bekannt. Naloxon verhindert Missbrauch jedoch nur bei intravenöser Anwendung von zermahlenen Tabletten. Geschluckt hat es keine Antidotwirkung.
Oxycodon ist teurer als Morphin, aber kostengünstiger als Hydromorphon (Tab. 2). Die Kombination mit Naloxon verändert den Preis nicht wesentlich.
Tab. 2
Preisvergleich ausgewählter oraler WHO-Stufe-3-Opioide im April 2023
Morphin ret. 10 mg 100 Tbl.
günstigster Anbieter
Oxycodon ret 5 mg 100 Tbl.
günstigster Anbieter
Oxycodon/Naloxon 5/2,5 100 Tbl
günstigster Anbieter
Oxygesic® (Mundipharma®) ret 5 mg 100 Tbl.
Hydromorphon ret 4 mg 100 Tbl.
günstigster Anbieter
28,96 €
36,08 €
35,44
46,71 €
122,11 €
Morphin ist das kostengünstigste orale WHO-Stufe-3-Opioid.
Diskussion
Oxycodon hat eine ungewöhnliche Verordnungskarriere hinter sich. Nach einer weltweiten Marktrücknahme 1990 ist es von 1998 bis heute zum meistverordneten oralen Opioid in Deutschland aufgestiegen. 2017 wurde es häufiger verordnet als Ibuprofen. Dieser Aufstieg ist nicht mit pharmakologischen oder medizinischen Eigenschaften der Substanz zu erklären. Medizinisch ist Oxycodon in seiner analgetischen Wirksamkeit nicht von anderen Opioiden verschieden. Pharmakologisch flutet es jedoch schneller an und wirkt etwas länger. Diese Eigenschaften waren ursprünglich der Grund für die Marktrücknahme, da es nach Heroin als zerstoßene Tablette das am häufigsten missbrauchte Opioid war. Diese Rolle hat heute Fentanyl übernommen.
Die Indikation von Oxycodon sind länger bestehende chronische starke bis sehr starke Schmerzen, die mit Opioiden behandelt werden können, wenn der Patient Opioide verträgt. Postoperative oder posttraumatische Kurzzeitbehandlungen sind keine medizinische Indikation für Oxycodon. Hier wirken richtig eingesetzte NSAR oder Metamizol in der Regel ausreichend.
Kein besonderer Stellenwert
Was ist der rationale, angemessene Platz von Oxycodon? Das arznei-telegramm [23] sieht in seiner Arzneimitteldatenbank „ATD“ keinen „besonderen Stellenwert“ in der Regelversorgung. Die AWMF-S3-Leitlinie Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nichttumorbedingten Schmerzen (LONTS; [26]) kann keine Empfehlung hinsichtlich der Bevorzugung eines einzelnen opioidhaltigen Analgetikums geben (Evidenzlevel 1a, starker Konsens). Auch der Arzneimittelbrief beurteilt die klinische Bedeutung von Oxycodon sehr zurückhaltend [24]. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat bereits 2003 gefordert, dass Oxycodon ausschließlich zur „Langzeittherapie“ zugelassen werden sollte [2, 30]. Es werden Morphinpräparate bevorzugt wegen ihres Preises, der gut bekannten Wirksamkeit und Nebenwirkungen und der vielen Darreichungsformen und Dosierungen, in denen Morphinpräparate zur Verfügung stehen. Diese erlauben eine individuell gut angepasste Schmerztherapie. Auch Morphinpräparate haben ein Missbrauchspotenzial, aber geringer als das schnell anflutende Oxycodon.
Es besteht ein Gegensatz, der nachdenklich machen muss: auf der einen Seite das in Deutschland meistverordnete orale WHO-Stufe-3-Opioid, auf der anderen Seite bei kritischer Betrachtung „ohne besonderen Stellenwert“. Ist der Aufstieg des Oxycodons vor allem ein Erfolg einer bisher unbekannt intensiven Marketingkampagne? Praktisch alle zur Verfügung stehenden Informationskanäle wurden in den Blick genommen. Mundipharma ist es gelungen, das Denken und Handeln in der Medizin zu verändern, obwohl Leitlinien und ärztliche Leitorganisationen wiederholt versucht haben, den Platz von Oxycodon rational zu bestimmen. Es ist einer Pharmafirma gelungen, Ärztinnen und Ärzte auf eine Art zu erreichen, die offensichtlich den Leitorganisationen nicht zur Verfügung steht.
Dass Oxycodon das meistverordnete orale Opioid ist, das ist Ausdruck eines ärztlichen Informationsverhaltens, das nicht glauben will, dass es manipuliert wird, das die Beeinflussung durch Marketingmaßnahmen unterschätzt, weil es die Qualität von Informationsquellen nicht kritisch genug wahrnimmt und hinterfragt.
Fazit für die Praxis
Oxycodon hat in 20 Jahren eine steile Karriere gemacht, die nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist: von einer Marktrücknahme 1990 zum aktuell meist verordneten oralen WHO-Stufe-3-Opioid.
Oxycodon unterscheidet sich in seiner analgetischen Wirkung nicht von anderen Opioidanalgetika, ist aber nebenwirkungsreicher und teurer als Morphin und liegt in weniger Darreichungsformen vor.
Die ungewöhnliche Karriere des Oxycodons erklärt sich daher nicht mit seinen pharmakologischen oder medizinischen Eigenschaften. Marketingmaßnahmen scheinen den Aufstieg des Oxycodons verursacht zu haben.
Die Beinflussbarkeit von Informationsquellen und die Qualität von Informationsquellen sollten mehr ärztliche Aufmerksamkeit finden.
Danksagung
Der Autor dankt Prof. Dr. Johannes Jäger und den Kolleginnen und Kollegen des Zentrums Allgemeinmedizin für die guten Arbeitsbedingungen beim Erstellen des Manuskripts.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
S. Sachtleben ist Hausarzt mit einer großen Opioidsubstitutionsambulanz. Er hat ein Interesse am rationalen Einsatz von Opioiden. Er ist Mitglied bei der DEGAM, MEZIS und im EbM-Netzwerk.
Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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