Nachdem vor über 3 Jahrzehnten die bedeutsamen Beziehungen Erwachsener erstmalig aus der Perspektive der Bindungstheorie betrachtet worden sind (Hazan und Shaver
1987), wurde eine Vielzahl von Fragebogen zur Erfassung von Bindung im Erwachsenenalter entwickelt. Während sich einige Instrumente auf spezifische Beziehungen wie die Partnerschaft beziehen (so der Fragebogen Experiences in Close Relationships [ECR-R]; Brennan et al.
1998; Fraley et al.
2000), haben andere Fragebogen zum Ziel, Bindung allgemein und unabhängig vom Beziehungskontext zu erfassen (etwa die Adult Attachment Scale [AAS]; Schmidt et al.
2004). Eine aktuelle Studie untersuchte diesbezüglich die Konvergenz verschiedener Bindungsfragebogen und fand moderate Zusammenhänge zwischen dem ECR‑R und dem AAS (Strauss et al.
2022). Dies weist darauf hin, dass globale und beziehungsspezifische Bindungsskalen sowohl überlappende als auch unterschiedliche Aspekte von Bindung erfassen. Diese Ergebnisse stützen die theoretischen Annahmen des hierarchischen Bindungsmodells von Collins und Read (
1994): Dieses beschreibt auf der obersten Ebene ein von den individuellen Beziehungserfahrungen abstrahiertes generalisiertes Bindungsmodell. Auf der zweiten Ebene finden sich Bindungsmodelle, die mit bestimmten Formen von Beziehungen wie Eltern oder Peers korrespondieren. Darunter stehen Modelle, welche die Beziehungen mit konkreten Personen repräsentieren, wobei die 3 Ebenen in Wechselwirkung miteinander stehen (Collins und Read
1994; König et al.
2007). Die Annahme der kontextabhängigen Spezifität von Bindung wurde durch zahlreiche empirische Befunde bestätigt (La Guardia et al.
2000; Caron et al.
2012; Fraley et al.
2011; Hudson et al.
2015). In einer Studierendenstichprobe fanden sich wesentliche Unterschiede zwischen Bindung zu den Eltern einerseits und der Bindung zum Partner bzw. engen Freunden andererseits. Es wurde argumentiert, dass Letztere „freiwillige“ und egalitäre Beziehungen seien und sich somit wesentlich von der Beziehung zu den Eltern unterschieden (Caron et al.
2012). Sowohl die Bindungsangst in der Beziehung zu Partner und Freunden (
β = 0,37,
p < 0,001) als auch die Qualität der Beziehung zu den Eltern (
β = −0,24,
p < 0,001) waren jeweils signifikante Prädiktoren für psychische Beschwerden bei den Studierenden (Caron et al.
2012).
Während eine unsichere Bindung ganz allgemein einen wichtigen Risikofaktor für psychische Erkrankungen darstellt (Bakermans-Kranenburg und van IJzendoorn
2009; Mikulincer und Shaver
2008) und mit einem ungünstigen Ergebnis von Psychotherapie assoziiert wird (Levy et al.
2018), ist bisher jedoch unzureichend geklärt, ob diese Befunde für globale und beziehungsspezifische Bindungsdimensionen gleichermaßen gelten. Die wenigen bisherigen Studien zu dieser Fragestellung weisen darauf hin, dass beziehungsspezifische Bindung sogar in einem engeren Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit stehen könnte als globale Bindungsmodelle. In einer Untersuchung von Strauss et al. (
2022) mit AngstpatientInnen und einer gesunden Kontrollgruppe sagte partnerschaftsbezogene Bindungsangst im ECR‑R im Vergleich mit dem AAS eher vorher, zu welcher Gruppe die jeweilige Person gehörte („odds ratio“ = 2,50). Eine weitere Untersuchung erhob globale und partnerschaftsbezogene Bindungsmuster mittels des Relationship Questionnaire, wobei Letztere das Ausmaß psychischer Beschwerden besser vorhersagten (β = 0,52 vs. β = 0,27; Cozzarelli et al.
2000). In dieser Studie wurde jedoch nur eine relativ kleine Stichprobe von Studierenden (
n = 112) untersucht, die sich alle in einer festen Partnerschaft befanden. Die AutorInnen argumentieren, dass dadurch die partnerschaftsbezogene Bindung eine größere Bedeutung für das psychische Wohlbefinden der StudienteilnehmerInnen gehabt haben könnte. Hingegen könnten globale Bindungsmodelle dann bedeutsamer werden, wenn neue Beziehungen eingegangen werden oder keine engen partnerschaftlichen Beziehungen bestehen. Eine Untersuchung von Fraley et al. (
2011) zeigte, dass beziehungsspezifische Bindungsinstrumente eher in einem Zusammenhang mit der Beziehungszufriedenheit stehen und allgemeine Bindungsfragebogen hingegen eher mit Persönlichkeitseigenschaften (gemessen über die Big Five). Dabei korrelierte Neurotizismus höher mit der Bindungsangst im Allgemeinen (
r = 0,36) als mit der Bindungsangst in den spezifischen Beziehungen (
r zwischen 0,08 und 0,24; Fraley et al.
2011). Somit ist bisher nicht abschließend geklärt, inwieweit sich globale und spezifische Bindungsdimensionen hinsichtlich ihrer Zusammenhänge mit psychischer Gesundheit unterscheiden. Insbesondere sind dazu Untersuchungen mit Stichproben aus der Allgemeinbevölkerung ausstehend. Zur Klärung dieser Fragestellung sind Instrumente notwendig, welche Bindungsdimensionen hinsichtlich verschiedener bedeutsamer Beziehungen und zusätzlich in einer allgemeinen Form mit einem einheitlichen Maß („common metric“) erfassen. Die Arbeitsgruppe um Fraley hat mit dem Experiences in Close Relationships – Relationship Structures (ECR-RS, Fraley et al.
2011) einen entsprechenden Fragebogen entwickelt, welcher unseres Wissens nach bislang jedoch nicht in deutscher Sprache vorliegt. Die amerikanische Originalversion wurde in mehrere Sprachen übersetzt (Deveci Şirin und Şen Doğan
2021; Siroňová et al.
2020; Moreira et al.
2015) und ermöglicht daher eine Vergleichbarkeit mit internationalen Studienergebnissen. Der ECR-RS erfasst Bindungsangst und Bindungsvermeidung über die spezifischen Beziehungsdomänen Mutter, Vater, PartnerIn und beste/r FreundIn hinweg. Im Jahr 2014 wurde der ECR-RS noch um eine globale Form erweitert, wobei sich die Instruktion im amerikanischen Original auf „close relationships in general“ bezieht. Die beiden Bindungsdimensionen Angst und Vermeidung sind moderat miteinander korreliert (je nach Beziehungsdomäne zwischen
r = 0,44 und
r = 0,54). Das Zweifaktorenmodell des ECR-RS wurde konfirmatorisch überprüft (Siroňová et al.
2020; Moreira et al.
2015), wobei das Modell für die Domäne Partnerschaft die beste Anpassung zeigte (Siroňová et al.
2020). Die vorliegende Studie untersucht, ob sich a) beziehungsspezifische Unterschiede in Bindungsangst und Bindungsvermeidung (Fraley et al.
2011) für eine deutschsprachige Stichprobe replizieren lassen, b) ob in Bezug auf die globalen und die beziehungsspezifischen Skalen des ECR-RS Kriteriumsvalidität dahingehend gegeben ist, dass größere Bindungsunsicherheit (sowohl Angst als auch Vermeidung) mit größeren aktuellen psychischen Beschwerden, interpersonalen Problemen und Beeinträchtigungen im Persönlichkeitsfunktionsniveau einhergeht und c) inwieweit eher globale oder beziehungsspezifische Bindungsskalen die 3 genannten klinischen Ergebnismaße vorhersagen. Die bisherige Literatur zeigt, dass spezifische Bindungsmodelle umso bedeutsamer werden, je spezifischer das jeweilige Ergebnismaß ist (Cozzarelli et al.
2000; Fraley et al.
2011). Es wurde daher angenommen, dass die Teilnehmenden insbesondere bei der Einschätzung der interpersonalen Probleme auf konkrete Beziehungsepisoden zurückgreifen, wodurch spezifische Beziehungsaspekte besonders zum Tragen kommen. Konkret soll daher die Hypothese überprüft werden, dass interpersonale Probleme stärker mit den spezifischen Bindungsdimensionen assoziiert sind als mit der globalen Bindung. Hinsichtlich der Zusammenhänge zu aktuellen psychischen Beschwerden und der Persönlichkeitsfunktion handelt es sich aufgrund der bislang uneinheitlichen Studienergebnisse um explorative Fragestellungen. Die nachfolgenden Ergebnisse sollen eine empirisch fundierte Empfehlung für die Anwendung beziehungsspezifischer Bindungsskalen in der psychotherapeutischen und psychosomatischen Diagnostik ermöglichen.